Auf der Suche nach dem Wir

Foto Juliette Chrétien

Von Ulrich Grober

Das neue Jahr hat schon mächtig Fahrt aufgenommen. Wohin, ist ungewiss. Ein heißer Anwärter auf den Titel „Wort des Jahres“ könnte sich jedoch bereits jetzt heraus-schälen: „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“. Kein Wunder, denn das Unbehagen an den Zuständen wächst. Wir nehmen unser soziales Umfeld, ja die ganze Gesellschaft zunehmend als gespalten, zerrissen, zerklüftet wahr. Das macht uns Angst. Denn viele ahnen: Der multiplen Krise die Stirn bieten, geht nur gemeinsam: jung / alt, weiblich / männlich, bildungsfern / gebildet, progressiv / konservativ, Nord / Süd, arm / reich …

Arm und reich? Das Weltwirtschaftsforum im Januar in Davos stand unter dem Motto „Rebuilding Confidence“ – Vertrauen (anders übersetzt: Zuversicht) neu aufbauen. Die international tätige Hilfsorganisation „Oxfam“ setzte wie jedes Jahr ihren Kontrapunkt. Faktenreich belegt sie eine rapide wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, mit einer gesellschaftlichen „Zerreißprobe“ als drohender Konsequenz. „Oxfams“ Motto: fair, gerecht umverteilen.

Reicht das? Mir fiel ein Stichwort ein, das die Sache in ein etwas anderes Licht rückt: Egalité. Bekanntlich ist das einer der Achsenbegriffe aus der Französischen Revolution. Wie wäre es, angesichts der Ungleichheitskrise Bilder einer viel stärker egalitär ausgerichteten Gesellschaft zu entwerfen?
Das so anzusprechen ist nicht einfach. Da kommen nämlich eine Menge tiefverwurzelter Denk- und Gefühlsmuster ins Spiel: Existenz- und Abstiegsängste, starres Besitzstandsdenken, blanke Wut, nackte Interessen und nicht zuletzt: kühle Machtfragen.

Alles Egalitäre ist momentan eher ein Schreckgespenst, jedenfalls keine realistische Option, geschweige denn verbindende Vision. Doch vielleicht hilft ein Stück Science-Fiction-Literatur weiter? Der Roman „Das Ministerium für die Zukunft“ des kalifornischen Autors Kim Stanley Robinson, erschienen 2021, spielt in einer nahen Zukunft – so um 2040 – auf einem überhitzten Planeten. Frank, der Protagonist des Romans, ist Überlebender einer mörderischen Hitzewelle in der nordindischen Gangesebene und militanter Klimaaktivist. Ihn hat es nach Zürich verschlagen. Dort trifft er auf Mary. Die Irin leitet dort eine UN-Einrichtung, die – mit allen Mitteln! – entscheidende Durchbrüche zur Rettung des Planeten organisieren soll. Im Gespräch mit ihr erinnert sich Frank an seine Zeit bei der US-Navy. Das Jahresgehalt eines Admirals lag bei 200.000 Dollar. Niemand verdiente mehr. Die Pointe: „Das Verhältnis zwischen niedrigstem und höchstem Lohn beträgt ungefähr eins zu acht.“ Angesichts des akut gewordenen Klimanotstands stellt er die Frage: „Wie wär‘s denn, wenn die ganze Welt mehr wie die US-Navy organisiert wäre?“ Die Untergrenze des Einkommens auf ein Niveau festlegen, das „jedenfalls genug für ein anständiges Leben“ biete. Wenn die Obergrenze das Zehnfache davon betrage, wäre das „immer noch ein Haufen Geld“. Aber der Abstand zwischen unten und oben wäre erträglich. Woher kommt dann aber die Motivation, sich einzubringen mit allem, was man hat und kann? Robinson spricht von „Korpsgeist“. Man könnte auch sagen: Kameradschaft. Oder Solidarität. Oder Corporate Identity. Jedenfalls geht es um einen Verhaltenskodex, eine Sache der Ehre. Den Job als Berufung, als Dienst ansehen, mit anderen Worten: als einen Weg zu einer nicht als Egotrip missverstandenen Selbstverwirklichung. Eigentlich verblüffend einfach wird so aus dem Schreckgespenst des Egalitären ein Lockruf, sich auf eine andere Logik einzulassen. Weniger ist mehr. Was aber ist das „Mehr“ im „Weniger“? Inneres Wachstum, geliebt werden, ein sinnerfülltes Leben. Fest steht: Der Mut zum Weniger muss „oben“ anfangen, wenn sozialer Zusammenhalt gelingen soll.

Ein ganz anderer Zugang. „Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen“. Wieder ein schlichter Gedanke, tausendmal gehört. Ich las den Satz zum ersten Mal auf einem Plakat der Grünen zur Europawahl im Jahr 1979, der ersten überhaupt. Dreizeilig prangt er, grün grundiert, auf einer Kinderzeichnung. Eine mit menschlichen Gesichtszügen ausgestattete, orangegelbe Sonne lacht vom Himmel. Ihre starken Strahlen fallen auf die grüne Erde. Auf einer Wiese stehen zwei früchtetragende Obstbäume, zwischen ihnen zwei überproportional große Blumen in voller Blüte. Am Rand, ganz klein, ein Haus mit Tür, Fenster, Giebel und Schornstein. Das ist alles.

„Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geliehen“ war keine Erfindung europäischer Wahlkampfstrategen. Vielmehr hat der Spruch seine Wurzeln in der Weisheit indigener Kulturen. Also in einer Lebensform, in der die Natur als eine heilige Domäne – Mutter Erde – angesehen wird, die den Zusammenhalt des Gemeinwesens viel mehr wertschätzt als die unsrige.

Woraus bezieht der Spruch seine Power? Er bettet die eigene Gegenwart in den Strom der Zeit ein – in die unendliche Kette der Generationen, in das Netz des Lebens. Es rückt das momentane Handeln in den Horizont einer unabweisbaren Verantwortung für die Zukunft. Er bringt den Gedanken der Treuhänderschaft wieder ins Spiel. Du darfst die verfügbaren Ressourcen für dich nutzen, musst aber die natürlichen Lebensgrundlagen intakt weitergeben. Und nicht zuletzt: Er legitimiert und befähigt junge Menschen, ihre Ansprüche machtvoll anzumelden. In diesem Spruch steckt die Essenz von Nachhaltigkeit. Ich sehe sie in der Einheit von Selbstsorge, Fürsorge und Vorsorge.

Was uns verbindet: Empathie. Auch dieses heutige Modewort gehört auf die Goldwaage. Zum ersten Mal tauchte es um 1900 in der amerikanischen Psychologie auf. „Empathy“ aber war eine (mit Hilfe griechischer Vokabeln) wortwörtliche Übersetzung des deutschen Begriffs Einfühlung. In der Fachsprache der Ästhetik und Psychologie des 19. Jahrhunderts meinte er die Fähigkeit des Menschen, sich in ein „Nicht-Ich“ so „hineinzuversetzen“, als ob er „mit seiner Lebenskraft und Seele selbst darin sei“ (Friedrich Vischer). Die Sphären der Einfühlung – und das finde ich aufregend – umfassten nicht nur die zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern genauso Naturphänomene (einen Baum, einen Bach, eine Landschaft) und Artefakte (ein Kunstwerk, ein Ding des Alltags).

Die zugrundeliegende Idee ist universal. Es gehe darum, so der aus Wien gebürtige Theologe und Philosoph Ivan Illich, „ein Wir zu suchen, das tatsächlich die Mehrzahl von Ich ist“. Sich gegenüberstehen – und dann: Ich sehe mich in deiner Pupille. Du siehst dich in meiner Pupille. Empathie beginnt mit der einfachsten aller menschlichen Handlungen: dem Blickkontakt. 


Buchtipp
Ulrich Grober, „Die Sprache der Zuversicht“, Oekom-Verlag, München, 2022.


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