Bewohnbares Luftschloss

Das 10 Meter lange Tiny House wurde im Rahmen der „Dutch Design Week“ in Eindhoven ausgestellt. Es verfügt über einen Wohnraum, eine Küche und ein Bad und wurde mit Wärmepumpe, Photovoltaik und solarer Wassererwärmung ausgestattet. Fotos: Jorrit Lousberg/Vattenfall

Das Architekturkollektiv „Superuse“ entwickelte für das Energieunternehmen „Vattenfall“ ein Tiny-House-Konzept, das auf dem ausgedienten Maschinenhaus einer Windturbine basiert. Die Umsetzung des zukunftsweisenden Projekts übernahm das Unternehmen „Blade–Made“.
Von Jutta Nachtwey

Völlig aus der Luft gegriffen, diese Wohnidee? Eigentlich schon, denn das Maschinenhaus der Windturbine befand sich rund 20 Jahre lang etwa 100 Meter über dem Boden, bevor das Architekturkollektiv „Superuse“ diese Gondel einem Tiny-House-Konzept zugrunde legte. Das Projekt ist aber keineswegs ein reines Luftschloss, es wurde vom Impact-Unternehmen „Blade–Made“ und dem Holzspezialisten „Woodwave“ tatsächlich realisiert und im Rahmen der „Dutch Design Week“ im Oktober 2024 auf dem Ketelhuisplein in Eindhoven ausgestellt.

„Vattenfall“ hatte zuvor vier Designstudios eingeladen, ein Second-Life-Szenario für demontierte Windturbinen zu entwickeln. Der Hintergrund: Die meisten Teile einer Windkraftanlage – ob Fundament, Turm, Getriebeteile oder Generator – bestehen laut dem Energieunternehmen aus Metall oder Beton und sind daher leicht recycelbar. Stahl lässt sich beispielsweise einschmelzen und wiederverwenden, aber dies verbraucht viel Energie und verursacht Emissionen. Thomas Hjort, Director of Innovation bei „Vattenfall“, erklärt deshalb: „Wir suchen nach innovativen Wegen, wie man Materialien aus gebrauchten Turbinen möglichst vollständig wiederverwenden kann. Das spart Rohstoffe und Energie und sorgt dafür, dass diese Materialien noch viele Jahre nach ihrem ersten Einsatz genutzt werden können.“

Das Tiny-House-Konzept von „Superuse“ kommt diesem Ziel wohl am nächsten, denn der Maschinenraum existiert als Ganzes weiter. Das Haus ist 10 Meter lang, 3,5 Meter breit, 3 Meter hoch und verfügt über einen Wohnraum, eine Küche und ein Bad. Dank Wärmepumpe, Photovoltaik und solarer Wassererwärmung ist es durchaus für Wohnzwecke oder als Urlaubsdomizil geeignet. Laut Jos de Krieger, Partner von „Superuse“ und „Blade–Made“, lässt es sich für eine Wohnraumerweiterung auch auf das Dach eines Gebäudes aufsetzen. Während es von außen leicht futuristisch wirkt, bietet es drinnen ein gemütliches Ambiente. Das Team richtete das winzige Haus teils mit gebrauchten, teils mit nachhaltig produzierten Möbeln ein. „Superuse“ nennt das Tiny House „Nestle“, ein Wortspiel aus „nacelle“ (Maschinenraum/Gondel) und „to nestle“ („ein Nest bauen“).

Die Wiederverwertung von Baumaterialien ist für „Superuse“ ein zentrales Thema. Das Studio, das seinen Hauptsitz in Rotterdam hat, widmet sich dem Thema „architecture of transition“ und setzt bei allen Projekten auf Kreislaufprozesse. Es verwendet bevorzugt ausgediente Materialien lokaler Herkunft, weil sich laut dem Architekturkollektiv hierdurch der größte Nutzen für die Umwelt erzielen lässt. Ein Beispiel: „Superuse“ verwandelte ein früheres Community Center im niederländischen Den Bosch in eine begrünte Wohnanlage mit 19 Einheiten – zu 84 Prozent mit Secondhand-Baustoffen aus der Umgebung. So konnten laut eigenen Angaben im Vergleich zur herkömmlichen Bauweise rund 70 Prozent des CO2-Ausstoßes eingespart werden.

Das Maschinenhaus, das beim „Nestle“ zum Einsatz kam, bringt nicht nur wertvolles Material, sondern auch eine eigene Geschichte mit: Vor der Demontage leistete die V80 2MW-Turbine rund 20 Jahre lang im österreichischen Windpark Gols treue Dienste. Laut „Vattenfall“ produzierte sie dort 73 Gigawattstunden Strom – genug, um mehr als 29.000 Haushalte ein Jahr lang zu versorgen. Das niederländische Unternehmen „Business in Wind“ hatte den Windpark stillgelegt und die Gondel für dieses Projekt zur Verfügung gestellt.

„Vattenfall“ wollte mit seiner Initiative inspirieren und auf die Notwendigkeit hinweisen, beim Rückbau von Windparks innovative Konzepte zu entwickeln. „Es gibt mindestens 10.000 Gondeln dieser Generation, die über die ganze Welt verteilt sind. Die meisten von ihnen sind noch nicht außer Betrieb genommen worden. Das eröffnet Perspektiven und schafft Herausforderungen für Eigentümer und Stilllegungsbetriebe“, so Jos de Krieger. Aus seiner Sicht bieten die ehemaligen Maschinenräume noch viel mehr Potenzial: „Wenn eine so komplexe Struktur wie ein Haus möglich ist, dann sind auch zahlreiche einfachere Lösungen machbar und skalierbar“, erklärt er. So sei es beispielsweise ebenfalls denkbar, die Gondeln als Fahrradunterstand, als Geräteschuppen oder als Tierstall zu nutzen. „Blade–Made“ untersucht noch, ob es das „Nestle“ oder simplere Behausungen in sein Produktportfolio aufnimmt. „Derzeit erkunden wir das Interesse am Projekt und prüfen, ob es sich lohnt, in Serie zu produzieren, was auf lange Sicht die Kosten erheblich senken würde“, fügt Jos de Krieger hinzu.

„Blade–Made“ hatte sich bereits vor diesem Projekt intensiv damit auseinandergesetzt, wie man die Rotorblätter von Windkraftanlagen sinnvoll weiterverwenden kann. Das Unternehmen wurde 2021 als Spin-off von „Superuse“ gegründet, um die vom Architekturkollektiv entwickelten Ideen für die Nutzung ausrangierter Flügel auf den Markt zu bringen. Hierfür holte das Team als Co-Founder das Unternehmen „New Citizen Design“ aus Rotterdam ins Boot, das auf Themen wie Projektmanagement und Beratung für Designprodukte und Design Thinking spezialisiert ist.

Tatsächlich nimmt die Anzahl von Windkraftanlagen rasant zu, aber bislang gibt es
wenig Ansätze, wie sich das Material der Flügel – glasfaserverstärkter Kunststoff – sinnvoll weiter nutzen lässt. „Blade–Made“ zeigt auf seiner Website zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten, etwa einen Aussichtsturm, bei dem sich die Treppe um ein Rotorblatt windet, oder einen Community Garden, dessen Beeteinfassungen und Sitzbänke aus Rotorblatt-Scheiben bestehen. Aber auch Schallschutzwände, Stadtmobiliar, Spielplatzgeräte oder Werbestelen lassen sich aus den Windrad-Flügeln entwickeln.

„Vor der Demontage leistete die V80 2MW-Turbine rund 20 Jahre lang im österreichischen Windpark Gols treue Dienste.“

Mit dem Tiny House, das auf dem Upcycling eines kompletten Maschinenraums basiert, gingen „Superuse“ und „Blade–Made“ noch einen Schritt weiter. Auch wenn es bislang nicht in Serie geht, bleibt zu hoffen, dass „Blade–Made“ dieses Konzept in sein Produktportfolio aufnimmt. Auf jeden Fall klingt es verlockend, in diesem wahr gewordenen Luftschlösschen zu wohnen und sich –
inspiriert von seiner windumwehten Geschichte – beim Einschlafen in hundert Metern Höhe zu wähnen.

Weitere Infos: superuse-studios.com


Teilen auf:
Facebook