Mode muss fair sein: ORIGINAL und Neonyt
Foto Neonyt/Messe Frankfurt GmbH
Die Modeindustrie nachhaltig gestalten, das ist eine der größten Herausforderungen unserer Zeit. Das ORIGINAL Magazin unterstützt deshalb die Plattform Neonyt und wird damit Teil der Frankfurt Fashion Week.
Was ist Mode? Ist es “in”, Kleidung zu tragen, die in Entwicklungsländern zusammengenäht wurde? Ist es “trendy”, dass die Produktion unserer Kleidung die Umwelt zerstört? Sie sagen nein, aber warum machen so gut wie alle mit bei diesem Trend? Die Textilindustrie ist der zweitgrößte CO2-Produzent nach der Luftfahrt, soziale Ausbeutung, Umweltverschmutzung und Profitoptimierung sind immer noch fixer Bestandteil des Modebusiness. Verlässliche oder auch günstige Alternativen zu finden, ist nicht so einfach. Das ORIGINAL Magazin widmet sich deshalb seit Jahren der Fair Fashion und stellte bereits zahlreiche Designerinnen und Designer vor, die mit ihren Produkten neue Wege gehen. Die Kooperation mit Neonyt ist nun unser erster Schritt in das aktive Modegeschehen.
“Gemeinsam die Mode verändern. Durch Kollaboration, Kommunikation und Unternehmertum. Das ist unsere Vision”, heißt es vonseiten der Veranstalter und diese Vision wollen wir unterstützen. Neonyt ist eine Business- und Kommunikationsplattform und der “globale Hub” für Mode, Nachhaltigkeit und Innovation. Im Rahmen der Frankfurt Fashion Week, die sich auf Applied Sustainability und Applied Digitisation fokussieren wird, wird Neonyt für mehrere Tage Raum für eine Vielzahl von Modedesignern und Modesdesignerinnen bieten, innovative Ideen und Produkte vorzustellen und sich mit Unternehmern, Kollegen oder auch Medienvertretern zu vernetzen. Ziel der Neonyt ist es, die Sustainable Development Goals (SDG) der United Nations in das Angebot zu integrieren und auch im Bereich Mode voranzutreiben. Das Sortiment umfasst neben Damenoberbekleidung und Menswear auch Performancewear, Schuhe, Accessoires, Schmuck, Beauty und vieles mehr.
Welchen Einfluss nachhaltige Innovationen auf die textile Wertschöpfungskette haben und wie die dahinterstehende Industrie neu gedacht werden kann, zeigt die Neonyt anhand von Showcases. Modemacherinnen und Modemacher sind eingeladen, ihre Konzepte als Microfactories, in Installationen oder anderen kreativen Formaten darzustellen. Mehr als 220 nationale und internationale Marken präsentierten sich bei der letzten physischen Ausgabe der Neonyt. Alle ausstellenden Brands werden dabei anhand strenger Nachhaltigkeitskriterien ausgewählt und modisch kuratiert.
Jacket WOLFSKINTECH LAB Shirt MIOMARTHA Pullover LANIUS Skirt HI ON LIFE Gloves BIKER-ZONE Socks SWEDISH STOCKINGS Shoes BALLUTA | Jacket TIMBERLAND Shorts HI ON LIFE Leggings THE NORTH FACE Necklace LANI LEES Earring PULVA JEWELRY Hairnet SPATZ HUTDESIGN Socks FALKE Shoes VINTAGE | Jacket THE NORTH FACE Dress HØYEM Bag ACKERMANN Headband RECTO VERSO Shoes ALINASCHUERFELD |
Die Neonyt wird im Zuge der Frankfurt Fashion Week von 06. bis 08.07.2021 stattfinden. Wir vom ORIGINAL Magazin freuen uns, die Plattform als Kooperationspartner dabei begleiten zu dürfen und bedanken uns bei allen Beteiligten! Weitere Informationen finden Sie auf neonyt.messefrankfurt.com!
Am Mistplatz
Von Martin Lorenz
Am Mistplatz sehe ich, wie Leute völlig neuwertige Sachen wegschmeißen. Im Vergleich dazu kommt mir das Hin und Her, ob mein Zeug mir oder anderen noch nützen hätte können, lächerlich vor. Nein! Wegschmeißen war die richtige Entscheidung! Ich sollte mir ein Beispiel nehmen an den Mistplatz-Kollegen! Nicht lang hadern. Einfach zum Mistplatz, die Jugend-Schi ZACK, die Computerboxen mit Wackelkontakt ZACK, die alte Matratze ZACK!
Unkompliziert und bequem. Convenient im Englischen.
Stattdessen habe ich all diese Dinge aufgehoben, lange überlegt, ob ich sie nicht doch noch verwenden kann und dann für einstellige Eurobeträge weiterverkauft oder verschenkt. Ökonomisch ist das sinnlos, zeitlich eine Belastung. Im besten Fall ein Hobby, im schlechtesten ein Zwangsverhalten.
Ich kann nicht gut wegschmeißen. Will nichts verschwenden. Ist wohl die Erziehung. Zuhause wurde der Teller leer gegessen. Den Rest gab‘s am Folgetag. Meine Mutter sammelt Joghurtbecher, Fleischtassen und die Plastikbehälter von der Feinkosttheke. “Das kann man ja noch verwenden”, sagt sie. Ich fand das immer furchtbar, habe ihr Messie-Syndrom im Vorstadium unterstellt. Heute weiß ich: Sie sieht den Wert der Dinge.
Das macht einen Wahnsinns-Aufwand für jedes Ding, das man besitzt. Dieses Zeug-Management laugt aus. Man will dann weniger, um sich diese Mühe zu sparen. Und kauft man doch mal was, so soll es besser lange halten. Paradoxerweise ist Einkaufen schwieriger, wenn man weiß, was man braucht. Oft genug verlasse ich das Geschäft unverrichteter Dinge und mäßig frustriert, während andere hinter Trauben von Einkaufssackerln verschwinden. Sie leeren Geschäfte und füllen den Mistplatz. Heute finde ich nicht meine Mutter furchtbar, sondern ein System, das von uns erwartet, laufend Dinge wegzuschmeißen, die man ja noch verwenden könnte. Ein System, das künstlich geschaffene Bedürfnisse mit obsolet geplanten Produkten befriedigen will. Idealerweise schrottig, damit laufend neuer Schrott produziert werden kann. Ein System der Wertlosigkeit.
Für meine Großeltern war das noch anders. Nach dem Krieg haben sie einen Bauernhof aufgebaut.
Sie hatten wenige, aber hochwertige Dinge, die sie wirklich brauchten. Was kaputt ging, wurde repariert. Alles war wertvoll, weil es einfach nicht viel gab. Die Ressourcen, die uns auf der Erde zur Verfügung stehen, sind endlich. Sie sind wertvoll. Zum Glück sind auch meine Bedürfnisse endlich. Zumindest die echten.
Brauche ich echt eine smarte Waschmaschine mit App-Steuerung? Brauche ich echt einen riesigen, nicht geländefähigen Geländewagen, um allein durch die Stadt zu kurven? Brauche ich, als unter 60 jähriger, echt einen elektro-motorisierten Leih-E-Scooter um von A nach B zu kommen? Diese Dinger sind nach 6 Monaten Schrott.
Ich fahre Rad. Seit 20 Jahren dasselbe. Auf meinem T-Shirt steht “Air & Style 1998”. Ich trage es zum Schlafen, denn dafür kann man es ja noch verwenden. Nachhaltigkeit ist kein hipper, neuer Trend. Wir Menschen haben lange so gelebt. Ressourcen schonen heißt, wieder etwas mehr so zu leben wie unsere Großeltern. Weniger Dinge länger haben. Reparieren statt shoppen. Ressourcen sparen. Geld sparen. Den Wert der Dinge sehen. Nicht so oft zum Mistplatz gehen.
ZUM AUTOR
Martin Lorenz ist Teil des Studios LWZ für Design & Animation, Mitbegründer von „smarter than car Verein für post-fossile Mobilität und sozial-ökologische Transformation“ sowie Stadtimker über den Dächern Wiens.
smarterthancar.com
www.lwz.studio
Andreas Fox
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Ich möchte an dieser Stelle an den letzten Artikel anschließen und hier nochmals die Pandemie thematisieren, die sich zwar global und nach ihrer eigenen Funktion ausbreitet und insofern alle gleich behandelt, aber gerade dadurch den Planeten zoniert. Das sind wirtschaftliche und Staatsgrenzen, Grenzen der Demokratie und der Wertigkeiten. Grenzen, innerhalb derer eine ärztliche Versorgung auch in der Krise aufrecht ist und wo es sie nie gegeben hat, Grenzen innerhalb derer eine ausreichende Menge Impfstoff zur Verfügung stehen wird und wo keine Impfstoffe sein werden. Schaut man sich eine Karte der globalen Verteilung der Impfdosen an, so gibt diese Karte in direkter Abhängigkeit auch Auskunft über den klimatischen Standort und die Wirtschaftsbedeutung einer Region.
Hatten wir in den letzten Jahrzehnen mancherorts daran gearbeitet, Grenzen abzubauen und unbedeutend werden zu lassen, gelingt es einem singulären Ereignis in sehr kurzer Zeit, diese und in ihrer Aura auch die zugehörigen Machtverhältnisse, die Ängste, die Anschauungen und das Militär wieder auf den Plan zu rufen. Wie lächerlich erscheint da ein Brexit mit seinen kleinkarierteren Regelungen! Zumindest das wird deutlich: wir können die Zukunft nur gemeinsam gestalten, mit gleichen Rechten und Pflichten in einer riesigen Solidargemeinschaft.
Eine Zivilisation die abends ins Bett geht und immer die gleichen Gedanken hat, dass sie nämlich den Tag mit mehr Problemen beendet als sie ihn begonnen hat, dass sie mit sich unglücklich ist und beständig den falschen Weg geht, muss an irgendeinem Morgen doch aufstehen und den beginnenden Tag grundlegend anders gestalten.
Dabei scheint mir eines besonders wichtig – und das gehört auch zum Erbe von Covid 19 – der Einzelne muss allmählich wieder in seine eigene Verantwortung überführt werden; es sollen nicht superkomplizierte Gesetzesregelungen sein, die uns leiten sondern insbesondere Information und der eigene Verstand. Dann werden die Menschen sich auch wieder beteiligen und nicht versuchen, Gesetze auszutricksen und zu unterlaufen. Aber das wäre ein sehr langer Prozess, eine neue Kultur.
Verhältnisse_11
Flüchtlinge, die derzeit ihr Leben in unglaublich unwürdigen Verhältnissen außerhalb unserer Mitte verbringen, werden von unserer Gesellschaft – repräsentiert durch unsere gewählten Regierungen – geächtet. Ihre Nähe wird wie eine totbringende Seuche gemieden. Gleichzeitig breitet sich unter uns eine tatsächlich totbringende Pandemie aus, die nach ihrer Laune Besitz ergreift von uns – ungeachtet der Nationalität, des geistigen oder des sozialen Status.
Ich bin weit davon entfernt, diesen, zunächst einmal zufällig gleichzeitigen, Prozess religiös zu motivieren. Es ist allerdings zumindest bedeutsam, dass dieser Umstand auftritt und die Menschheit in gewisser Weise im Sinne einer geistigen Evolution dezimiert. Eher drängt sich die Parallele zur Psychoanalyse auf, die auf den Einzelnen wie auf die Gesamtheit anwendbar scheint. Es gibt bekanntlich zwei Methoden der individuellen Anpassung an vorgefundene Lebensumstände: Bewusstseinserweiterung als ständige Reaktion auf aktuelle Situationen oder Festhalten an Erreichtem bis zum finalen Scheitern und erst dann (immer wieder) schmerzvoll nach einer geeigneten Lösung suchen zu müssen. Beide zielen auf Optimierung ab, beide repräsentieren das Leben, aber nur eine ist zukunftsorientiert, befriedigend und versöhnlich. Wie schon an anderer Stelle in diesem Blog angesprochen, führt uns diese Pandemie in vielen Zusammenhängen sehr sinnbildlich unseren gefährlichen Status und unsere Wertigkeiten vor Augen.
Was heißt das aber nun? Ich denke, wir sollten diese bewusst gewordenen zivilisatorischen Krebsgeschwüre tatsächlich wahrnehmen und nachhaltig entfernen, um so eine globale Befriedung und Resilienz zu ermöglichen. Das klingt sehr theoretisch, ist jedoch mittels einfacher Praktiken erreichbar; es geht um eine Neubewertung unserer ethischen Grundwerte – es geht um Menschlichkeit und Gleichberechtigung. Die simple Anwendung des kategorischen Imperativs (was ich für mich erhoffe, ermögliche ich jedem anderen) ist hierzu die Grundlage und würde automatisch die abbröckelnde Demokratie stärken. Wir müssen politisch werden und unseren Repräsentanten zeigen, welche enormen Möglichkeiten die globale Gesellschaft hätte, würde sie nicht nur von den privaten Karriereplänen Einzelner bestimmt.
Verhältnisse_10
Für eine Nachlese zur Wahl des Amerikanischen Präsidenten ist es ja noch zu früh, da – wie man weiß – ja noch alles im Gange ist. Aber vielleicht kann man gerade deshalb und an diesem Punkt einige Gedanken an die Mechanik der Gesellschaft verschwenden … und sollte das auch. Insbesondere in Europa ist man zunehmend konsterniert über das blödsinnige und anti- demokratische Gebaren eines Präsidenten, der sich wie eine Comicfigur geriert (und zwar nicht wie der Held sondern wie der affektierte machtbesessene Antagonist). Das geht auch mir so. Aber je länger diese Farce andauert, desto mehr drängt sich mir eine gewichtige Frage auf: Wieso wird das überhaupt toleriert und wieso wird es von fast der Hälfte aller Amerikaner sogar goutiert? Auch von denen, die garantiert die Leidtragenden sein werden.
Aus diesem Versuchslabor der Demokratie kann man schließlich sehr viel ableiten, was in Zukunft auch bei uns eine gewichtige Rolle spielen wird – und auch schon einmal gespielt hat. Dass mit offensichtlichen Lügen argumentiert und begründungslose Anschuldigungen platziert werden ist nur das Stilmittel. Möglich ist das – und das muss uns alle interessieren – weil mittlerweile offenbar etwa die Hälfte der Gesellschaft , und zwar alle Schichten, aus Menschen besteht, die nicht mehr still halten können und wollen, wenn im elitären politischen Diskurs sophisticated über Wirtschaft, Recht und Struktur diskutiert und befunden wird. Wenn die Gewinner dieser Lebensform über die Regeln befinden und es nicht und nicht gelingt, alle oder wenigstens die meisten ins Boot zu holen.
Weil das in den USA noch viel offensichtlicher fatal abläuft, ist offenbar dort jetzt die Zeit reif geworden, auszurasten und wenigstens auch denen das Leben zu versauen, denen es vermeintlich gut geht.
Es sind zwei Lager, die nicht aufeinander hören und nicht aufeinander reagieren; jeder will zuerst seine Schäfchen ins Trockene holen und wem das nicht gelingt, der ist eben ausm Spiel. Und die einzige Möglichkeit, gehört zu werden, ist offensichtlich Destruktivität. Trump ist dabei nur eine zufällige Figur, die Unangemessenheit und Aggressivität öffentlich gemacht hat und inakzeptable Kanäle öffnet.
Die Repräsentation der gutbürgerlichen intellektualisierten Kreise erzeugt Wut und Resignation bei denen, die nicht dazu gehören können. Diese kehren sich von den Argumentationen und Visionen des anderen Lagers ab und ziehen sich in ihre Echoräume zurück, die ihresgleichen Recht geben. Ein perfektes Desaster.
Trump hat deshalb Idolqualität, weil er macht, was er will und dabei allen so ungeniert in die Suppe spuckt. Es ist die Aufhebung der gegenwärtigen Werte, eine Umverteilung, im besten Fall eine Neuverteilung auf die man hofft; gegebenenfalls Bürgerkrieg, da man nicht so viel verlieren kann, wie die anderen.
Erst durch dieses Kapitel unrühmlicher Staatsführung (das hoffentlich gewaltfrei sein Ende finden wird) habe ich wirklich das Abstraktum verstanden, wie es tatsächlich möglich war, in sehr kurzer Zeit eine fulminante Selbstermächtigung zu erlangen, die mit perfiden Argumenten unauffällige Bürger zu gewaltbereiten und gewissenlosen Maschinen werden lässt und so einen Holocaust oder den totalen Krieg möglich machte.
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Mittlerweile ist Corona 2.0 global aktiv und hat unser aller Denken und Handeln direkt oder indirekt nachhaltig geprägt. Es gibt viele unterschiedliche Informationen und Strategien in den Medien und letztlich halten wir der Pandemie nur einen Mund- und Nasenschutz entgegen; womit wir immerhin das Gefühl haben, überhaupt etwas zu tun oder uns gar im Rahmen unserer Möglichkeiten für gewappnet halten.
Dennoch müssen wir weiterhin nahezu ohnmächtig zusehen, wie das Virus Woche für Woche unser Sein bestimmt; festlegt, in welche Richtungen wir uns (nicht) bewegen dürfen und wie sich das gesellschaftliche Leben strukturiert, bzw. ein- und ausklappt. War die sogenannte erste Welle noch mit Neugier und vitalem Interesse verbunden und ereignete sich vor dem Hintergrund einer vermeintlich zeitlich begrenzten Einschränkung, so ist die Ausgangslage der zweiten Welle psychologisch deutlich negativer. Es ist das Gefühl der Machtlosigkeit und das Bewusstsein der zeitlich nicht fassbaren, nicht eingeschränkten, Allgegenwart einer unheilvollen Präsenz. Hinzu kommt, dass erst jetzt die tatsächlichen psychologischen Folgen des Epedemiebeginns zu Tage treten. Es sind in dieser Angelegenheit also viele Probleme der Zukunft, der Gegenwart und der Vergangenheit, die sich gleichzeitig überwerfen, zu klären.
Milliarden von Menschen sind schicksalhaft, unmittelbar und tiefgreifend betroffen. Gibt es auch etwas Gutes, das am Ende daraus resultieren wird? Ich vermute, dass – außer der Selbstreflexion einzelner – die Antwort hierauf im Wesentlichen nur auf einer schöngeistigen Ebene zu finden ist. Allen ist die Sehnsucht nach Normalität, nach Freiheit und nach Selbstermächtigung gemein; also nach Verhältnissen, die wir vorher als solche kaum wahrgenommen hatten. Wenn wir sie wiedererlangen, werden wir sie vermutlich nicht angemessen reflektieren. Vielleicht gibt es auch eine neue Lust auf Begegnung jenseits digitaler Formate; Lust auf Echtes. All das können aber wir erst wissen, wenn es vorbei ist und bis dahin können wir uns daran nicht erfreuen. Es wird eine Art Wiederaufbau geben – so wie wir es nach Kriegen und Naturkatastrophen kennen – in dem es Um- und Neuverteilungen und so auch Entwicklung und neue Chancen geben wird. Das betrifft aber nur die, die weitgehend unbeschadet aus der Krise hervorgehen können. Für alle anderen, fürchte ich, gibt es wohl kaum einen adäquaten Trost.
Vielleicht, da so viele so vehement betroffen sind, wird sich die Politik doch noch umfassend sozial orientieren und erneuern (müssen). Vielleicht geht die Politik dann auch mit Flüchtlingen anders um.
Andreas FOX, Verhältnisse
Verhältnisse_8
Die Corona- Pandemie ist inzwischen unaufgeregter Alltag geworden; überall Menschen mit Mundschutz anzutreffen, ist Normalität. Leise stellt sich die Frage: Sind wir bereits am Ende der Pandemie angelangt oder mittendrin oder gar, was am wahrscheinlichsten ist, erst am Anfang? Irgendwann wird ein probater Impfstoff gefunden werden, aber dennoch ist davon auszugehen, dass Corona in der einen oder anderen Form Teil unseres Lebens bleiben wird.
Wie wird dem Rechnung getragen? Politisch sind sicherlich weitreichende Vorbereitungen für die sogenannte Zweite Welle getroffen worden, jedoch keinerlei grundlegende und nachhaltige echte Anpassungen wurden bisher in die Gesellschaft eingebracht – von einer Dritten Welle habe ich bisher niemals etwas gehört, als wären spätestens nach der Zweiten Welle alle Probleme beseitigt. Richtig wäre ein offiziell definiertes und politisch gestütztes Umdenken, das davon ausgeht, dass unser aller Leben in Zukunft jederzeit mit Corona oder etwas ähnlichem Neuen konfrontiert werden wird. Wir müssen es schaffen, dieses Minus in ein Plus zu verwandeln, andernfalls wären die Opfer sinnlos und verheerend.
Diese Strategie (Minus zu Plus) muss das politische Denken in Zukunft durchdringen und in wesentlichen gesellschaftlichen Angelegenheiten global beherrschen.
Ich glaube aber auch, dass es bereits genug private und innovative Corona-motivierte Initiativen gibt, die hier bald von sich Reden machen werden…
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Verhältnisse_7
Die Krise, in der sich Amerikas Demokratie derzeit befindet, gerät zunehmend zu einer allgemeinen Depression dieses über die Jahrhunderte erkämpften Werkzeugs der gewollten Volksherrschaft. In sublimer und offensiver Gestalt lässt sich das von den USA so eindrücklich demonstrierte Konzept der stil- und rücksichtslosen Selbstermächtigung Kraft eines repräsentativen Amtes zunehmend als ein internationaler Trend erkennen und folgt direkt den Gelüsten der Macht und der Karriere seiner Amtsträger.
Der Umgang mit der Macht war offensichtlich immer eine Frage des Stils und nicht der politischen Apparatur und verschwindet nun mit dem allmählichen Hinscheiden einer der Allgemeinheit verpflichteten politischen Kultur.
Trump ist in aller Konsequenz rein; er ist ein Mann aus dem Volk, dem er voransteht und entspricht deren Werten. Er ist konsequent inkonsequent, auf den kurzfristigen eigenen Vorteil bedacht und loyal gegenüber den Projekten der seinen. Er spiegelt die Unmündigkeit und Fehlkonstruktion der Gesamtheit von Volk und Apparat wider; veranschaulicht die derzeitige Unfähigkeit einer konstruktiv vom Volk artikulierten Macht, die ihre gesamten Bedürfnisse in ihrem Sinne verhandelt.
Bleiben wir in unserem Land mit Blick auf die Ibiza- Affäre und den Ibiza- Untersuchungsausschuss. Hier erkennen wir ganz genau diese neue antidemokratische Stimmung und die eigensinnige Struktur einer Politik, die sich zunehmend der rechtspopulistischen Methodik von Sprachverwirrung, Sachverdrehung und Ignoranz oder Borniertheit bedient , um so dem Zugriff institutioneller demokratischer Kontrolle zu entkommen.
Wir sehen nur noch mediale Inszenierung und nicht mehr selbstverständliche Redlichkeit und Fairness. Wir müssen Demokratie neu lernen und gegen seine Repräsentanten absichern!
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Verhältnisse_6
Bei den Überlegungen bezüglich der sozialen Verhältnisse unserer Gesellschaft stellt sich mir endlich auch die Frage: Wer oder was ist diese „Gesellschaft“ eigentlich? Wenn ich diesen Begriff in einem Artikel verwende, denke ich mir meistens, dass ich selber garnicht oder jedenfalls nicht in aller Konsequenz zu dieser „Gesellschaft“ gehöre oder dazu gehören möchte.
Der Mensch ist deshalb so erfolgreich, weil er in abstrakten Konstruktionen denken und sich für abstrakte Werte engagieren kann. Die „Gesellschaft“ ist so eine abstrakte Idee und bezeichnet Menschen, die sozial interagieren und sich auf eine gemeinsame Sprache, besondere Merkmale, Verhaltensregeln, Werte, Gesetze berufen: das kann eine Nation oder auch die Menschheit als Ganzes sein und sogar auch das ständig wachsende Kollektiv von „Menschen am Rande der Gesellschaft“ ist Teil davon.
Was ist das aber in Wirklichkeit für eine Idee, wenn in einem sogenannten demokratischen Rechtsstaat, unter dem Diktat eines sogenannten Präsidenten sogenannte Polizisten einen sogenannten Bürger einfach töten können, weil ihnen dessen Hautfarbe nicht gefällt?
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Offenbar haben auch diese Widersprüche Platz in der „Gesellschaft“. Ich möchte auf folgenden Punkt hinaus und möchte es konstruktiv ausdrücken: den nächsten Schritt einer positiven globalen Entwicklung können wir nur gemeinsam tun. Dazu müssen wir unabdingbar eine gleichberechtigte Gesellschaft entwickeln- mit gleichen Rechten, gleichen Chancen und gleichen Pflichten; das ist eine Welt der Konsequenz und nicht des oberflächlichen Marketings; wo Menschen nicht etikettiert werden und nicht etwas zu sein vorgeben, was sie nicht sind.
Vielleicht bekommt der furchtbare Horror von George Floyd wenigstens dadurch Sinn, dass Hass und Zwietracht erschüttert werden und ein Teil der „Gesellschaft“ geläutert daraus hervorgeht und einen Schritt in die richtige Richtung macht.
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Verhältnisse_5
Wenn ich hier über allgemeine Verhältnismäßigkeiten nachdenke, die von der Sphäre der Coronakrise berührt wurden, dann darf dabei der wichtigste Aspekt nicht unbetrachtet bleiben. Dazu muss man den Fokus ganz öffnen und das große Ganze sehen; es geht um den Planeten Erde selbst – den Körper, der ebenfalls infiziert ist und diese Pandemie austrägt.
Es empfiehlt sich in diesem erdumspannenden Konflikt, wie auch in anderen globalen Wirkungsmechanismen, eine Betrachtungsweise, die das Objekt Erde von ihrer abstrakten Bedeutungsebene befreit, die wir üblicherweise wahrnehmen, wenn wir wirtschaftliche und politische Zustände immer geografisch verortet und begrenzt verhandeln.
Dann erscheint sie als das, was sie ist: ein Planet, der als Eins, als Ganzes, und kompromisslos nur als Ganzes, seinen Weg durch den Weltraum verfolgt – als ein sehr komplexer und intelligenter Organismus.
Das ist zunächst einmal in dieser Form und ohne jegliche esoterische Komponente zu begreifen. Danach erscheinen allerdings Naturkatastrophen jeglicher Art – und dazu zählen auch Epidemien – durchaus als natürliche Strategien zur Revitalisierung einer auf den Planeten bezogenen Lebensqualität; bzw. als Teil seiner Überlebenstaktik, die Verantwortung übernimmt für das absolute Ganze.
Diese Methode, einer Autoimmunreaktion ähnlich, richtet sich also gegen die Menschheit. Aus einer universellen Perspektive ist der Mensch eine unablässig und exponentiell wachsende Spezies, die dem natürlichen Kontext entartet ist; ohne jegliches Regulativ.
Ich meine das konstruktiv und belasse diese Zusammenhänge hier unkommentiert.
Früher konnte man sagen: geht es dem Planeten gut, dann gibt es Hoffnung, dass es allen gut geht. Heute muss man zur Kenntnis nehmen: geht es dem Planeten schlecht, dann geht es allen schlecht.
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Verhältnisse_4
Covid-19 hatte Menschen aus unterschiedlichen Verhältnissen in Bezug auf ihren gesellschaftlichen Einfluss weitgehend angenähert. Die Inanspruchnahme jeglicher von außen kommender Dienste und damit eben auch die öffentliche Wahrnehmbarkeit unterschiedlichster Personen war durch die Krise im Prinzip gleich gestellt: zurückgeworfen auf sich selbst und einen kleinen Kreis Vertrauter.
Obwohl es durchaus sehr unterschiedliche Meinungen bezüglich der Art und Weise des allgemeinen Umgangs mit dem Virus gegeben hat und gibt, hat sich gezeigt, dass dieses Virus in Bezug auf Einfluss und Macht eine Art Kriegsrecht hergestellt hat, das derzeit noch andauert. Die jeweils regierende Partei – und in der Wahrnehmung nur der Parteivorstand – zog wie eine siegreiche Armee in das Land, diktierte neue Regeln und nahm sich jedes Recht. Und bekam es vom Volk auch erstaunlich leicht zugesprochen. Je nachdem, wer das auf den internationalen Bühnen jeweils war, wurde diese Situation auch als Performance und strategische Option genutzt. Jedenfalls – und vieles wurde in Anbetracht der historischen Beispiellosigkeit sehr professionell abgewickelt – war es auch eine Zeit der politischen Alleinstellung.
Europa? Europa hat gezeigt, was es derzeit ist und war als verbindliche Institution wenig spürbar, Grenzen aber schon.
Demokratie? War vor dieser Krise schon ein gefährdetes Gut und wird sich nur allmählich und vermutlich nur noch bis zu einem bestimmten Punkt erholen.
Solidarität ? Hat funktioniert.
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Verhältnisse_3
Dass Chancen innerhalb unterschiedlicher sozialer Schichten selbstverständlich unterschiedliche Formate annehmen, ist evident. Aber in diesem besonderen Fall – wenn es nämlich um die Korrektur einer Routine mit dem Ziel der Reduzierung von Konsum gehen soll – ist eindeutig der Nicht – Wohlhabende gegenüber dem Wohlhabenden im Vorteil, da das Gefälle vom bestehenden zum angestrebten Zustand deutlich flacher ausfällt und daher einfacher zu bewältigen sein wird.Dieser Vorteil ist unbedingt erwähnenswert, da es
1.) der einzige Vorteil ist und
2.) ein Vorteil mit enormem Potenzial ist; sogar geeignet, Lebensqualität zu erzeugen und Gesundheit zu verbessern. Das könnte immerhin ein Anreiz sein.
Wohlstand (übrigens ein Status und ein Wort, das nach dieser Betrachtung eigentlich neu zu denken ist) ist ursächlich verknüpft mit Verantwortung. Auch wenn diese nicht immer bewusst ist oder selten adäquat wahrgenommen wird. Ich wage hier die Formulierung der folgenden Formel: Die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft – oder sagen wir lieber gleich: gegenüber dem Planeten – wächst tatsächlich mit dem Grad der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel in einem nahezu linearen Verhältnis. Ich denke, es ist gut, diesen Zusammenhang einmal festzuhalten.
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Verhältnisse_2
Wenn ich es genau bedenke, erscheint es mir logisch und hilfreich, im Allgemeinen mehr in Sinnbildern zu denken, da sie die tatsächlichen Verhältnisse demonstrativ offen legen und tiefere Einsichten erschließen. Man sagt, dass sich die Qualität der verbliebenen Sinne verbessert, wenn einer ausfällt. Diesem Gedanken folgend, kann man eine ähnliche Balance für das generelle Tun und Denken ableiten: Durch die Umstände gezwungen, nicht zu konsumieren und jegliche Mobilität zu minimieren, ergab sich die Chance, nicht mehr konsumieren zu müssen und nicht länger einem Diktat der Mobilität zu folgen. Sich in seiner Welt neu einzurichten, neu einrichten zu können. Unterm Strich ist es auch die Chance, eine neue Freiheit wahrzunehmen, wo vorher möglicherweise ein Zwang war. Veränderung: ein Angebot, das als konstruktiver Aspekt jeder Krise innewohnt und jedem Neuanfang voransteht. Man möchte jetzt jeden Einzelnen anstupsen und sagen „das ist deine Chance“.
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Verhältnisse_1
„Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgendetwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt“. Daniel Defoe
An dieses Zitat, das Albert Camus seinem allegorischen Roman „die Pest“ voranstellt, musste ich unweigerlich immer wieder im Zusammenhang mit Erkenntnissen aus der Covid 19-Krise denken. Wie in einem Röntgenbild zeigen sich unbewusste Zustände und malen ein ungekanntes Bild unserer Gesellschaft. Verhältnisse und Abhängigkeiten, die sonst – hundertfach überlagert – unsichtbar und vollkommen banal erscheinen, dringen auf einmal Schicht für Schicht an die Oberfläche. Und es zeigt sich, dass wohlhabende moderne und soziale Staaten ohne die Zuarbeit gerade der scheinbar unbedeutenden, wenig geachteten und entsprechend auch schlecht bezahlten Dienste zumeist ausländischer Arbeitskräfte, ausgehöhlt und hilflos sind. Die Beispiele „Pflege“ und „Ernte“ sind deshalb Paradebeispiele, weil sie auch sinnbildlich so wunderbar funktionieren.
https://www.xing.com/profile/Andreas_Fox4/cv
Sarah Kleiner
Es ist Zeit.
Es ist Wahlkampf und im Jahr 2020 hat die politische Parteienwerbung einen vor einigen Jahrzehnten vielleicht undenkbaren Tiefpunkt erreicht. Rassistische Fotomontagen und öffentliche Kommentare, die Ausländerhass, Neid und Missgunst fördern, sinnentleerte Wahlsprüche wie “Die Stimme der Vernunft” (FPÖ), “Sicherheit für Wien” (ÖVP), “Wer schaut aufeinander wenn nicht Wien?” (Grüne). Die Sozialdemokraten haben mit klassischen Motiven Stellung bezogen, „Arbeit schaffen“ steht da auf den Plakaten der SPÖ in roten Lettern neben einem dreckverschmierten Bodybuilder, und „Sei dabei!“ Einen Zwinker-Smiley hat man sich gerade noch verkniffen.
Abgesehen von dem teils nicht mehr existenten Wahrheitsgehalt der fett gedruckten Werbesprüche fragt man sich doch auch regelmäßig, für wie dumm die Bevölkerung eigentlich schon gehalten wird. Sind wir denn nur noch in der Lage, kurze, plakative Botschaften sinnerfassend wahrzunehmen? Glauben die Parteien, ihre Werbe- und PR-Strategen, uns mit ganzen Sätzen und ausformulierten, politischen Forderungen zu überfordern? Wieso finden Begriffe wie Finanztransaktionssteuer, Neoliberalismus, Ernährungssouveränität oder ökologischer Fußabdruck nicht Einzug in die Sprache der Wahlplakate?
Nicht wenige haben sich angesichts der aktuellen Kampagnen auch gefragt, wie es in einer demokratischen Republik rechtmäßig sein kann, dass parteipolitische Werbung völlig offen und unverblümt Ressentiments gegen Minderheiten schürt. “Die Wahlplakate der FPÖ sind nicht akzeptabel, verhetzend und rassistisch. Es ist unglaublich, dass so etwas im Jahre 2020 möglich ist“, schreibt eine Person in einer Beschwerde an den österreichischen Werberat im Bezug auf die FPÖ Kampagne, in der beispielsweise suggeriert wird, Menschen mit Migrationshintergrund würden vom AMS Schubkarren voll Geld ausgehändigt. „Meines Erachtens handelt es sich hier um rassistische Werbung“, schreibt eine andere Person. In seinen knappen Antworten weist der Werberat die BeschwerdeführerInnen lediglich darauf hin, dass nur kommerzielle, nicht aber partei- oder wahlpolitische Werbung in seinen Kompetenzbereich fallen würde, und stellt fest: “Das Beschwerdeverfahren ist hiermit abgeschlossen.” Der Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen hat wegen eines FPÖ-Sujets bereits die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, Verdacht der Verhetzung.
Good Cop, Bad Cop
Angesichts der erlassenen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus hat sich die FPÖ sogar dazu erdreistet, als Menschenrechtspartei aufzutreten und die einstigen Freunde der Volkspartei als kalte Machtmenschen darzustellen, die uns der Freiheit berauben wollen. Heuchelei auf professioneller Ebene, doch nicht nur bei der Gemeinderatswahl in Wien werden sich viele, die die Schutzmaßnahmen zur Einschränkung von Covid 19 misstrauisch beäugen, bei der FPÖ aufgehoben fühlen, und die überzeugten UnterstützerInnen der Maßnahmen beim schwarzen Pendant. In einer breiten Koalition ließen sich dann all die Dinge, die jetzt so groß und unpräzise hinausposaunt werden, in eine unchristliche Politik der Unfreiheit umsetzen.
Am 11.10. wird die Wiener Bevölkerung mit möglichst vielen selbst mitgebrachten Kulis ihr Kreuzerl setzen. Sie wird sich wie immer gut überlegen, wem oder was sie ihre Stimme schenkt. Danach werden wir endlich wissen, ob es in den kommenden Jahren für Wien mehr Sicherheit, mehr links, mehr grün, mehr Bier oder mehr THC gibt. Na dann!
Foto Ursula Röck
Sarah Kleiner arbeitet als Journalistin in Wien, gesammelte Texte finden sich auf: https://diekleiner.wordpress.com/
Daniela Egger
Mir fehlt mal wieder die Großzügigkeit und Vernunft in der österreichischen Handhabung von Herausforderungen.
„Niemand wird zurückgelassen“ und „Koste es, was es wolle“ – so lauteten die großspurigen Versprechungen der Regierung zu Beginn des Shutdown. Aus dem „Team Österreich“ wurde ganz schnell der übliche alte Zopf:
Über 400.000 EPUs und Künstler*innen warten noch immer auf die versprochenen 6.000 Euro, die so „unbürokratisch“ zur Verfügung stehen sollten. Nicht alle haben ausreichend Ersparnisse, um über mehr als zwei Monate ihre Mieten und Fixkosten weiter zu bedienen. Für viele geht der Einkommensausfall bis weit in den Herbst hinein. Und jetzt kommt das Kleingedruckte: Zusagen in Höhe von maximal 500 Euro und viel zu viele Absagen. Nichts.
Es droht eine explodierende Zahl an Mindestsicherungsbezieher*innen, wenn diese Regierung ihre eigenen Versprechungen nicht ernst nimmt. Vielleicht wird diese dann am Ende sogar selbst zurückgelassen.
Wie viel eleganter wäre ein Grundeinkommen, wie es sogar Oberösterreich für Künstler*innen möglich macht? Die Kleinkrämerei verrät nur die grausliche Grundhaltung der Regierung den Büger*innen gegenüber – jeder ist zunächst mal verdächtig, sich unrechtmäßig bereichern zu wollen.
Wie erbärmlich ist ein solches Menschenbild und wie weit entfernt von der Realität.
www.daniela-egger.at
Foto Gerhard Klocker
Susanne Wolf
Der Spalt, der sich seit Jahren durch unsere Gesellschaft zieht, ist noch tiefer geworden, seit ein Virus unser aller Leben auf den Kopf gestellt hat. Manche haben die Nase voll von den Einschränkungen, andere fürchten eine Ansteckung, neue Gräben werden ausgehoben. Wir dürfen dabei nicht vergessen: Uns alle vereint die Ungewissheit, wie es nun weitergeht. Die Corona-Krise wird wohl noch weite Kreise ziehen, doch Krise bedeutet immer auch die Chance auf einen Neubeginn. Tatsache ist, dass es dieses Virus gebraucht hat, um uns zum Stillstand zu zwingen und aufzuzeigen, was schief läuft in dieser Welt: Amazon-Chef Jeff Bezos wird dank gestiegener Umsätze während der Ausgangssperren demnächst der erste Dollar-Billionär sein. Amazon steht für die Ausbeutung seiner Mitarbeiter und für Steuerhinterziehung. Gleichzeitig drohen in den ärmsten Ländern der Erde Hungerkrisen, verursacht durch Versorgungsengpässe. Die Vereinten Nationen warnen davor, dass sich die Zahl der unterernährten Menschen wegen der Corona-Pandemie und ihrer wirtschaftlichen Folgen weltweit fast verdoppeln könnte.Wenn der Präsident der Wirtschaftskammer uns also auffordert, mehr zu konsumieren, wenn unsere Regierung mit eine Fluglinie um 760 Millionen Euro Hilfsgelder verhandelt, können wir uns fragen: Ist es wirklich das, was wir wollen und was uns weiterbringt?Nun haben wir tatsächlich die Möglichkeit, unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten. Wir können uns für einen Systemwechsel in allen relevanten Bereichen einsetzen: Umwelt und Klima, Wirtschaft, Bildung, Gesundheit. Jede/r Einzelne ist gefragt, einen Beitrag für eine Zukunft, die auch für unsere Kinder noch lebenswert ist, zu leisten. Wir stehen nun an einem Wendepunkt in der Geschichte: Wir entscheiden mit, wohin die Gesellschaft sich entwickelt. Wollen wir weiterhin ein System, das Menschen und Ressourcen ausbeutet oder eines, das die Verbundenheit von Mensch und Natur in den Mittelpunkt stellt? Wollen wir eine Welt, in der die Reichen auf Kosten der Armen leben oder eine, in der das Wohl jedes Einzelnen im Vordergrund steht?Beginnen wir damit, uns FÜR die Dinge einzusetzen, die uns wichtig sind, statt ständig daGEGEN zu sein. Statt einander zu bekämpfen und die eigene Wahrheit (die immer subjektiv ist) zu verteidigen, können wir uns zusammentun und uns gemeinsam für einen Wandel einsetzen. Denn das Wissen darüber, dass wir nicht weitermachen können wie bisher, vereint viele von uns – wir dürfen bloß nicht darauf warten, dass andere den Anfang machen. Und schon gar nicht darauf, dass die Politik über unsere Köpfe hinweg entscheidet. Denn wir sind mündige Bürger und keine Marionetten von Politik und Wirtschaft.
https://susanne-wolf.com/
Klimakrise, Umweltzerstörung, Artensterben: Zahlreiche Studien belegen, dass wir nicht mehr viel Zeit haben, das Ruder herumzureißen. Während die Wirtschaft weiterhin auf ungebremstes Wachstum setzt und die Politik sich in Stillstand übt, stehen weltweit immer mehr Menschen auf, um zu protestieren und sich für den dringend notwendigen Wandel einzusetzen. Nachhaltiger Konsum und Lebensstil waren der Anfang, nun liegt es an uns, einen Schritt weiter zu gehen – gerade jetzt. Was jede/r Einzelne beitragen kann und wie wir die Politik zum Handeln bringen, zeigt dieses Buch.
Zukunft wird mit Mut gemacht
Ideen für nachhaltige Veränderung
von Susanne Wolf
146 Seiten, ISBN: 978-3-99013-088-9
Verlag: Konsument/VKI
Preis: € 19,90, erhältlich im Fachhandel oder unter
www.konsument.at/zukunft-mut
Kurt Bereuter – Was verdammt kommt da?
Am Abend des 10. März dieses Jahres hätte ich eine politische Moderation auf der Agenda gehabt und als am Vormittag der erste politische Vertreter wegen des Virus absagte, ging der Veranstalter noch von „Feigheit vor dem Feind“ aus um drei Stunden später die Diskussion bis in unbestimmte Zeit zu verschieben. Von da an wurde es ruhig, sehr ruhig, fast totenstill – auch auf der Einnahmenseite des Bankkontos. Auf der anderen Seite gab es plötzlich nichts mehr das eilte. Für zwei Wochen, dachte ich, gar nicht schlecht. Es sind aber schon zwei Monate seit damals ins Land gezogen und beruflich war das eine Vollbremsung mit bleiernem Fuss am Pedal. Okay, es geht jetzt langsam wieder los, aber wie es wird, ist kaum vorhersehbar. Aber nachdem wir das Hindernis bei der Vollbremsung nicht einmal knapp vor uns liegend gesehen haben, wäre der Blick in den Rückspiegel schon angebracht gewesen, wer oder was kommt denn da von hinten auf uns zu? Und vielleicht wäre es klüger gewesen einfach mal zu verlangsamen, so mit Stotterbremse, wie wenn man bei Schneefahrbahn ins Rutschen kommt und trotzdem lenkfähig bleiben will. Aber jetzt hängen wir mal ziemlich fest. Aber zugegeben, privat habe ich mich eigentlich nie stark eingeschränkt, was jetzt nicht mit Mut zu tun hat, sondern eher mit Leichtigkeit, die ich mir in schwerer Zeit erhalten habe. Und gerade gestern dachte ich an all das, was ich in dieser gekrönten Schlafeszeit alles tun hätte können und doch nicht tat. Okay, einfach so Besuche machen, wäre keine gute Idee gewesen und zum Aufräumen bin ich zu faul oder schon zu aufgeräumt. Aber politisch bin ich immer noch kritisch und hätte gerne einen „Fahrer“ der die Stotterbremse beherrscht und weiß wohin er will. Aber mir kommt schon vor er genießt es mich warten zu lassen – und dabei bin ich ein ungeduldiger Mensch. Aber eines weiß der Fahrer nicht, dass ich nämlich verdammt gut zu Fuss bin und wenn das noch lange so weitergeht, mache ich mich zu Fuss auf und der Fahrer kann sich auf der Bremse den Fuss verkrampfen, während ich zielbewusst und leichten Schrittes die Abkürzung nehme. Freut mich, wenn man sich trifft.
Hans Platzgumer – Lockdown Logbus
Lockdown Logbuch Woche#7:
Ich erinnere mich, wie zu Beginn von der Notwendigkeit „verlässlicher Informationen“ und Transparenz die Rede war. Dieses Bemühen war in einer Informationsgesellschaft zum Scheitern verurteilt, in der jeder und jede augenblicklich Mitwissen und Mitspracherecht verlangt, das Sujet jedoch keine verlässlichen Daten hergibt. Aus der Not heraus wurde im Handumdrehen ein allgemeines Expertentum erschaffen, Menschen mit oder ohne Ausbildung, Erfahrung, Kenntnis kamen zu Wort, verkündeten Vermutungen als Tatsachen und lösten die Grenze zwischen Wissen und Glauben auf. Es braucht heute keine Rechtspopulisten oder hinterhältige Geheimdienste, um Fake News zu streuen oder Unsagbares zu sagen, wir erledigen es selber und richten damit Schaden an.
Durch unser unübersichtliches Rasen entsteht aber nicht nur virtueller Müll, Beeinflussung und Konfusion, sondern auch eine neue Freiheit. Wenn kaum mehr etwas zählt, zählen auch Fehler kaum. Wenn andere sich schon zu weit hinauswagen und offensichtlich ihre Grenzen überschreiten, so darf ich es auch. Die Hemmschwelle sinkt, die Demokratisierung steigt, es können Dinge geschehen, die sich vorher niemand hätte vorstellen können – im negativen wie positiven Sinn. Ein neuer Mut, eine neue Selbstermächtigung tritt hervor. Das ist gleichwohl beängstigend wie befreiend. Vielleicht entsteht in dieser Berührung des Unmöglichen auch Neugier, Wissensdurst? Zumindest ist unsere Gesellschaft eine vielstimmigere geworden. Nicht länger ist entschieden, wer recht hat und wer nicht. Je mehr Experten dazu geholt werden, desto mehr Unwissen wird offen gelegt, Pluralismus entsteht.
Hätte die Coronakrise unser Land nur wenige Monate früher getroffen, hätte keine gewählte, sondern eine reine Expertenregierung damit umgehen müssen. Wählerumfragen hätten keine Rolle gespielt. Es wäre interessant gewesen zu sehen, wie von Experten beratene Expertenminister unter Kanzlerin Bierlein das Land durch diese Situation navigiert hätten. Hätte sie gewagt, weniger autoritär aufzutreten und mehr Nichtwissen zuzugeben? Nichtwissen ist keine Schande, solange es nicht als sein Gegenteil verkauft wird.
Während all diesem Aufruhr schleicht sich das Virus, das dafür verantwortlich war, durch die Hintertür hinaus, versteckt sich dort, lauert auf seine nächste Chance und hinterlässt uns ein Trümmerfeld. Noch sind wir machtlos gegen es. Wenigstens aber brachte es nicht nur Zerstörung mit sich. Es öffnete ein mögliches Lernfenster für die Menschheit, riss es weit auf. Unverbesserliche Weltverbesserer wie ich setzten jede Menge Hoffnungen in dieses Momentum. Wir wünschten uns, dass die sich selbst in Überfluss erstickende und aus von sich selbst entfremdeten Individuen bestehende Konsumgesellschaft zur Besinnung kommen könnte. Wir könnten mit all dem destruktiven Unfug aufhören, den wir uns schleichend angewöhnt haben. Vor anderthalb Monaten betitelte ich dieses Logbuch „Die Chance“. Heute endet es. Das Virus verfolgt nichts als das Ziel seines Überlebens. Wir Menschen, seine Wirte, sind zwar noch nicht imstande, es auszulöschen, wenigstens aber, es mit Sinn zu füllen. Wenn wir das tun, ist nicht alles umsonst. Die Pandemie ist wie unser Dasein ganz allgemein ein sinnfernes Geschehen, ein vergängliches Ereignis. Es nimmt irgendwann Fahrt auf, entwickelt eine Eigendynamik, beeinflusst verschiedene Geschehnisse und vergeht wieder. Fragen werden aufgeworfen und bleiben unbeantwortet. Uns bleibt nichts anderes übrig als der Versuch des Interpretierens. Fangen wir also damit an. Schütteln wir die Irrationalität ab, die so viele von uns ergriffen hat. Entledigen wir uns der Angst, die uns lähmt und am Denken hindert. Angst macht unfrei. In der Coronakrise wird sie gezielt eingesetzt. Erst wenn wir sie überwunden haben, können wir weiterkommen und die Dinge hinterfragen. Und wenn wir dann schon dabei sind, dann überdenken wir am besten gleich möglichst gleich alles. Wenn nicht jetzt, dann nie.
Ganzer Text auf: www.platzgumer.net/Logbuch
(Aus dem Lockdown Logbuch „Die Chance“, Sperrzonenleben,
Woche #6:)
Die Welt, die mich umgibt, ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Nicht länger sind wir locked down, nur locked in. Innerhalb einer abgezäunten Welt ist Österreich unsere kleine Spielwiese geworden, und zumindest hier fährt, scheint’s, alles wieder los, das fahren darf und fahren kann. Wir tragen den Lärm und die Abgase zurück in die Welt, Sprit ist billig wie nie, jeder, der eingesperrt war, strömt hinaus. Jeder – außer denen, die resigniert haben, und von denen wir auch in Statistiken nichts lesen – tut, was er irgendwie tun kann, weil er das Nichtstun nicht mehr will.
Auf dem Platz unter meinem Fenster stehen sich Menschen mit ein, zwei, drei, vier Metern Abstand gegenüber und rufen sich Small Talk zu. Manche vermuten wohl, dass sich Coronaviren auch über Mobiltelefone übertragen, denn sie sitzen auf einem Mauervorsprung, haben das Handy auf Lautsprecher und maximale Lautstärke gestellt und halten es mit gestrecktem Arm von sich. Zum Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung wird ein halber Meter extra social distancing herausgeschunden. Nur wenn sich die Leute ihre wieder und wieder verwendeten Einwegschutzmasken überstülpen, werden sie wortkarg. An der Wursttheke findet kein Pläuschchen mehr statt, dafür im Freien das Sich-Überbrüllen.
Da wir weder wissen, was verboten oder erlaubt ist, noch, was wir eigentlich tun sollen, ja was denn überhaupt geschehen ist, geschehen wird, geschehen soll, rennen wir planlos herum. Die Entschleunigung der letzten Wochen wird zur unbeholfenen Beschleunigung, die Untätigkeit zur Wiederbetätigung. Genau jetzt wäre Steuerung vonnöten, damit unsere Überfluss- und Wegwerfgesellschaft nicht sofort in alte Muster zurückkippt und unreflektiert dort weitermacht, wo sie Mitte März unterbrochen wurde. Fünf Wochen Stillstand hätten mehr sein können als einfach Bewusstlosigkeit. Doch was ich in Woche 6 beobachte, mutet nicht wie ein neues Bewusstsein an, eher wie der Beginn einer unkoordinierten Aufholjagd. Das gesamte Logbuch: www.platzgumer.net/Logbuch