Buchbesprechung

Von Verena Rossbacher

Das Glück der späten Übersetzung

Gewiss, wir haben uns an dieser Stelle schon ausführlich über Jane Gardams ungeheures Können ausgelassen, ausführlich, aber auch hinreichend? Keineswegs. Mit jedem Buch von ihr, das ins Deutsche übersetzt wird (spät genug! Dieses hier erschien im englischen Original 1985), das man hingerissen liest und betrübt weglegt, weil es schon wieder zu Ende ist, zieht folgender Satz wie ein mahnendes Spruchband an einem vorbei: Man sollte sich mal wieder über Jane Gardams ungeheures Können auslassen.
Jane Gardam, 1928 in Yorkshire geboren, begann mit Anfang Vierzig erst zu veröffentlichen und eroberte, wie man so sagt, ihr Publikum im Sturm. Sie wird als alles Mögliche bezeichnet, als Grande Dame der Literatur, als IT-Girl der Literatur, als Old Lady der Literatur, sie ist Officer des Ritterordens – was immer das bedeuten mag –, und dies alles will irgendwie einfach der Tatsache gerecht werden, dass sie ein herrliches Buch nach dem anderen schreibt und man hofft, dies möge noch lange so bleiben.
Robinsons Tochter spielt 1904 – kurz nach dem Ende der viktorianischen Ära – und seine Protagonistin heißt Polly Flint. Sie gesellt sich problemlos zu der Reihe der großartigen, lustigen, klugen und exzentrischen Frauenfiguren, an denen es der Literatur insgesamt mangelt, der englischen allerdings weniger. Jane Gardam selbst füllt mit jedem neuen Buch problemlos wieder einen Platz in dieser Riege – dieses Mal also Polly Flint.
Ihre Mutter ist tot, ihr Vater Kapitän, und so lebte sie schon bei diversen Pflegefamilien, ehe sie von ihrem Vater in das gelbe Haus am Meer gebracht wird, zu ihren bigotten Tanten. „Es war natürlich keine Rede davon, mich liebzuhaben…
Nach den dunklen, heruntergekommenen Jahren war es schön, mit Güte bedacht zu werden.“
Sie wird nicht gerade verwöhnt hier, aber sie ist robust und merkwürdig eigenständig, und, kaum bemerkt von uns Lesern und ihren Tanten, entwickelt sich mit den Jahren ein selbständiger, ja, nachgerade rebellischer Charakter, der spätestens dann offenkundig wird, als sie konfirmiert werden soll. „Nein.“ – „Aber mein liebes Kind, warum das denn nicht?“ – „Ich… Einfach nein, danke.“ – „Aber warum denn bloß nicht?“ Ich wusste nicht, warum denn bloß nicht, aber ich wusste, dass die Antwort nein war.
Sie beginnt, sich durch die umfangreiche Bibliothek zu arbeiten, sie liest Austen und Elliot und die Brontës und nicht zuletzt Defoe, dessen Robinson Crusoe zu ihrem wichtigsten literarischen Begleiter wird. „Ich glaube, ich bin einfach unzufrieden veranlagt. Crusoe war so vernünftig. Und so fantasielos. Er sortiert einen. Ich liebe ihn.“
Robinsons Tochter ist eine Hommage an die Literatur im Allgemeinen und gewährt einen Einblick in Gardams eigene Poetologie – Robinson Crusoe insbesondere begleitet die Protagonistin über ihr ganzes Leben hinweg. Es werden die 88 Jahre der Polly Flint erzählt, ihr Aufwachsen und ihr Lesen, ihre Ausflüge in die Upper Class und die Künstlerkreise, ihre ersten Verliebtheiten und ihre Depression, vor allem aber ihr langsamer aber schlussendlich erfolgreicher Weg in ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben. Und über all diese Jahre liest sie Robinson Crusoe wie eine metaphysische Offenbarung, sie findet sich in ihm wieder in ihrer Rolle als Frau – ähnlich eingeschränkt wie Robinson auf seiner Insel –, sie richtet sich auf an seinem Langmut, seiner Ausdauer, seiner „liebevollen Selbstanalyse“. Und am vielleicht tiefsten Punkt ihres Lebens verheddert sie sich vollständig in ihm, als sie beginnt, ihn in diverse Sprachen zu übersetzen und als „spirituelle Biografie“ zu analysieren. Und da, als sie ihr Unglück wirklich auslotet, trinkend, wunderlich und offensiv schlampig, schafft sie es, sich selbst zu retten und ihrem Leben eine weitere, unerwartete Facette hinzuzufügen, indem sie einen Beruf ergreift und höchst unvermutet zu zwei Kindern kommt.
Denn es ist nicht nur das Leben der Polly Flint, das hier erzählt wird, wie nebenbei ereignet sich Geschichte. Der Erste und der Zweite Weltkrieg, Freunde, die im Krieg fallen, die Industrialisierung, die mit immer neuen Bauten am Strand näher rückt, in der Ferne und plötzlich ganz nah die Verbrechen des Holocaust.
Ist dies also ein schwieriges, gar schweres Buch? Mitnichten. Kaum einmal gelingt es einem Autor, so witzig, so lässig, so unbekümmert über die komplizierten Untiefen eines Lebens zu berichten wie Jane Gardam. Hoffentlich also denken wir selbstsüchtig, hoffentlich gibt es noch eine Menge Bücher von ihr, die, viel zu spät, ins Deutsche übersetzt werden. 

Jane Gardam
Robinsons Tochter
Roman
320 Seiten,
ISBN: 978-3-446-26783-1, 2020
Hanser Berlin
Verlag


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