Bioökonomie

Wie der gesellschaftliche Wandel zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise gelingen könnte
Von Anna Greissing

Der deutsche Bioökonomierat definiert die Bioökonomie als „die Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen (auch Wissen), um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen“. Der Mensch hat sich aus der Natur schon immer geholt, was er zum Leben brauchte – in der heutigen Zeit allerdings überfordert und gefährdet diese Nutzung das Weiterbestehen der Ökosysteme und letztlich auch des Planeten. Um die Natur und ihre Ressourcen zu erhalten, muss sich die Gesellschaft jetzt nachhaltiger und ökonomisch – eben bioökonomisch – verhalten. Das bedeutet, die Kreisläufe der Natur zu kennen und so zu nutzen, dass ihre Rohstoffe nachwachsen können. Bioökonomisches Wirtschaften könnte zum Beispiel heißen, statt Chemikalien Mikroorganismen wie Pilze oder Bakterien im Haushalt, in der Medizin oder in der Industrie zu verwenden, um klima- und umweltschädliche Herstellungsprozesse zu ersetzen.
Bioökonomischen Themen wie diesen widmet sich in Österreich seit Jahren unter anderen die BOKU in Wien. 2019 wurde dort auch das Zentrum für Bioökonomie eröffnet. „Original“ hat mit dem Leiter, Dr. Martin Greimel, über die Ziele, Fortschritte und Chancen der Bioökonomie gesprochen.

Die große Chance sehe ich hier in dem wirtschaftlichen Wiederaufbau, der durch die Covid-Pandemie in Europa und weltweit notwendig ist

Die Bioökonomie ist heute ein wichtiges Schlagwort. Den Begriff verwendete die Europäische Kommission ja bereits vor 15 Jahren, also 2005, als wissenschaftliches Konzept, das den Weg von einer fossilen zu einer nachhaltigen Wirtschaft und Gesellschaft ermöglichen sollte. Was beinhaltet der Begriff?
Mein erster Kontakt mit dem Konzept war ebenfalls im Jahr 2005. Ich habe damals für die Generaldirektion Forschung der Europäischen Kommission (DG RTD) gearbeitet und war zuständig für das Thema Wald und Produkte des Waldes. Wir hielten in diesem Jahr eine Klausur ab, in der mögliche Themen für das folgende Forschungsrahmenprogramm (FP 7) formuliert werden sollten. Am Ende stand der Begriff „Knowledge based bioeconomy KBBE“ da. Die Vision war, durch die gezielte Förderung von land- und forstwirtschaftlicher Forschung nachwachsende biogene Rohstoffe (d.h. biologischen oder organischen Ursprungs) ausreichend verfügbar zu machen und auch umwandeln zu können, um damit die Produkte zu ersetzen, die bisher aus fossilen Rohstoffen hergestellt wurden (v. a. Erdölprodukte wie Treibstoff und Plastik, aber auch Zement, Stahl oder Batterien). Damit – so dachte man damals – würde sich die Gesellschaft dann selbständig entwickeln von einem auf fossilem Konsum beruhenden Wirtschaftssystem hin zu einem nachhaltigen Modell, das mit nachwachsenden biogenen Rohstoffen auskommt. 2007 wurde das Programm der EU erstmals veröffentlicht. Leider haben wir heute, 13 Jahre später, immer noch keine Bioökonomie-Gesellschaft.

Was hat nicht funktioniert?
Die Forschung hat sich damals zu stark auf die technologischen Innovationen konzentriert, etwa die Herstellung von Treibstoff aus pflanzlichen Rohstoffen. Da gab es zwar ziemlich schnell gute Erfolge, oft aber wurden die gesellschaftlichen und sozialen Auswirkungen zu wenig mitgedacht, sodass sich viele technologische Neuerungen langfristig nicht durchsetzen konnten oder nur wenig zu dem Ziel eines nachhaltigeren Wirtschaftsmodells beitragen konnten. Ein Beispiel dafür ist die Verarbeitung von Mais zu Treibstoff (Bioethanol), die v. a. ab 2005 durch neue Technologien gewinnbringend gelang und in den USA in der Folge zu einem regelrechten Boom beim Handel mit Biosprit führte – mit weitreichenden sozialen und ökologischen Folgen weltweit. Denn durch die Nachfrage nach Mais für die Produktion von Bioethanol stieg der Preis für Mais als Lebensmittel am Weltmarkt so stark an, dass er in vielen Regionen der Welt nicht mehr leistbar war, in denen Mais aber traditionell das Grundnahrungsmittel vor allem der ärmeren ländlichen Bevölkerung ist. Zusätzlich fielen in den USA, aber auch in vielen lateinamerikanischen Ländern große Flächen an Grünland dem Agrobusiness zum Opfer, mit einem hohen Einsatz an schädlichen Dünge- und Pflanzenschutzmitteln.
Das Beispiel zeigt nicht nur, dass technologische Neuerungen zur Gewinnung und Verarbeitung von Bio-Rohstoffen allein nicht ausreichen, um einen nachhaltigen Wirtschaftswandel im Sinne der Bioökonomie umsetzen zu können, sondern auch, dass deren ökologische und soziale Implikationen mitgedacht werden müssen. Denn nicht alles, was technisch machbar ist, ist auch wirtschaftlich bzw. umweltwissenschaftlich sinnvoll. Sozialwissenschaftliche und ökologische Expertise muss daher von Anfang an im Forschungsprozess miteinbezogen werden. Das wurde lange Zeit nicht genügend gemacht.

Wie hat sich das Konzept und die Forschung im Bereich der Bioökonomie seither entwickelt?
Nachdem die Europäische Kommission erkannte, dass der Begriff anfänglich zu kurz gedacht war und die Forschung zu einem großen Teil in unzusammenhängenden Säulen stattfand, wurde das Konzept überarbeitet und 2018 als neue EU-Bioökonomie-Strategie präsentiert, mit den notwendigen Nachbesserungen in den Bereichen ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Eine Politik im Sinne der Bioökonomie muss Lösungen zu den großen Herausforderungen unserer Zeit finden, wie den Klimawandel, die Verknappung der Ressourcen oder den weltweiten Verlust der Biodiversität. Wissenschaft und Forschung bilden dafür natürlich die Grundlage. An vielen europäischen Universitäten wird seit Jahren in den unterschiedlichen Bereichen der Bioökonomie geforscht – manche mit Fokus auf die Technologie, andere mit mehr Bezug auf die umweltwissenschaftlichen oder gesellschaftlichen Aspekte. Was bisher immer noch fehlt, ist eine bessere Vernetzung und Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Universitäten, aber auch zwischen Unternehmen, Politik und relevanten Institutionen. In Österreich wurde genau dafür 2019 das Zentrum für Bioökonomie der Universität für Bodenkultur (BOKU) in Wien gegründet. Das Ziel ist die Vernetzung der Aktivitäten innerhalb der BOKU – etwa die Zusammenführung der Forschungsvorhaben der unterschiedlichen Institute in den verschiedenen Teilbereichen der Bioökonomie, um diese zu ganzheitlichen Lösungen zu bündeln. Außerdem sollen Kooperationen mit relevanten österreichischen und internationalen öffentlichen und privaten Institutionen angeregt und vertieft werden. Im Juli 2019 hat die BOKU dann gemeinsam mit 5 anderen europäischen Universitäten die „European Bioeconomy University Alliance EBU“ gegründet, um gemeinsam intensiv an Thematiken der Bioökonomie zu arbeiten und Vernetzungen mit Industrie und Unternehmen auch über die Grenzen hinweg zu ermöglichen – das ist essenziell für die Umsetzung der Forschungserkenntnisse in die Praxis.

An welchen Projekten wird beispielsweise derzeit an der BOKU geforscht?
80% aller Institute der BOKU forschen derzeit zu bioökonomischen Themen. Die BOKU nimmt damit international eine Vorreiterrolle ein, da die Uni sowohl Lehre, Forschung als auch Innovationsaktivitäten zu Natur-, Technik-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften anbietet und damit die ganzheitliche Betrachtung des Konzepts in der Forschungspraxis umsetzt. Das bedeutet, dass bei jeder Forschungsfrage immer alle 4 großen Teilbereiche der Bioökonomie involviert sind: zum einen die Möglichkeiten der Rohstofferzeugung (aus Landwirtschaft, Forstwirtschaft, dem Wasser und Abfall- bzw. Reststoffen) und die Be- und Verarbeitungsprozesse (wie z. B. Ernteaufbereitung, Technologien zur Biomasse-Umwandlung in Lebens- und Futtermittel, Baustoffe, Energie oder Chemikalien); zum anderen die umweltwissenschaftlichen Implikationen (Nachhaltigkeit, Ökobilanz, Beitrag zu Klimazielen) und die sozialwissenschaftlichen Aspekte (Arbeitsbedingungen, Wirtschaftlichkeit, Konsumverhalten und Akzeptanz bei der Bevölkerung).
Ich möchte das anhand eines Beispiels beschreiben: ein Forschungsschwerpunkt der BOKU konzentriert sich auf die Problematik der Überhitzung der Städte durch die Klimaerwärmung und die Frage der regionalen Lebensmittelversorgung. Stichwörter sind hier urban greening, vertical farming, edible cities. Hier geht es zunächst darum, welche Rohstoffe genutzt werden könnten (Pflanzen, aber auch Abfälle und Reststoffe, die in der Stadt wachsen oder anfallen): Wie können Anbau, Pflege, Bewässerung, Ernte bzw. Mülltrennung und Recycling dieser Stoffe organisiert werden? Welche Methoden der Verarbeitung und Aufbereitung gibt es, etwa zu Lebensmitteln, Tierfutter, Energie, oder anderen Materialien? Wie wird der Prozess begleitet durch sogenannte Lebenszyklen-Analysen, also welchen CO2-Ausstoß beinhaltet die Verwendung der Rohstoffe vom Anbau bis zum fertigen Produkt, was bedeutet das für die Biodiversität, welche Auswirkungen auf Rückstände im Abwasser sind zu erwarten; und letztlich ist da noch der sozialwissenschaftliche Aspekt, d.h. etwa die Frage nach der betriebswirtschaftlichen Leistung, der regionalen Wertschätzung, den Ökosystemleistungen und der sozialen Akzeptanz der Neuerung.

Das ultimative Ziel der Bioökonomie ist die Umwandlung des derzeitigen Wirtschaftssystems auf nachhaltig produzierte nachwachsende Rohstoffe. Ist so eine Umstellung tatsächlich in naher Zukunft machbar?
Die Idee ist natürlich, möglichst alle wichtigen Produkte, die wir für unser tägliches Leben brauchen, in Zukunft auf Basis von nachwachsenden Rohstoffen erzeugen zu können. Allerdings wissen wir auch, dass eine vollständige Umstellung der Produktion und des Konsums 1:1 auf rein nachwachsende Rohstoffe gar nicht möglich ist. Wenn wir weiterhin gleich viel verbrauchen wollten wie bisher, wäre nämlich die mehrfache Fläche der Erde notwendig, um mit nachhaltig produzierten nachwachsenden Rohstoffen diese Nachfrage zu decken. Deshalb muss eine Systemumstellung im Sinne der Bioökonomie auch einen Anteil an Suffizienz und Verzicht beinhalten. Die Reduktion des Verbrauchs in allen Bereichen ist unabdingbar, weshalb die soziale Komponente der Bioökonomie auch so wichtig ist. Wir müssen nicht nur neue Wege der Produktion auf Basis von nachwachsenden Rohstoffen finden, sondern auch lernen, unseren Konsum zu reduzieren. Die Bioökonomie kann also auch nur ein Teil der Lösung sein. Hier ist ein Umdenken in der Wirtschaft, aber auch bei der Bevölkerung gefragt. Noch immer werden
zum Beispiel tausende Kilogramm an Nahrungsmittel jährlich weggeworfen, insgesamt wird sehr viel entsorgt und neu gekauft, was eventuell noch repariert oder wiederverwendet werden könnte. In vielen Haushalten gibt es unnötigen Stromverbrauch etwa durch starke Außenbeleuchtungen. Im Logistik-Bereich könnte viel geschehen, um Transporte zu reduzieren. Im Bausektor ist bereits einiges passiert, um nachwachsende Rohstoffe zu etablieren (Holz und Stroh statt Zement, etc.) aber es gibt auch da noch Luft nach oben. Es gibt unzählige gute Ansätze. Aber entscheidend dafür, welche Produkte und Systeme sich durchsetzen, ist letztlich auch das Konsumverhalten der Menschen. Dazu benötigt es politische Vorgaben und Rahmenbedingungen. Ein Fokus der Bioökonomie im sozialwissenschaftlichen Bereich ist daher die Kommunikation mit den zuständigen Entscheidungsträgern. Daneben sind Aufklärung und Bewusstseinsarbeit ganz essenziell.

Bioökonomie fängt ja auch bei den kleinen Dingen an. Ich denke da an die herkömmliche Zahnbürste, die Millionen Menschen täglich verwenden. Es gibt bereits Zahnbürsten aus biologischen Materialien, z. B mit Griff aus Bambus und Borsten aus Naturfaser. Die allermeisten Leute kaufen aber weiterhin die Zahnbürste aus Plastik, die nach wenigen Wochen wieder im Müll landet. Warum?
Ja, genau das ist die Herausforderung. „Der Konsument wird/muss es richten“ hat leider nur bei wenigen funktioniert – ich schätze das Potenzial auf 20% der Österreicher. Ich denke daher, dass es gesetzliche Rahmenbedingungen geben muss, die die tatsächlichen Kosten (also auch Umweltkosten) berücksichtigen. Ich bin davon überzeugt, dass ein gesellschaftliches Umdenken (auch für diese kleinen Dinge des Lebens wie die Zahnbürste) einen ökonomischen Anreiz haben muss. Eine Zahnbürste aus Plastik müsste also entsprechend teuer sein.

Wo sehen Sie das größte Potenzial, wo die größten Schwierigkeiten für die nahe Umsetzung der Ziele der Bioökonomie?
Das ist eine interessante Frage, denn in meinen Augen ist das größte Potenzial der Bioökonomie auch gleichzeitig die größte Schwierigkeit – nämlich das gesamtheitliche Denken. Wenn es gelingt, die Herausforderungen von Beginn an nicht nur von einer Seite, sondern ganzheitlich anzugehen, die gesellschaftlichen und ökologischen Folgen von technologischen Neuerungen, politischen Entscheidungen und wirtschaftlichen Entwicklungen richtig einzuschätzen und miteinzubeziehen, dann kann man nachhaltige Erfolge erzielen. Das größte Problem dabei ist, dass es unglaublich umfangreich ist. Auf der wissenschaftlichen Ebene muss es gelingen, die vielen Teillösungen zu ganzheitlichen Lösungsansätzen zusammenzufügen. Für die BOKU bedeutet das zum Beispiel, 15 Departments und ca. 65 Institute zu koordinieren, die alle in ihrem Bereich arbeiten und Ergebnisse produzieren, die in unterschiedlichen Medien kommuniziert werden und jeweils eben nur Teillösungen zu komplexen Problemstellungen anbieten. Die Herausforderung besteht darin, die jeweiligen Teams und ihre Forschungsergebnisse (übrigens nicht nur auf der BOKU, sondern natürlich auch an den vielen anderen Universitäten, die im Bereich der Bioökonomie forschen) so zu vernetzen, dass letztlich wirklich neue ökologisch und sozial gerechte Wirtschafts- und Gesellschaftsmodelle daraus entstehen können.

Sind in Österreich die politischen Rahmenbedingungen gegeben, um die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Bereich der Bioökonomie auch umzusetzen?
In Österreich wurde 2019 eine neue, in meinen Augen geglückte Bioökonomie-Strategie der Regierung (unter Einbezug eines Expertengremiums) formuliert, die die Fehler vorheriger Strategien vermeidet, d.h. einerseits die ökologischen und sozialen Fragestellungen ausreichend berücksichtigt und andererseits die Erkenntnis beinhaltet, dass kein 1:1 Ersatz durch nachhaltige Rohstoffe möglich ist. Neuerdings wurde die Abteilung für Bioökonomie vom Landwirtschaftsministerium ins Klimaministerium verlegt, was dem ökologischen und sozialen Bereich der Bioökonomie die entsprechende Bedeutung bringen sollte.
Nun kommt es darauf an, wie die Umsetzung dieser Strategie in die Praxis erfolgen wird. Die große Chance sehe ich hier in dem wirtschaftlichen Wiederaufbau, der durch die Covid-Pandemie in Europa und weltweit notwendig ist. Wenn die Milliarden, die in den Neustart fließen werden, genügend Investitionen im Sinne der Bioökonomie beinhalten (große Förderungen also z. B. nicht mehr in den Aufbau einer Industrie gesteckt werden, die auf fossilen Rohstoffe basiert, sondern auf nachhaltig produzierten nachwachsenden Rohstoffen), dann könnte aus dem Neustart tatsächlich auch ein Strukturwandel hervorgehen. Die österreichische Bioökonomiestrategie von 2019 lässt zumindest erhoffen, dass unsere Regierung hier wirklich umdenken will und entsprechend handeln wird.



Martin Greimel ist Leiter des Zentrums für Bioökonomie an der Universität für Bodenkultur Wien. Diese koordiniert sämtliche an der BOKU laufende Forschung und Lehre mit Bezug zur Bioökonomie. Er vertritt die BOKU bei der European Bioeconomy University Alliance (EBU) und ist Mitglied der EU Bioeconomy Policy Support Facility, welche die Aufgabe hat, Länder ohne Bioökonomiestrategie bei der Erstellung und Umsetzung einer nationalen Bioökonomiestrategie zu unterstützen.
boku.ac.at/zentrum-fuer-biooekonomie

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