Alles nur geklaut

Der Mensch hat sich bei zahlreichen technischen Erfindungen von der Natur inspirieren lassen. Dass die Blütezeit der Bionik aber noch bevorsteht, wird bei einem Besuch der Ausstellung BioInspiration im Technischen Museum Wien klar. Von Sarah Kleiner

„Der menschliche Schöpfergeist kann verschiedene Erfindungen machen, (…) doch nie wird ihm eine gelingen, die schöner, einfacher oder sparsamer wäre als die der Natur, denn in ihren Erfindungen fehlt nichts und nichts ist zu viel.“

Diese Aussage stammt von Leonardo da Vinci, der ja neben seinen vielen Erfindungen auch für seinen unbändigen Willen, den Menschen fliegen zu lassen, in die Geschichte einging. Da Vinci verbrachte Jahre mit der Beobachtung von Vögeln und sammelte seine Erkenntnisse 1505 im Werk „Codice sul volo degli uccelli“ („Kodex über den Vogelflug“). Die darauf basierenden Flugmaschinen und Segelflieger, die er konstruierte, scheiterten jedoch. Nichtsdestotrotz kann man Leonardo da Vinci aus heutiger Sicht getrost als einen der ersten bekannten „Bioniker“ bezeichnen.

Ob Klettverschluss, Salzstreuer, Stacheldraht oder Stahlbeton: Zahlreiche menschliche Erfindungen sind inspiriert von einer fast vier Milliarden Jahren währenden Erfolgsgeschichte: der Evolution. Im Begriff Bionik wird das Vorgehen zusammengefasst, dass Menschen die Natur untersuchen und sich ihre Mechanismen technologisch zu Nutze machen.

Für bionische Entwicklungen braucht es in dem Sinn zwei Stufen. Einerseits die Beobachtung, die Untersuchung von Konstruktionen und Prozessen in der Natur, andererseits die Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse in technologische Gerätschaften und Systeme. Die heutige Definition beinhaltet, dass es in der Bionik nicht um die Kopie der Natur geht, sondern sozusagen um das Sprechen ihrer Sprache. Einen Überblick darüber, wo die Menschheit überall der Natur nachgeeifert hat, bietet das Technische Museum mit der Wanderausstellung „BioInspiration“.

Architektur
Dokumentierte und technologisch umgesetzte bionische Ansätze finden sich vermehrt etwa seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Einer der Bereiche, der schon damals stark naturbezogene Einflüsse aufzeigte, ist die Architektur. So entwarf der englische Architekt Joseph Paxton zum Beispiel für die Weltausstellung 1851 den Crystal Palace. Als Inspiration und Vorbild diente ihm dafür das Tragesystem der Riesenseerose Victoria amazonica, das der Pflanze den geringsten Materialeinsatz und ein größtmögliches Maß an Stabilität gewährt.

Der spanische Architekt Antoni Gaudí wiederum achtete gezielt auf die bioklimatische Gestaltung seiner Konstruktionen. Er empfand Elemente seiner Gebäude geometrischen Formen der Natur nach, zum Beispiel in Form von muschelähnlichen Schalen oder spiralförmigen Gängen und Stützen. Er verwendete naturnahe Materialien, wie Ziegelsteine oder Keramik. Gaudí prophezeite, dass „der Architekt der Zukunft sich auf die Nachahmung der Natur stützen wird, weil sie die rationellste, dauerhafteste und wirtschaftlichste aller Methoden ist“.

Zu den größten Baumeistern in dem Sinn zählen die in sozialen Gemeinschaften lebenden, staatenbildenden Bienen sowie Ameisen und Termiten. Letztere bauen die Termitenhügel aus ihrem eigenen Speichel, den sie mit Erde vermischen. Termitenhügel haben ein ausgeklügeltes Belüftungssystem, das auf natürlicher Luftzirkulation basiert, wodurch die Temperatur der Kolonie stabil aufrechterhalten werden kann. In Harare im afrikanischen Staat Simbabwe hat sich der Architekt Mick Pearce von den Klimaexperten inspirieren lassen und ein Gebäude entwickelt, dessen Innenräume durchwegs kühl bleiben, ohne dass mit einer Klimaanlage nachgeholfen werden muss.

Großes Potenzial für Nachhaltigkeit
Besonders hinsichtlich Energieeffizienz und einem sparsamen Ressourceneinsatz ist die Natur eine unübertroffene Lehrmeisterin, was die Bionik damit zu einem verheißungsvollen Wegbereiter in eine nachhaltigere Welt macht. Moderne Gestaltungstechniken wie 3D-Drucker, Computertechnik und Künstliche Intelligenz, eine immer breitere Palette an Materialien und technologischen Instrumenten ermöglichen es im 21. Jahrhundert erst, das Wissen um Funktionsweisen der Natur möglichst sinnvoll einzusetzen. Kein Wunder, dass die Bionik seit den 1950er Jahren immer mehr als Forschungsrichtung anerkannt wird, ihre Blütezeit steht wahrscheinlich noch bevor. Denn nicht nur die Architektur, auch die Medizin, Bautechnik, Kleidungs- und Automobilindustrie – die unterschiedlichsten Branchen und Bereiche erkennen heute ihr Potenzial.

Nehmen wir den medizinischen Bereich. Haifischhaut hat antibakterielle Eigenschaften. Die Geometrie der Schuppen, die mit kleinen Rillen – den Dentikeln – versehen sind, bewirkt, dass sich keine Bakterien auf der Haut von Haien festsetzen. In der Medizintechnik wurde daran angelehnt ein Klebefilm mit mikroskopisch kleinen Rippen entwickelt, die eine bleibend antibakterielle Oberfläche erzeugen. Das macht den Einsatz von Desinfektionsmitteln und Chemikalien in Arealen, die steril bleiben müssen, überflüssig.

Die Firma EEL Energy könnte mit ihrem dem Aal nachempfundenen System die Energiegewinnung revolutionieren. Die Evolution hat die Fortbewegung von Wirbeltieren unter Wasser so bewerkstelligt, dass sie in wellenförmigen Bewegungen vorankommen. Eine französische Forschergruppe, die mitunter durch das europäische H2020-Programm finanziert wird, hat davon inspiriert eine Membran gebaut, die die Bewegung in Meeresströmungen – also kinetische Energie – in elektrische Energie umwandelt. EEL funktioniert dabei schon bei Strömungen von nur einem Meter pro Sekunde.
Und hinsichtlich Verpackungen kann man der Natur wohl auch nichts vormachen. So gibt es bereits Unternehmen, die Verpackungen aus dem Myzel, also den Fäden des vegetativen Teils von Pilzen im Boden, herstellen. Es wird mit Holzspänen gemischt, kann sich durch sein schnelles Wachstum direkt um Gegenstände herum bilden und ist natürlich zur Gänze biologisch abbaubar.

Es mag der Weltenbürger der hochentwickelten Industriestaaten des 21. Jahrhunderts ja glauben, von der Natur isoliert leben zu können. Doch ihre Muster und Prinzipien sind bereits in zahlreichen Alltagsgegenständen um uns herum inkarniert. Der Mensch wird sich ihr auf der Suche nach einer umweltfreundlichen Lebensweise in Zukunft noch stärker annähern, ihre Perfektion in seinen Erfindungen zu erreichen, wird ihm vermutlich nie gelingen. Aber er schafft auf dem Weg dorthin Denkmäler, für die genialste Inspirationsquelle, die er kennt – immerhin.

Tipp der Redaktion
BioInspiration – Die Natur als Vorbild
Technisches Museum Wien
technischesmuseum.at


Teilen auf:
Facebook Twitter