Abflug!
Eine wachsende Zahl an Menschen hat keine Freude mehr am Fliegen – ich gehöre dazu.
Umwelt-Kolumne von Gerlinde Pölsler
Die deutsche Bestsellerautorin Ulrike Herrmann („Hurra, wir dürfen zahlen”, „Das Ende des Kapitalismus”) fliegt nicht mehr. Das sei total unpraktisch, sagt sie, „mein bester Freund lebt in Washington, lädt mich immer ein, und ich kann nicht hin.” Aber: „In dem Moment, da man sich ernsthaft mit der Klimakrise befasst, kann man nicht mehr fliegen.” Auch mir geht es so. Ich sage nicht, dass ich mein Lebtag lang nie mehr ein Flugzeug betreten werde, und will auch keine „Smygflyga” verbreiten, keine Flugscham. Aber es gibt eben nichts Zweites, mit dem man in so kurzer Zeit so viel CO2 in die Atmosphäre pumpen würde wie mit einem (Langstrecken-)Flug. Damit wir die Pariser Klimaziele noch erreichen, darf jeder Mensch noch etwa 1,6 Tonnen CO2 pro Jahr verbrauchen. Allein ein Flug von Wien nach San Francisco verbraucht das Doppelte – Rückflug nicht eingerechnet. So müsste ich mir wohl immer vorstellen, wie meine Treib-hausgase noch jahrzehntelang in der Atmosphäre herumwabern und auch die schöne Landschaft, die ich gerade aufgesucht habe, mit zerstören.
Freilich, der Urlaub soll den Kindern, mittlerweile junge Teenager, ebenso gefallen wie uns, er soll leistbar sein – Fliegen ist absurderweise meist immer noch billiger als mit dem Zug zu fahren –, und die Anreise soll uns nervlich nicht in den Wahnsinn treiben. Da denken auch wir zwischendurch immer mal wieder kurz ans Fliegen. In einer befreundeten Familie, die heuer erstmals seit Jahren erwog abzuheben, hat die zwölfjährige Tochter die Entscheidungsfindung rasch beendet. Sie bekam einen Wutanfall und schrie, sie setze sicher keinen Fuß in ein Flugzeug. Die Klimakrise macht ihr Angst. In ihrem Kinderzimmer zeichnet sie Plakate, die eine heiße, verdorrende Welt zeigen, dazu kritzelt sie Slogans wie „Save the Planet”.
Auch bei uns fällt am Ende nun schon seit einigen Jahren immer wieder die Entscheidung: Nein, wir fliegen heuer nicht. Das langsame Fortbewegen beschert ja auch Dinge, die Flugreisen niemals hinkriegen. Ich erinnere mich an die erste größere Reise meines Lebens, mit acht Jahren, es ging nach England. Wir fuhren mit dem Zug bis ins französische Calais und von dort mit der Fähre nach Dover. „Im Liegewagen trafen wir eine Frau, mit der wir bald eine gute Unterhaltung hatten”, schrieb ich in meine Reisenotizen. Eine erste wichtige Zugerfahrung. Auf der Fähre die stampfenden Schiffsgeräusche, die Möwen, der Fahrtwind an Deck – so stellten wir uns innerlich auf die Insel-Ankunft ein. Wer zu ebener Erd’ oder auf dem Wasser dahinfährt, kriegt genau mit, wie sich die Landschaft nach und nach verändert, die Gebäude, die Aufschriften in den Städten und an Bahnhöfen und die Sprachen, die rund um einen gesprochen werden. Die Reisenden wachsen langsam in die neue Umgebung hinein, anstatt an Ort und Stelle ausgespuckt zu werden.
Die Interrail-Reise mit 19 hat die Liebe zum Zugfahren endgültig besiegelt. Fünf junge Frauen, fuhren wir von der Steiermark über Zürich und Genf nach Paris und Bordeaux, nach Lissabon und an die Algarve, nach Barcelona und an die Costa del Maresme. Wir schliefen am Boden des Fahrradabteils, wehrten Diebstähle ab, trafen andere Rucksackreisende, sahen nächtliche Landschaften und Lichter an uns vorbeiziehen. Per Flieger wäre diese Reise nie zu dem geworden, was sie für uns alle wurde: ein Schatz an Geschichten, die wir noch heute, 30 Jahre später, immer wieder aufwärmen.
Die Suche nach flugfreiem Reisen lenkt auch den Blick auf abseitigere Gefilde. Die Masurische Seenplatte im Norden Polens zum Beispiel (bis Warschau kommt man gut mit dem Zug, von da an braucht man fast ein (Miet-)Auto). Hunderte von Seen, vom Miniteich bis zum großen Segel-Gewässer, glitzern da zwischen altehrwürdigen Alleen. Oft hat man einen ganzen See für sich, so wenige Leute haben dieses Gebiet bisher entdeckt. Und von unserem Monat als Aushilfs-Schafhirten in den Tiroler Bergen haben wir wohl bei Weitem mehr Erinnerungen mit nach Hause gebracht, als uns das in einem All-inclusive-Resort wo auch immer gelungen wäre.
Wohin es dieses Jahr geht, ist noch offen. „Ich liebe Nachtzüge über alles”, rief unsere Tochter, als sie entdeckte, wie ich das Video „Von Wien nach Bukarest mit dem Nachtzug” anschaute. Die Kinder sind schon über Nacht nach Berlin, nach Warschau und ins Tiroler Pfunds geschaukelt. Heuer? Essen sie ihre Frühstückscroissants vielleicht in einem Liegeabteil in Transsilvanien.
Gerlinde Pölsler ist in der Obersteiermark auf einer Mini-Nebenerwerbslandwirtschaft aufgewachsen. Seit 2005 schreibt sie von Graz aus hauptsächlich für das Naturressort der Wochenzeitung Falter, außerdem ist sie dort für die Sachbücher zuständig.
Foto Regine Schöttl