„At the intersection of utopia and pragmatism we create contemporary architecture” (Diébédo Francis Kéré)
Foto: Sarbalé Ke – The House of Celebration, war eine temporäre Installation mit zwölf Pavillons, die für das Kunstprogramm des „Coachella Valley Music and Arts Festival – 2019“ in Indio, California (USA) geschaffen wurde. Foto Iwan Baan
Von Robert Fabach
Eines späten Abends hatte im Fernbus von Ulm nach Paris ein junger Mann neben mir Platz gefunden. Schulter an Schulter fuhr man so durch die Nacht und begann in jener eigentümlichen Balance aus höflich neugieriger Distanz und körperlicher Nähe irgendwann Geschichten auszutauschen.
So erfuhr ich in flüsterlautem Gespräch, dass der Mann in München Maschinenbau studierte, dass gerade Ferien anstünden und er deshalb auf dem Weg zu seiner Verlobten, zu seinen Eltern und in seine Heimat war. Nur Paris flog Linie nach Ougadougou in Burkina Faso, jenem westafrikanischen Binnenland, das sich 1960 aus französischer Kolonialherrschaft gelöst hatte und dessen Geschichte, so muss ich gestehen, mir nicht vertraut war: Ougadougou, so hieß die Hauptstadt.
Vielleicht hätte ich etwa 35 Jahre früher Francis Kéré treffen können, als er auf dem Weg nach Berlin war, um seine Tischlerlehre zu beenden, oder vor 27 Jahren, als er im Alter von 30 Jahren sein Architekturstudium begann.
Etwa fünf Jahre später, noch vor dem Ende dieses Studiums, begann sich seine Biografie von gewöhnlichen Maßstäben abzulösen. Kéré hatte den Entwurf, die Finanzierung und den Bau einer Schule in seinem Heimatdorf Gando umgesetzt und erhielt dafür 2004 den äußerst renommierten Aga Khan Award, der weltweit für besondere architektonische und kulturell bewahrende Leistungen in vorwiegend muslimischen Ländern verliehen wird. 20 Jahre später, genauer am 15. März 2022, wurde ihm der Pritzker Architekturpreis der Hyatt Foundation zugesprochen, der gemeinhin als „Nobelpreis“ der Architektur erklärt wird.
Wohlweislich hatte das Büro Kéré einen freundlichen PR-Beauftragten dazwischengeschaltet, um den so ausgelösten Ansturm an weltweiten Anfragen mit Anstand bewältigen zu können. Solche Auszeichnungen sind große Ehre, bauen aber auch ungeheure Erwartungshaltungen auf und mediale Aufmerksamkeit, die es zu bedienen und idealerweise zu nutzen gilt. Auf Anfrage wurde diese internationale Anerkennung zurückhaltend als Ansporn für zukünftige Arbeiten beschrieben, um nicht in Selbstgefälligkeit zu versinken, wenn man eigentlich noch sehr viele und bedeutsame Anliegen verfolgt und die eigene Weiterentwicklung anstrebt.
Die verfolgt Francis Kéré seit jeher mit Umsicht. Er und sein Team entwickeln und planen in Berlin und persönlich pendelt er etwa zweimonatlich nach Burkina Faso, um dort Projekte aufzugleisen, sich mit Partnern und Handwerkern vor Ort auszutauschen, Baustellen zu besuchen, mit Kunden, Nutzern, ganz allgemein Kontakt mit den Menschen dort zu halten. Neben dem Architekturbüro wurde eine Kéré Foundation aufgebaut, die Gelder akquiriert, verwaltet und Rechenschaft ablegt.
So entstehen meist wundersame Bauten, die oft sehr simpel wirken, mit einfachsten baulichen Strukturen, die sich sehr präzise mit den Bedürfnissen und Anforderungen vor Ort auseinandersetzen. Dabei werden Lösungstypologien geschaffen, die exotisch wirken mögen, tatsächlich aber höchst funktionelle Lowtech-Lösungen bedeuten: Die aus Stampflehm errichteten Wände, die abgesetzten und fliegenden Dächer, die breit ausladenden Sockel, die vor seltenen, aber heftigen Regenfällen bewahren. Dazu gehört auch die demonstrative Entflechtung von Konstruktionen und technischer Ausstattung. Die fliegenden Blechdächer auf feingliedrigen Stahlkonstruktionen sind nicht funktionalistischer Dekor, sondern die selbstkritische Antwort auf minimalistisches Smart-Tech, das hinter Glasoberflächen praktisch unzugänglich und unreparierbar ist.
Begeisterte Ornamentik, handgemachte Oberflächen und der umsichtige Einsatz von regional bewährten Baukörpertypologien tragen bei zu einer hohen Identifikation mit den Bewohnern.
Zahlreiche Projekte im westafrikanischen Raum mit klassischer Projektstruktur sind in Bearbeitung oder in Bau. Der Nachbarstaat Benin hat Kéré mit der Planung seines neuen Parlaments beauftragt. Das deutsche Goethe Institut in Senegal hat sich bewusst für Francis Kéré als Planer entschieden. Oftmals in kolonialen Villen oder Stadthäusern untergebracht, wählte man hier einen Neubau, der regionale Ressourcen und Funktionalitäten verdeutlicht. Der Einsatz von Freiformen oder eine bewusste Kleingliedrigkeit der Baukörper schmälern nicht die Stringenz der architektonischen Umsetzung und Materialisierung, mit denen die Projekte durchaus in einem internationalen Architekturdiskurs verortet sind. Das Ricola Kräuterzentrum von Herzog & de Meuron, der islamische Friedhof von Bernardo Bader oder das Weingut Gantenbein in Fläsch (SG) von Beath & Deplazes treten hier in Dialog.
Kéré hat in Berlin studiert und arbeitet von dort aus. Dennoch bezieht er sich auf Klima, Menschen und Kultur Westafrikas. Die Suche nach einer menschlichen Form und einem Maßstab, nach der sozialen Kraft und formalen Integration von ornamentalen Gestaltungsebenen wird durch Kéré plötzlich aus einer anderen Richtung verhandelt.
Ist Kéré ein deutscher Architekt, der in Westafrika baut oder ein Burkiner, der in Deutschland ausgebildet in zwei Kontinenten baut? Kéré ist auch in Deutschland und Europa aktiv. Ähnlich wie bei der deutschen Architektin Anna Heringer, die in Bangladesch baut, oder auch beim Stampflehmspezialisten Martin Rauch betreibt diese neue interregionale Architektur den Austausch in alle Richtungen.
Francis Kéré beschreibt dies als „einen doppelten Schwerpunkt“, der auf Gestaltung und auf sozialem Engagement liegt und ein Tätigkeitsfeld, das die Bereiche Bau, Design und Wissensaustausch umfasst.
Kolonialismusdiskurs
Der populäre, europäische Blick geht dabei schnell ins Leere, unterstellt, paternalisiert, verklärt. Wir wissen heute, dass das Narrativ der „Hilfe“ und „Unterstützung“ ein fadenscheinig gewordener Schleier über der globalen politischen Verantwortung für einen noch immer anhaltenden und wieder verstärkten Kolonialismus und die Globalisierung bedeutet. Olaf Bernau hat gerade in seinem neuesten Buch über Westafrika wieder betont, wie sehr der globale Wettbewerb den afrikanischen Kontinent durch Austeritätspolitik der Weltbank und durch strategische Übernahmen schonungslos in die Rolle eines Rohstofflieferanten und Sondermülldepot gedrängt hat. Die globale Migrationsproblematik und der Klimawandel – gerade in die westafrikanischen Länder hinein hat sich die Wüste um rund 150 Kilometer vorgeschoben.
Die Lehrtätigkeit ist für Francis Kéré von Bedeutung, nicht nur in der Vermittlung, sondern vor allem um im akademischen Diskurs die Bedeutung und Komplexität der Thematiken zu positionieren. 2013 wurde er an die Accademia di architettura di Mendrisio, Schweiz, berufen. Zuvor lehrte er an der University of Wisconsin-Milwaukee, USA. Seit 2011 ist er zudem Gastprofessor an der Harvard Graduate School of Design. Im Oktober 2017 wurde Kéré auf die Professur für Architectural Design und Participation an die TU München berufen.
Wir stehen heute gemeinsam weltweit und auf Augenhöhe mit der asiatischen und afrikanischen Welt vor brennenden Fragen der globalen Entwicklung. Es geht um die Zukunft der Städte um den Umgang mit Ressourcen und um Resilienz, es geht um Strategien und vor allem Maßnahmen für die Zukunft. Eine gemeinsame Zukunft. Francis Kéré reiht sich ein in ein Netzwerk von globalen Akteuren, die genau wissen um die Wichtigkeit konkreter Schritte, um die Kraft des Handanlegens und des Glücks für alle Menschen.