Andreas Fox

Verhältnisse_12

Ich möchte an dieser Stelle an den letzten Artikel anschließen und hier nochmals die Pandemie thematisieren, die sich zwar global und nach ihrer eigenen Funktion ausbreitet und insofern alle gleich behandelt, aber gerade dadurch den Planeten zoniert. Das sind wirtschaftliche und Staatsgrenzen, Grenzen der Demokratie und der Wertigkeiten. Grenzen, innerhalb derer eine ärztliche Versorgung auch in der Krise aufrecht ist und wo es sie nie gegeben hat, Grenzen innerhalb derer eine ausreichende Menge Impfstoff zur Verfügung stehen wird und wo keine Impfstoffe sein werden. Schaut man sich eine Karte der globalen Verteilung  der Impfdosen an, so gibt diese Karte in direkter Abhängigkeit  auch Auskunft über den klimatischen Standort und die Wirtschaftsbedeutung einer Region.

Hatten wir in den letzten Jahrzehnen mancherorts daran gearbeitet, Grenzen abzubauen und unbedeutend werden zu lassen, gelingt es einem singulären Ereignis in sehr kurzer Zeit, diese und in ihrer Aura auch die  zugehörigen Machtverhältnisse, die Ängste, die Anschauungen und das Militär wieder auf den Plan zu rufen. Wie lächerlich erscheint da ein Brexit mit seinen kleinkarierteren Regelungen!  Zumindest das wird deutlich: wir können die Zukunft nur gemeinsam gestalten, mit gleichen Rechten und Pflichten in einer riesigen Solidargemeinschaft.

Eine Zivilisation die abends ins Bett geht und immer die gleichen Gedanken hat, dass sie nämlich den Tag mit mehr Problemen beendet als sie ihn begonnen hat, dass sie mit sich unglücklich ist und beständig den falschen Weg geht, muss an irgendeinem Morgen doch aufstehen und den beginnenden Tag  grundlegend anders gestalten.

Dabei scheint mir eines besonders wichtig – und das gehört auch zum Erbe von Covid 19 –  der Einzelne muss allmählich wieder in seine eigene Verantwortung überführt werden; es sollen nicht superkomplizierte Gesetzesregelungen sein, die uns leiten sondern insbesondere Information und der eigene Verstand. Dann werden die Menschen sich auch wieder beteiligen und nicht  versuchen, Gesetze auszutricksen und zu unterlaufen. Aber das wäre ein sehr langer Prozess, eine neue Kultur.

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Flüchtlinge, die derzeit ihr Leben in unglaublich unwürdigen Verhältnissen außerhalb unserer Mitte verbringen, werden von unserer Gesellschaft – repräsentiert durch unsere gewählten Regierungen – geächtet. Ihre Nähe wird wie eine totbringende Seuche gemieden. Gleichzeitig breitet sich unter uns eine tatsächlich totbringende Pandemie aus, die nach ihrer Laune Besitz ergreift von uns – ungeachtet der Nationalität, des geistigen oder des sozialen Status.

Ich bin weit davon entfernt, diesen, zunächst einmal zufällig gleichzeitigen, Prozess religiös zu motivieren. Es ist allerdings zumindest bedeutsam, dass dieser Umstand auftritt und die Menschheit in gewisser Weise im Sinne einer geistigen Evolution dezimiert. Eher drängt sich die Parallele zur Psychoanalyse auf, die auf den Einzelnen wie auf die Gesamtheit anwendbar scheint. Es gibt bekanntlich zwei Methoden der individuellen Anpassung an vorgefundene Lebensumstände: Bewusstseinserweiterung als ständige Reaktion auf aktuelle Situationen oder Festhalten an Erreichtem bis zum finalen Scheitern und erst dann (immer wieder) schmerzvoll nach einer geeigneten Lösung suchen zu müssen. Beide zielen auf Optimierung ab, beide  repräsentieren das Leben, aber nur eine ist zukunftsorientiert, befriedigend und versöhnlich. Wie schon an anderer Stelle in diesem Blog angesprochen, führt uns diese Pandemie in vielen Zusammenhängen sehr sinnbildlich unseren gefährlichen Status und unsere Wertigkeiten vor Augen.

Was heißt das aber nun? Ich denke, wir sollten diese bewusst gewordenen zivilisatorischen Krebsgeschwüre tatsächlich wahrnehmen und nachhaltig entfernen, um so eine globale Befriedung und Resilienz zu ermöglichen. Das klingt sehr theoretisch, ist jedoch mittels einfacher Praktiken erreichbar; es geht um eine Neubewertung unserer ethischen Grundwerte – es geht um Menschlichkeit  und Gleichberechtigung. Die simple Anwendung des kategorischen Imperativs (was ich für mich erhoffe, ermögliche ich jedem anderen) ist hierzu die Grundlage und würde automatisch die abbröckelnde Demokratie stärken. Wir müssen politisch werden und unseren Repräsentanten zeigen, welche enormen Möglichkeiten die globale Gesellschaft hätte, würde sie nicht nur von den privaten Karriereplänen Einzelner bestimmt.

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Für eine Nachlese zur Wahl des Amerikanischen Präsidenten ist es ja noch zu früh, da – wie man weiß – ja noch alles im Gange ist. Aber vielleicht kann man gerade deshalb und an diesem Punkt einige Gedanken an die Mechanik der Gesellschaft verschwenden … und sollte das auch. Insbesondere in Europa ist man zunehmend konsterniert über das blödsinnige und anti- demokratische Gebaren eines Präsidenten, der sich wie eine Comicfigur geriert (und zwar nicht wie der Held sondern wie der affektierte machtbesessene Antagonist). Das geht auch mir so. Aber je länger diese Farce andauert, desto mehr drängt sich mir eine gewichtige Frage auf: Wieso wird das überhaupt  toleriert und wieso wird es von fast der Hälfte aller Amerikaner sogar goutiert? Auch von denen, die garantiert die Leidtragenden sein werden.

Aus diesem Versuchslabor der Demokratie kann man schließlich sehr viel ableiten, was in Zukunft auch bei uns eine gewichtige Rolle spielen wird – und auch schon einmal gespielt hat. Dass mit offensichtlichen Lügen argumentiert und begründungslose Anschuldigungen platziert werden ist nur das Stilmittel. Möglich ist das – und das muss uns alle interessieren – weil mittlerweile offenbar etwa die Hälfte der Gesellschaft , und zwar alle Schichten, aus Menschen besteht, die nicht mehr still halten können und wollen, wenn im elitären politischen Diskurs sophisticated über Wirtschaft, Recht und Struktur diskutiert und befunden wird. Wenn die Gewinner dieser Lebensform über die Regeln befinden und es nicht und nicht gelingt, alle oder wenigstens die meisten ins Boot zu holen.

Weil das in den USA noch viel offensichtlicher fatal abläuft, ist offenbar dort jetzt die Zeit reif geworden, auszurasten und wenigstens auch denen das Leben zu versauen, denen es vermeintlich gut geht.

Es sind zwei Lager, die nicht aufeinander hören und nicht aufeinander reagieren; jeder will zuerst seine Schäfchen ins Trockene holen und wem das nicht gelingt, der ist eben ausm Spiel. Und die einzige Möglichkeit, gehört zu werden, ist offensichtlich Destruktivität. Trump ist dabei nur eine zufällige Figur, die Unangemessenheit und Aggressivität öffentlich gemacht hat und inakzeptable Kanäle öffnet.

Die Repräsentation der gutbürgerlichen intellektualisierten Kreise erzeugt Wut und Resignation bei denen, die nicht dazu gehören können. Diese kehren sich von den Argumentationen und Visionen des anderen Lagers ab und ziehen sich in ihre Echoräume zurück, die ihresgleichen Recht geben. Ein perfektes Desaster.

Trump hat deshalb Idolqualität, weil er macht, was er will und dabei allen so ungeniert in die Suppe spuckt. Es ist die Aufhebung der gegenwärtigen Werte, eine Umverteilung, im besten Fall eine Neuverteilung auf die man hofft; gegebenenfalls Bürgerkrieg, da man nicht  so viel verlieren kann, wie die anderen.

Erst durch dieses Kapitel unrühmlicher  Staatsführung (das hoffentlich gewaltfrei sein Ende finden wird) habe ich wirklich das Abstraktum verstanden, wie es tatsächlich möglich war, in sehr kurzer Zeit eine fulminante Selbstermächtigung zu erlangen, die mit perfiden Argumenten unauffällige Bürger zu gewaltbereiten und gewissenlosen Maschinen werden lässt und so einen Holocaust oder den totalen Krieg möglich machte.

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Mittlerweile ist Corona 2.0 global aktiv und hat unser aller Denken und Handeln direkt oder indirekt nachhaltig geprägt. Es gibt viele unterschiedliche Informationen und Strategien in den Medien und letztlich halten wir der Pandemie nur einen Mund- und Nasenschutz entgegen; womit wir immerhin das Gefühl haben, überhaupt etwas zu tun oder uns gar im Rahmen unserer Möglichkeiten für gewappnet halten.

Dennoch müssen wir weiterhin nahezu ohnmächtig zusehen, wie das Virus Woche für Woche unser Sein bestimmt; festlegt, in welche Richtungen wir uns (nicht) bewegen dürfen und wie sich das gesellschaftliche Leben strukturiert, bzw. ein- und ausklappt. War die sogenannte erste Welle noch mit Neugier und vitalem Interesse verbunden und ereignete sich vor dem Hintergrund einer vermeintlich zeitlich begrenzten Einschränkung, so ist die Ausgangslage der zweiten Welle psychologisch deutlich negativer. Es ist das Gefühl der  Machtlosigkeit und das Bewusstsein der zeitlich nicht fassbaren, nicht eingeschränkten, Allgegenwart einer unheilvollen Präsenz. Hinzu kommt, dass erst jetzt die tatsächlichen psychologischen Folgen des Epedemiebeginns zu Tage treten. Es sind in dieser Angelegenheit also viele Probleme der Zukunft, der Gegenwart und der Vergangenheit, die sich gleichzeitig überwerfen, zu klären.

Milliarden von Menschen sind schicksalhaft, unmittelbar und tiefgreifend betroffen. Gibt es auch etwas Gutes, das am Ende daraus resultieren wird? Ich vermute, dass – außer der Selbstreflexion einzelner – die Antwort hierauf im Wesentlichen nur auf einer schöngeistigen Ebene zu finden ist. Allen ist die Sehnsucht nach Normalität, nach Freiheit und nach Selbstermächtigung gemein; also nach Verhältnissen, die wir vorher als solche kaum wahrgenommen hatten. Wenn wir sie wiedererlangen, werden wir sie vermutlich nicht angemessen reflektieren. Vielleicht gibt es auch eine neue Lust auf Begegnung jenseits digitaler Formate; Lust auf Echtes. All das können aber wir erst wissen, wenn es vorbei ist und bis dahin können wir uns daran nicht erfreuen. Es wird eine Art Wiederaufbau geben – so wie wir es nach Kriegen und Naturkatastrophen kennen – in dem es Um- und Neuverteilungen und so auch Entwicklung und neue Chancen geben wird. Das betrifft aber nur die, die weitgehend unbeschadet aus der Krise hervorgehen können. Für alle anderen, fürchte ich, gibt es wohl kaum einen adäquaten Trost.

Vielleicht, da so viele so vehement betroffen sind, wird sich die Politik doch noch umfassend sozial orientieren und erneuern (müssen). Vielleicht geht die Politik dann auch mit Flüchtlingen anders um.

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