Buchbesprechung
Ein Ziel ist auch nur eine Etappe
Von Verena Rossbacher
Ein Buch für den Herbst muss her, dachte ich, etwas, was sich leicht und süffig liest, trotzdem gescheit genug ist, um einen nicht zu ärgern. Ein Buch, das dem Problemwort „November“ seine Schärfe nimmt, das diesen so ungeliebten Monat in einem ganz neuen Licht erscheinen lässt, einem Leselicht nämlich. Der November ist nicht mehr so schön bunt wie der Oktober und noch nicht so superweihnachtlich wie der Dezember, der November kommt auf der Topliste der Monate immer am Schluss, dabei hat er seine ungeschlagenen Vorteile: Im schön bunten Oktober muss man dauernd hinausspringen und die Natur genießen, im Dezember immer backen und basteln – von den Pflichten des Sommer- und Wintersports in den übrigen Monaten gar nicht zu reden –, im Frühling werkelt man von früh bis spät im Garten oder bedauert, keinen Garten zum Werkeln zu haben. Der November allein ist der perfekte Lesemonat, und er verdient es, mit Büchern gefüllt zu werden, die einen hoffen lassen, er möge niemals enden und in einen weihnachtlichen Dezember entlassen. Der ist nämlich gar nicht so super, weil vor lauter Backen und Basteln kommt man nicht mehr zum Lesen.
Zum Beispiel zum „Machandel“ lesen. Die Autorin Regina Scheer, 1950 in Ostberlin geboren, arbeitete lange als Journalistin und Historikerin, bevor sie mit „Machandel“ ihren ersten Roman veröffentlichte.
Machandel ist einerseits ein fiktiver Ort in Mecklenburg, wo ein großer Teil der Geschichte spielt, es ist aber zugleich das niederdeutsche Wort für Wacholder, der in der dortigen Gegend häufig vorkommt.
Hauptperson des Romans ist Clara, die 1985 mit ihrem Mann und ihrem Bruder Jan erstmals nach Machandel kommt und einen heruntergekommenes altes Häuschen erwirbt und fortan als Sommerhaus nutzt. Zusammen mit ihren beiden Kindern verbringen sie von nun an die Sommermonate und auch sonst die meisten Wochenenden dort und tauchen nach und nach in die Geschichte des Dorfes und damit, ganz unvermutet, auch in ihre eigene Familiengeschichte ein. In diesem Dorf, in dem sich im Kleinen so viel von den großen Geschehnissen der letzten Jahre und Jahrzehnte Deutschlands verstehen lässt. „Alles, was geschehen kann, ist auch in Machandel geschehen“, sagt Emma, eine der Erzählerinnen des Buches.
In Rückblenden und über fünf verschiedene Perspektiven setzen sich für den Leser die einzelnen Teile zu einem komplex und sehr geschickt konstruierten Mosaik zusammen, das die Spanne zwischen den 1930er Jahren bis hinein in die Neunziger nach der Wende umfasst. Neben Clara selbst ist es ihr Vater Hans Langner, der erzählt – ein hoher Parteifunktionär und langjähriger über-zeugter Kommunist, der während der Zeit des Nationalsozialismus ob seiner politischen Gesinnung in verschiedenen Konzentrationslagern interniert war; Natalja, eine Weißrussin, die als Ostarbeiterin nach Machandel kam und zusammen mit ihrer Tochter auch nach der Repatriierung hier blieb; ein Jugendfreund Claras und Jans namens Herbert – wie sie beide ebenfalls in der Opposition aktiv tätig; sowie schon erwähnte Emma, die als junge Frau in den vierziger Jahren nach „Machandel“ kam. Durch diese klug gewählten Perspektiven wird jede Zeit vielschichtig beleuchtet und wie bei einem Krimi folgt man atemlos den einzelnen Stimmen und das Verbrechen – oder vielmehr müsste man sagen: die vielerlei Verbrechen, die diese Landschaften gesehen haben – falten sich vor einem auf. Man versteht, welche Verheerungen diese „verwahrlosten“ Jahre in den Menschen angerichtet haben, und wie die Idylle dieser Gegend täuschend ist – und das ist sie auch für Clara. Sie, die sich mit ihrer Familie hierher flüchtete, um möglichst unbehelligt zu sein von den täglichen Schwierigkeiten, die einem dieser Staat macht, stellt fest, dass sie auch hier von den kräftezehrenden Auseinandersetzungen der Vorwendezeit in der DDR eingeholt werden. Und die Wende ist keineswegs das lang ersehnte Ziel, die Erfüllung aller Hoffnungen. Es ist für Clara und die anderen Protagonisten nur eine weitere Etappe, die neue Hürden und neue Fragen mit sich bringt, ein Zerbrechen von Illusionen. „Erst da begriff ich, dass unsere Träume sehr verschieden gewesen waren“, sagt Clara rückblickend auf diese Zeit.
Das klingt alles sehr melancholisch, und das ist es auch. Machandel passt damit sehr gut in die Mecklenburger Landschaft, in der es spielt – sie ist märchenhaft und seltsam verträumt, sie hat eine unbestrittene Melancholie und ist dabei bezaubernd und schön, wenn man sie durchwandert. Zum Beispiel im nächsten Monat dann, wenn es so schön bunt ist und es wieder heißt, rund um die Uhr die Natur zu genießen, bevor man sich endlich wieder zu seinen Büchern zurückziehen kann.
Regina Scheer
Machandel
Roman
480 Seiten,
ISBN: 978-3-328-10024-9,
Originalverlag: Knaus, München 2014