BUCHBESPRECHUNG

Von Verana Rossbacher

Für passionierte Leser steigt natürlich mit dem Nahen des Sommers die Panik.
Es soll Leute geben, die zerbrechen sich den Kopf wegen ihrer Bikinifigur, es gibt welche, die fanatisch sündteure Wetter-Apps studieren in der schlimmen Angst vor einem verregneten Urlaub, und es gibt die, die ihre Ferien vollstopfen mit attraktiven Aktivitäten und im Herbst ein Burn-out haben. Passionierte Leser können über sowas nur lachen, passionierte Leser haben echte Sorgen: Was soll ich lesen? Fragen sie sich händeringend, und: Wird es reichen? Habe ich genug Bücher, wird mir der Stoff ausgehen während – während! – des Urlaubs, werden die Geschichten mich packen, sind sie genug spannend, sind sie, kurzum, so, dass es total egal ist, ob der Bikini sitzt oder auch nicht, ob es regnet oder stürmt und jede andere Aktivität nur stört, nämlich beim Lesen. Passionierte Leser wollen nur eines: Am Anfang des Sommers müde in ihr Buch eintauchen und am Ende des Sommers erfrischt daraus wieder hervorkommen. Zwei Faktoren entscheiden hierbei über unser aller Glück: Der Faktor Masse und der Faktor Eskapismus.
Dessen eingedenk landen wir vor Anbruch der Ferien fast zwangsläufig bei Hilary Mantel und ihrer fiktionalen Biographie über die legendäre historische Figur Thomas Cromwell. Der dritte Band ist im März diesen Jahres auf Deutsch erschienen und die Trilogie (Wölfe, Falken, Spiegel und Licht) damit vollständig, und wir tätscheln zufrieden die mehr als zweitausend Seiten (Masse) und ich kann zuversichtlich sagen: Es ist egal, wo man den Sommer verbringt, am besten billig und mit minimalem Aufwand in seinem Sessel, denn man wird sich den ersten Band vornehmen und irgendwann den letzten Band weglegen, alles dazwischen (Familie, Baden, Wandern, Essen) sind nur störende Chimären und ein Grund, schnell wieder zu seinem Buch zu flüchten (Eskapismus).
Gewiss, manche Leser entwickeln eine Art Abwehrreflex in Bezug auf historische Romane, sie denken entsetzt an Titel wie Die Wanderhure und schlussfolgern: Historische Romane sind Schundromane, damit kann ich mich nicht im Strandkorb blicken lassen! Ich verstehe diese Angst. Es gibt dafür zwei Lösungen: Entweder, man macht Urlaub im Sessel (siehe oben), oder man hüpft über seinen Schatten und probierts noch mal mit diesem Genre. Man könnte sagen, mit Mantel bewegt sich der kluge, historische Roman gerade auf seinem Zenit. Es mag noch Besseres kommen, aber bis anhin ist sie ungeschlagen.
Thomas Cromwell, aus einfachen Verhältnissen stammend, machte im England der Renaissancezeit eine erstaunliche Karriere, er war Söldner, Händler und Jurist und stieg als Berater HenryVIII (ja, der mit den vielen Frauen) schliesslich zu dessen Schatzkanzler und obersten Minister auf. Er gilt in vielerlei Hinsicht als Wegbereiter des heutigen, modernen Großbritanniens.
Das 16. Jahrhundert war eine Zeit des enormen Wandels. Die Erfindung des Buchdrucks hatte eine Art Medienrevolution ausgelöst – es hat eine gewisse Komik, wenn im Buch darüber geklagt wird, dass sich dadurch Informationen so schnell verbreiten und nicht mehr kontrollierbar ist, dass Menschen sich ihre eigene Meinung bilden –, und nicht zuletzt war die Verbreitung von Büchern verantwortlich für das Erstarken der Reformatoren. Durch den zunehmenden Handel bildete sich eine frühe Form des Kapitalismus, die Schere zwischen Arm und Reich ging auseinander, was zu einer schwierigen sozialen wie wirtschaftlichen ­Situation führte.
Inmitten dieser aufgewühlten Zeiten agierte Cromwell als mächtiger Politiker und Stratege. Er gilt als Architekt der englischen Reformation und als Modernisierer des Staates, er schaffte die juristische Grundlage für die Scheidung zwischen Henry VIII und Katharina von Aragon, er ermöglichte seine Wiederverheiratung mit Anne Boleyn und später ihre Hinrichtung. Sein steiler Aufstieg und sein tiefer Fall – zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die drei Romane, und so sehr er ein Machtpolitiker ist, ein Taktiker, ein Profiteur, einer, der über Leichen geht und Menschen wie Schachfiguren opfert, so sehr verblüfft es uns, wie viel Sympathie wir für ihn gewinnen. Dies gelingt nicht zuletzt durch die sehr geschickte Erzählhaltung Mantels – wiewohl wir hier keinen Ich-Erzähler haben, fühlt es sich genau so an. Wir sind nah dran an ihm, denken mit ihm, fühlen mit ihm und sehen seine vielen liebevollen und emphatischen Seiten – in Bezug auf seine Familie, junge Männer, die er fördert, wo er selbst nie gefördert wurde, in seiner Solidarität zu Kardinal Wolsey, zu einem Zeitpunkt, als dieser schon jeden Einfluss verloren hat.
Es ist ein klassischer, Shakespearscher Stoff, eine komplexe und brutale Welt aus Intrigen, Ränken und politischem Taktieren. Ungeheuer gescheit und brillant erzählt Mantel von einer unruhigen und ungewissen Zeit, viele Jahrhunderte vor der unseren, und doch scheinen die Themen zeitlos und lehrreich für unsere eigene, in der gerade auch so vieles ungewiss scheint und unruhig. Diese zahlreichen Figuren, die historisch belegt sind, derart plastisch wieder­auferstehen zu lassen, zu den Fakten, die wir kennen, die Geschichten zu erzählen, mit leichter Hand, mit Humor, mit Weisheit, das ist große Kunst.
Es ist alles relativ. Was heute einen Bikini füllt, wäre damals eine Lachnummer, es mag regnen, in London regnet es noch mehr, wenn wir panisch unsere Urlaubstage planen, reicht ein Blick auf Cromwells Tagespensum und wir denken: Ausruhen ist auch schön. Und lesen. Cromwell selbst ist froh, wenn er einmal in Ruhe lesen kann. Und wir sollten das auch sein. Faktor Masse mal Faktor Eskapismus ergibt einen guten Sommer. Es ist eine einfache Rechnung. Und Mantel ihr erfreuliches Ergebnis. 

Hilary Mantel
Spiegel und Licht
Roman
1104 Seiten
ISBN: 978-3-8321-9724-7
Dumont 2020
Teilen auf:
Facebook Twitter