Auf der Grand-Farm
Wie sorgt man für mehr Biodiversität am Feld? Und wie passt man die Landwirtschaft an den Klimawandel an? Alfred Grand zeigt es im Kleinen.
Von Laura Anninger
Wenn er so auf dem Feld steht, weiße Haare, ein T-Shirt über gebräunter Haut, die Kappe in die Stirn gezogen, dann sieht Alfred Grand aus wie ein Bauer aus den Pixi-Kinderbüchern. Wenn wir allerdings genauer hinsehen, fällt uns ein kleines, aber wichtiges Detail auf der Stirnseite seiner beigen Kappe auf: eine weiße Pflanze in einem braunen Kreis. Sie ist das Logo des Rodale Institute, einer US-amerikanischen NGO, die Pionierarbeit in der biologischen Landwirtschaft leistet. Denn Alfred Grand ist nicht nur Landwirt, sondern ein Pionier einer umweltgerechteren Landwirtschaft in Österreich.
Auf seiner 90 Hektar großen Anlage werden Synergien hergestellt: zwischen Gemüseanbau und Gesellschaft, Landwirtschaft und Forschung, Ackerbau und Forstwirtschaft. In der kleinen Gemeinde Absdorf, eine halbe Autostunde von Wien entfernt, werden nicht nur Bio-Lebensmittel produziert. Alfred Grand betreibt hier den ersten Forschungs- und Demonstrationsbauernhof Österreichs.
Hier werden Innovationen erprobt und deren Auswirkungen wissenschaftlich begleitet. Schwerpunkte sind Bodengesundheit, Agroforst und Marktgärtnerei. Institutionen wie die Universität für Bodenkultur (BOKU), das Bundesamt für Wasserwirtschaft, das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) oder auch Bio Austria nehmen Bodenproben, messen Windgeschwindigkeiten oder monitoren die Biodiversität auf den
Absdorfer Feldern. Zudem ist Alfred Grand Mitglied eines europaweiten Netzwerks zum Bodenschutz und berät die EU-Kommission zum Thema Bodengesundheit. Im Rahmen des „Global Lighthouse Farming Network“ der niederländischen Universität Wageningen können Studierende auf seinem Betrieb Erfahrungen sammeln und forschen. Alfred Grand ist einer von zwölf Betrieben weltweit, die ausgewählt wurden, weil sie besonders zukunftsgerichtet wirtschaften.
Denn am Ende will man in Absdorf nichts weniger als Lösungen für die größten Probleme der Landwirtschaft zu finden: Wie passt man sie an Klimafolgen wie Dürre und Starkregen an? Und wie erhält man die Biodiversität auf den Feldern?
Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die Perspektive wechseln. Stellen wir uns also vor, wir starten eine imaginäre Drohne, heben ab und nehmen das nördliche Tullnerfeld in den Blick. Im Süden sehen wir die Donau, die sich ummantelt von ihren Auen durch die Landschaft schlängelt, im Norden die Erhöhung des Wagram. Auf der Ebene hat sich fruchtbare Schwarzerde angesammelt, die für die landwirtschaftliche Nutzung besonders gut geeignet ist. Das sieht man der Gegend an. Wie geschwungene Fliesen reiht sich Feld an Feld.
Ein Teil von Alfred Grands Betrieb wirkt in dieser großflächigen Landschaft wie ein Mosaik. Was von oben aussieht wie Mosaiksteinchen, sind Gemüsefelder, auf denen Radicchio, Chinakohl, Karotten und Rucola wachsen. Dazwischen stehen Folientunnel, ein Mistplatz, eine Komposttoilette und der weiße Container, in dem Alfred Grand gerade Kaffee in den Filter der Espressokanne löffelt. Zusammen ergeben sie die Marktgärtnerei. Das Prinzip dieses Anbausystems ist schnell erklärt: Dichte, saisonale Bepflanzung auf wenig Fläche, viel Handarbeit und vor allem: lokale Vermarktung. Als Unterschied zum Bio-Landbau werden permanente Beete angelegt, für die Ernte verwendet man leichte „Einachsschlepper“ statt schwerer Traktoren, mit dem Ziel, den Boden möglichst wenig zu bearbeiten und damit seine Fruchtbarkeit zu erhalten. Statt mineralischer Düngemittel und Pflanzenschutzmittel setzt Alfred Grand zudem auf Komposttee und Nützlinge. Das Konzept ist nicht neu: In Paris wurde so schon im 15. Jahrhundert Gemüse angebaut.
Die Marktgärtnerei umfasst zwei Hektar und liegt im Herzen der Grand-Farm. Sie besteht seit zwei Jahren. Dieses Jahr plant man, den Break-even zu erreichen. Alfred Grand hat aber mehr als den Gewinn im Blick. Er sieht in seiner Anbaumethode Vorteile für die Gemeinschaft. „Wir schaffen Arbeitsplätze in der Gemeinde. Wir produzieren leistbare, gesunde Lebensmittel für die unmittelbare Region. Und das System ist sehr resilient. Wenn eine Kultur ausfällt, können wir auf die anderen zurückgreifen. Damit leisten wir auch einen Beitrag zur Ernährungssicherheit”, erklärt er. Sechs Teilzeitmitarbeiter beschäftigt er gerade. Vermarktet wird bewusst nicht auf Wiener Bauernmärkten, sondern über Abo-Gemüsekisten an die benachbarten Gemeinden.
Die Nachfrage sei in der Pandemie gestiegen, das Interesse an Ernährungssicherheit auch. Schließlich betrug der Selbstversorgungsgrad mit Gemüse im vergangenen Jahr in Österreich nur 55 Prozent. Nicht nur für Abnehmer, auch für Produzenten könnte Marktgärtnerei interessant sein, ist Alfred Grand überzeugt. In Baulücken im Ortskern, etwa von Abwanderungsgemeinden, könnten solche kleinen Anbauflächen entstehen. So hätten junge Menschen einen Job, Einwohner regionales Gemüse, Bürgermeister attraktivieren den Ortskern, kurzum: Synergie.
Sie gilt auch beim Forschungs- und Demonstrationsbauernhof. „Wir sehen uns nach nachhaltigen Lösungen um und installieren diese. Dann adaptieren wir sie: an unsere Böden, unser Klima oder unseren Markt. Gemeinsam mit der Forschung evaluieren wir die Ergebnisse dann. Bei unserer Arbeit geht es auch um Bewusstseinsbildung”, erklärt Alfred Grand. Denn es geht darum, zu zeigen, was funktioniert und was nicht, und in der letzten Konsequenz um eine Vorbildfunktion.
Geforscht wird an Themen, die viele Landwirte betreffen: Humus und Bodenqualität oder Biodiversität etwa. In der Umsetzung war der Pioniergeist des 51-Jährigen gefragt. Denn für den Aufbau des Forschungs- und Demonstrationsbauernhofs bekam er weder vom Bundesministerium für Landwirtschaft noch vom Land Niederösterreich finanzielle Unterstützung. Der Tag, an dem er nach langem Hin und Her die Absage für eine Förderung bekommt, ist ihm noch lebendig im Gedächtnis: „Ich habe auf dem Heimweg vom Ministerium vom Zug aus einen Freund angerufen und gesagt: Wir machen das! Als er fragte, ob ich die Förderung bekommen habe meinte ich: Nein, aber wir starten jetzt. Ich werde nicht länger warten.“
Dieser Mut, etwas Neues auszuprobieren, war es auch, der den Agroforst in Absdorf entstehen ließ. Agroforstwirtschaft ist ein landwirtschaftliches Anbausystem, bei dem Gehölze – also Bäume und Sträucher – in Ackerflächen gesetzt werden. Um ihn zu sehen, lassen wir erneut unsere imaginäre Drohne steigen. Wir fliegen über die Felder, die die Marktgärtnerei umgeben. Seit 2016 trennen sie wenige Meter breite, bunte Linien voneinander. Es handelt sich um eine Vielzahl an Bäumen, etwa Zwetschgen, Vogelkirsche und Walnuss. Die Felder sind von Eschen und Traubeneichen, Hainbuchen und Sommerlinden flankiert, neben den Bäumen wachsen Sträucher. Auch hier ist die Diversität hoch: Liguster steht neben Haselnuss, Kornelkirsche neben Heckenkirsche.
Bäume auf Felder pflanzen. Klingt schlicht, hat aber viele positive Auswirkungen. Vor allem auf die Biodiversität, also die Vielfalt von Ökosystemen, Arten und Lebewesen. Werden Flächen intensiv landwirtschaftlich genutzt, nimmt diese nämlich stark ab. Viele Spezies können in ausgeräumten Landschaften, auf denen nur wenige Kulturen wachsen, nicht überleben. Tagfalter und Wildbienen finden keine Brutplätze und Nahrungspflanzen vor, Igel keine Schlaf-, Rehe keine Raststätten. Durch Umpflügen und synthetische Nitratdünger sterben die Würmer und Bodenorganismen ab, die für den Aufbau von fruchtbaren Humus unabdingbar sind. Genau hier kommen die Bäume ins Spiel. Sie bieten Verstecke, Nisthöhlen und Strukturen zwischen den Feldern. Das hilft, Äcker wieder mehr zu Lebensräumen zu machen. In der EU-Biodiversitätsstrategie wird dem Agroforst deshalb „großes Potential für vielfältige Vorteile für die biologische Vielfalt, die Menschen und das Klima“ zugesprochen. Dass die Biodiversität im Agroforst steigt, bestätigen Studien von Indien bis Brasilien. So weit müssen wir allerdings gar nicht gehen, um die Auswirkungen zu beobachten. Wir senken unsere imaginäre Drohne ab und lassen Sie einen Meter über dem Boden schweben.
Vor uns steuert ein Falke auf seine hölzerne Nistbox zu. Sechs Stück davon hat der Vogelschutzverein Wagrampur auf Alfred Grands Betrieb installiert. Diesen Sommer sind sie alle besetzt. Auf den Feldern sehen wir Mauswiesel, Zauneidechsen und Feldhamster. Zwischen den Sträuchern rasten Rehe. Schweben wir tiefer, entdecken wir einen Hirschkäfer, der aus den Donauauen angeflogen ist. In Ästen, die von den Bäumen abfallen, kann sich die große, blau-schimmernde Holzbiene ihren Nistplatz beißen.
Weitere überlebenswichtige Leistungen der Bäume sind für unser Auge unsichtbar. Durch Fotosynthese wandeln sie CO2 in Kohlenstoff um. Den speichern sie in Blättern, Ästen, Stamm, Rinde und Wurzeln ein. Bei jungen Bäumen passiert das noch in sehr geringem Ausmaß. In den ersten zwanzig Jahren bindet ein Baum ungefähr 5,5 Kilogramm CO2 im Jahr. Je mehr er wächst, desto mehr Biomasse hat er und desto mehr Kohlenstoff speichert er ein. Das Bundesforschungszentrum für Wald rechnet bei einer hundertjährigen Fichte mit 21 Kilogramm CO2-Äquivalent im Jahr. Fällt etwa ein Ast ab, können Bodenlebewesen ihn zu Humus umwandeln. Das funktioniert aber nur, wenn man den Boden möglichst wenig bearbeitet. „Das Belüften des Bodens, wie man es mit einem Pflug macht, sorgt dafür, dass die Mikrobiologie angeregt und der Humus abgebaut wird“, erklärt Alfred Grand. Bei diesem Prozess wird der gespeicherte Kohlenstoff freigesetzt. Um Humus aufzubauen und Kohlenstoff zu speichern, sollte man die Erde also möglichst in Ruhe lassen. Alfred Grand arbeitet auf seinen Feldern deswegen schon seit Jahren pfluglos.
Will man die Landwirtschaft an Klimaveränderungen anpassen, ist der Humus unabdingbar. Je tiefer und feinporiger er ist, desto mehr Wasser kann er speichern. Bei Stark-
regen, wie es ihn in den kommenden Jahrzehnten immer mehr geben wird, ist das ein Vorteil. Regenwasser bleibt im Boden und kann die Pflanzen auch in längeren Dürrephasen versorgen. Auch Starkwind wird sich häufen. Er setzt Feldfrüchten besonders zu, indem er den kostbaren Boden, der die Feldkulturen mit Nährstoffen versorgt, fortweht. Hier helfen wiederum die Bäume und Sträucher im Agroforst – sie mindern die Windstärke. In einer Entfernung, die zehnmal höher ist als der Baum selbst, kann man die Effekte noch messen. Bessere Wasserspeicherung und weniger Erosion sind Stellschrauben, um die Landwirtschaft besser für die Folgen des Klimawandels zu wappnen. Im Agroforst dreht man an beiden.
Bringen wir unsere Drohne nun ganz auf die Erde, schalten wir sie aus und setzen uns zu Alfred Grand in den Schatten des Containers. Am Holztisch vor ihm dampft der Kaffee. Die Auswirkungen seiner Initiativen, die Lebewesen, der bessere Humus, die Gespräche mit Abnehmern seiner Biokisten, geben ihm Hoffnung, erzählt der 51-Jährige. Im Kleinen tragen sie zu großen Zielen bei. „Wir berühren mit der Marktgärtnerei und dem Agroforst elf der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Gesunder Boden, gesundes Wasser, gesunde Luft zum Beispiel“, sagt Alfred Grand. Wie weitreichend die Auswirkungen der Maßnahmen auf der Grand-Farm sind, wird die Zeit zeigen. Forscherinnen und Forscher werden sie messen und in wissenschaftliche Erkenntnisse gießen, von denen wiederum die Zivilgesellschaft lernen kann. Für die Zukunft hat Alfred Grand ein klares Bild im Kopf. Da denke er neben all der Synergie und den großen Zielen auch einmal an „das gute Leben“ für sich und seine Lieben. „Wenn ich im Ruhestand bin“, erzählt er, „will ich auch einfach mit meinem Hund im Schatten der Bäume spazieren gehen.“