Architektur mit Zukunft

Ökologisch, solidarisch, unverkäuflich
Von Elke Rauth

Bikes and Rails wurde 2014 von einer fahrradaffinen Gruppe junger Leute gegründet, die in einem eigenen Wohnprojekt eine Fahrradwerkstatt mit Café betreiben wollten. Gemeinsam mit dem Architekturbüro Reinberg, einem Pionier für ökologische Bauweise, der gemeinnützigen Familienwohnbau GmbH und dem Prozessbegleiter wohn:bund consult stürzte sich die Baugruppe in den Konzept-Wettbewerb für ein von der Stadt Wien gefördertes Grundstück hinter dem Hauptbahnhof – und gewann.

Von Beginn an war die Baugruppe durch die inhaltliche Ausrichtung als Hub für klimafreundliche Mobilität im neuen Stadtteil Sonnwendviertel-Ost und das bauliche Konzept eines Passivhauses in Holzriegel-Hybrid-Bauweise ökologisch orientiert. Durchaus eine Herausforderung, schließlich plante die Gruppe leistbare Mietwohnungen zu den Bedingungen des geförderten Wohnbaus zu errichten, die eine Kostenobergrenze einschließlich Grundstückskosten von rund € 2000.-/m2 vorsehen. Nach rund 5 Jahren
gemeinsamer Entwicklungs- und Bauzeit steht fest: Das Ziel wurde erreicht. Bikes and Rails ist im Juni 2020 bezogen worden und bietet derzeit 31 Erwachsenen und 12 Kindern Wohnraum in einer von gelebter Nachbarschaft und alltäglicher Solidarität geprägten Atmosphäre.

Wirtschaftlich und sozial nachhaltig mit dem habiTAT-Modell

In der langen Phase der Projektrealisierung weitete sich der ökologische Nachhaltigkeitsbegriff durch das Anwachsen der Baugruppe und die intensive Beschäftigung mit Fragen des Bauens, Wohnens und Zusammenlebens immer stärker auch auf soziale und wirtschaftliche Aspekte aus. Entlang der Idee, dass Wohnen ein Menschenrecht und keine Ware ist, sollte Bikes and Rails für alle Zeiten gegen Spekulation geschützt werden. Dazu schloss sich die Gruppe dem solidarischen Netzwerk des noch jungen habiTAT Mietshäuser-Syndikats an, das durch eine spezifische Rechtskonstruktion eine Wächterfunktion gegen einen Weiterverkauf  der beteiligten Hausprojekte einnimmt. Das schützt langfristig vor Begehrlichkeiten der Inwertsetzung und garantiert gleichzeitig die Autonomie der selbstverwalteten Projekte. In Österreich sind nach diesem Modell seit der Gründung 2015 fünf Hausprojekte entstanden und weitere in Planung, in Deutschland sind es bereits über 150 Hausprojekte seit den frühen 1990er Jahren.  

Ganz dem solidarischen Gedanken verpflichtet, wird im habiTAT  auch die Beschaffung der Eigenmittel nicht als individuelle, sondern als kollektive Aufgabe gesehen, die durch interne wie externe UnterstützerInnen bewältigt wird. Die gesetzliche Basis dafür bildet das Alternativfinanzierungsgesetz. Bikes and Rails hatte im Frühsommer 2018 eine Finanzierungs-Kampagne mit dem Slogan „Borg uns dein Geld!“ gestartet, an der sich alle Baugruppen-Mitglieder mit Infoständen, Vorträgen, Workshops und der Vorstellung des Modells im eigenen Umfeld beteiligt haben. Das Angebot an private KreditgeberInnen lautet – wie bei allen habiTAT-Projekten – folgendermaßen: Angenommen werden Direktkredite zwischen mindestens € 500 und maximal € 50.000 pro Person. Der Zinssatz wird von den DirektkreditgeberInnen zwischen 0-2 Prozent selbst gewählt. Es gibt keine fixe Laufzeit, die Verträge werden unbefristet abgeschlossen und bei Kündigung nach spätestens sechs Monaten zurückbezahlt. Über € 1,5 Mio. an privaten Direktkrediten mit einem durchschnittlichen Zinssatz von knapp unter einem Prozent wurden dem Projekt auf diese Weise von Menschen mit Interesse an gesellschaftlichem Wandel und Ersparnissen zur Verfügung gestellt. Die Finanzierung war damit gesichert.

Solidarische Möglichkeitsräume durch kollektive Finanzierung

Dieses solidarische Direktkredit-Modell hat mehrere Vorteile. Es reduziert finanzielle Hürden und ermöglicht auch Menschen ohne individuelle Eigenmittel Selbstbestimmung in Wohnungsfragen. Zudem wird die langfristige Gestaltung von niederen Mieten leichter möglich, da die Rückzahlung von Direktkrediten (vorerst) nicht unbedingt über die Miete finanziert werden muss. Auslaufende Direktkredite können auch durch Darlehen von neuen privaten DirektkreditgeberInnen ausgetauscht werden, was speziell am Beginn der Hausprojekte für Spielraum sorgt. Das Geld fließt durch die Häuser durch und ermöglicht sinnvolle Projekte, während die Häuser für die DirektkreditgeberInnen als Sparbüchse auf Zeit fungieren.

Auf diese Weise entstehen viele Möglichkeitsräume für die Erprobung von nachhaltigen Lebens- und Wirtschaftsmodellen: Bikes and Rails besitzt eine gemeinsam genutzte Werkstatt, eine Gästewohnung, einen Proberaum, einen gemeinsamen Dachgarten, es gibt Essens-, Kleider- und Büchertauschbörsen, und demnächst einen hauseigenen Lastenrad-Pool. Nachbarschaftshilfe ist der Normalzustand, Wissen, Waren und Zeit werden selbstverständlich geteilt.

In den Gewerberäumen im Erdgeschoss des Hauses hat sich die „Lenkerbande“ mit einer Fahrrad-Werkstatt eingerichtet, deren Spezialisierung in der Revitalisierung gebrauchter Räder liegt, die nach erfolgter Rundum-Erneuerung kostengünstig erworben werden können, statt als wertvolles Wegwerfprodukt auf dem Müll zu landen. Nur durch eine Glaswand von der Werkstatt getrennt entsteht auf der zweiten Gewerbefläche des Hauses ein Nachbarschafts-Cafe, das ein Ort für Austausch und Kommunikation werden möchte, zum Ideen-Spinnen, um die Nachbarschaft im Neubauviertel gemeinsam zu gestalten. Die sozio ökonomische und ökologische Ausrichtung der beiden Gewerbe wird durch eine Miete von € 4/m2 unterstützt, die von der Hausgemeinschaft querfinanziert wird, um gesellschaftlich sinnvolles Wirtschaften zu ermöglichen.  

Bikes and Rails hat sich auf den Weg gemacht, um ausgehend vom Bedarf an Wohnraum nachhaltige und klimagerechte Lebensweisen umfassend zu erkunden. Denn die Klimakrise fordert uns auf, Gesellschaft neu zu denken, unsere Werte zu hinterfragen und neue Formen des Arbeitens und Zusammenlebens zu erproben. Wir werden diese bislang größte Bedrohung in der Geschichte der Menschheit nur durch ein Mosaik unendlich vieler Teilmaßnahmen eindämmen können, die allesamt zu einem radikalen sozialen, ökologischen und ökonomischen Wandel führen werden. Bikes and Rails will eines dieser vielen Mosaiksteinchen sein und gute Wege in eine andere Welt aufzeigen und gestalten. Sein ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltiges Konzept wurde bereits 2019 mit dem NaWo-Award ausgezeichnet. Jetzt startet Bikes and Rails mit dem Einzug in Phase 2 des solidarischen Hausprojekts – die Reise hat erst begonnen.

Elke Rauth
ist Obfrau von dérive – Verein für Stadtforschung, Leiterin von urbanize! Int. Festival für urbane Erkundungen und mit dem Hausprojekt Bikes and Rails Teil des habiTAT Mietshäuser-Syndikats. Sie interessiert sich für Stadt als gesellschaftspolitischer Ort und für die Organisation des postkapitalistischen Übergangs in Theorie und Praxis.

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