Das Wissen der Alten
Ältere Ureinwohnerin in Manaus, Amazonas, Brasilien
Medizinisches Wissen aus dem Regenwald:
Ein bedrohtes Erbe
Von Anna Greissing
Indigene Bevölkerungsgruppen, die heute noch die großen Regenwälder unseres Planeten bewohnen, haben ein umfangreiches, historisch gewachsenes Wissen über das sie umgebende Ökosystem und den medizinischen Wert von Flora und Fauna. Die Heilmethoden, die sie anwenden, folgen ganzheitlichen Ansätzen, die Körper, Geist und Seele als Einheit und in enger Verbindung zur Natur und dem Universum betrachten. Auf Basis dieses Weltbilds, das den Menschen nicht getrennt, sondern als Teil und abhängig von der Natur erkennt, haben es indigene Gemeinschaften besser als industrialisierte Gesellschaften verstanden, die Ressourcen des Walds nachhaltig zu verwenden und seine Artenvielfalt zu erhalten.
Dieses Wissen, das mündlich über Generationen hinweg weitergegeben wurde, droht heute zu verschwinden. Grund dafür ist die fortschreitende Zerstörung der Regenwälder und der Verlust an Biodiversität, vielmehr aber noch die Veränderung der Lebensweisen junger Indigener aufgrund globaler Einflüsse und dem damit verbundenen Verlust an Sprachen. Ein Forschungsteam vom Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich hat in einem kürzlich durchgeführten Forschungsprojekt aufgezeigt, wie sehr indigene Kenntnisse über Heilpflanzen mit den jeweiligen Muttersprachen verknüpft sind. Dazu haben sie 236 indigene Sprachgruppen in drei der weltweit bedeutendsten Hotspots für Biodiversität in Nordamerika, dem nordwestlichen Amazonasgebiet und Neuguinea auf ihr medizinisches Wissen untersucht. Insgesamt registrierten sie knapp 3.600 Pflanzenarten und rund 12.500 Methoden, diese im Rahmen von Behandlungen anzuwenden. Das Erstaunliche daran: mehr als 75 Prozent letzterer waren nur einem indigenen Volk bekannt und damit nur in einer Sprache verfügbar. Das zeigt, wie stark in den untersuchten Gebieten die Kenntnisse über Heilpflanzen an eine bestimmte Sprache geknüpft sind: stirbt diese aus, geht auch das Wissen über die heilende Wirkung verloren, auch dann, wenn die jeweiligen Pflanzen selbst nicht vom Aussterben bedroht sind.
Sprache als Speicher des Wissens
Nach Angaben der UNESCO stirbt statistisch gesehen alle zwei Wochen eine Sprache aus. Während heute rund die Hälfte der Weltbevölkerung eine der elf Hauptsprachen spricht, sollen von den 7.400 bekannten und gesprochenen Sprachen bis zum Ende des Jahrhunderts gut ein Drittel ausgestorben sein. Dazu gehören vermutlich genau die kleinen Sprachgruppen indigener Völker, die heute noch das Wissen über Heilpflanzen konzentrieren. Es sei demnach dringend notwendig, jetzt Maßnahmen zu setzen, um diese Sprachen, die Pflanzenarten, und das damit verknüpfte medizinische Wissen zu dokumentieren, bevor es zu spät ist, sagen die Forscher der Uni Zürich. Entscheidend wären groß angelegte, partizipative Projekte. Die UNO hat die kommenden Jahre (2022-2032) zur „Internationalen Dekade der indigenen Sprachen“ erklärt, um auf die kritische Situation aufmerksam zu machen. Inwieweit zum Beispiel Datenbanken, wie das digitale Humboldt-Sprachenarchiv, das 2021 zur Dokumentation bedrohter Sprachen in Berlin gegründet wurde, tatsächlich dazu führen können, die Kenntnisse über Heilpflanzen und -methoden indigener Gruppen für zukünftige Generationen auch außerhalb von deren Lebenswelt zu bewahren, ist noch ungewiss. Außerdem stellt sich die Frage, wer von dem traditionellen Wissen letztlich profitieren wird.
Dabei könnte das traditionelle Heilwissen indigener Gruppen gerade für die Schulmedizin von großer Bedeutung sein. Universitäten, Forschungszentren, aber auch Pharmafirmen interessieren sich immer mehr dafür. Wissenschaftler schätzen, dass bis zu 90 Prozent aller Pflanzenarten noch nicht auf ihre Substanzen untersucht sein könnten – genau ist das aber nicht auszumachen, da selbst die Schätzungen zu den auf der Erde existierenden Pflanzenarten zwischen zehn und Hundert Millionen variieren. Klar ist, dass nur ein Bruchteil der Arten heute für medizinische Zwecke verwendet wird und das Heilwissen der Naturvölker von der modernen Medizin noch lange nicht ausgewertet wurde. Die Biodiversitäts-Hotspots des Planeten sind daher Quellen für unzählige wissenschaftlich noch unerforschte Wirkstoffe, die potenziell gegen schwere Krankheiten wie Krebs eingesetzt werden könnten. So kommen zum Beispiel die im Madagaskar-Immergrün entdeckten Vinca-Alkaloide seit 1987 erfolgreich gegen Leukämie zum Einsatz und Taxol, ein Wirkstoff, der erstmals 1967 aus der Rinde der pazifischen Eibe isoliert wurde, ist seit 1992 unverzichtbar bei der Therapie gegen verschiedene Karzinome.
Madagaskar-Immergrün
Zieht man in Betracht, dass diese erfolgversprechenden Wirkstoffe gefunden wurden, obwohl laut WWF erst 5.000 der geschätzten 240.000 Gefäßpflanzen vollständig wissenschaftlich auf ihre Eignung als Medikamente untersucht wurden, kann man das noch unerschlossene Potenzial von Pflanzen, aber auch Pilzen, Mikroorganismen oder maritimen Lebewesen für zukünftige medizinische Anwendungen erahnen.
In Kombination mit bestimmten pflanzlichen Wirkstoffen könnten neue hochwirksame, antimikrobielle Medikamente hergestellt werden, was angesichts der wachsenden Anzahl an multiresistenten Keimen, gegen die kein bekanntes Antibiotikum hilft, sogar immer drängender wird. Pflanzliche Arzneimittel, also Phytopharmaka, ermöglichen zudem die Sicherstellung einer Therapie-Vielfalt. Vor allem manche europäischen Wissenschaftler fordern daher die Errichtung staatlich finanzierter Lehrstühle sowie die stärkere Unterstützung universitärer Forschungsaktivitäten auf dem Gebiet der Phytopharmaka.
Bioprospektion: Modelle der Teilhabe der lokalen Bevölkerung an der Arzneimittelproduktion
Zur Vermeidung postkolonialer Ausbeutungspraktiken, bei denen sich multinationale Konzerne fremder Ressourcen bemächtigen, ist es wichtig, die Vermarktung bereits bekannter, aber auch noch unentdeckter Wirkstoffe durch Pharmafirmen vorab in Form von Verträgen zu regulieren. Das soll garantieren, dass die eigentlichen Urheber des medizinischen Wissens an den Gewinnen aus dem Arzneimittelverkauf beteiligt werden. Im Fall des vorhin erwähnten Wirkstoffs des Madagaskar-Immergrüns, mit dem der US-Pharmakonzern Eli Lilly Millionengewinne machte, wurde dies verabsäumt, das Land und die Bevölkerung Madagaskars gingen leer aus. Heute sind durch verschiedene Vereinbarungen und völkerrechtliche Regularien, wie das 2010 gezeichnete Übereinkommen über die biologische Vielfalt und das darin enthaltene „Protokoll von Nagoya“ (das den Zugang zu genetischen Ressourcen und deren Nutzung regelt) die Voraussetzungen für eine gerechte Aufteilung der Gewinne aus Bioprospektion auch unter der lokalen Bevölkerung gegeben.
Costa Rica ist eines der ersten Länder, das in diesem Zusammenhang erfolgreich ausgehandelte internationale Abkommen schuf. Mithilfe eines eigens dafür ins Leben gerufenen Instituts für Biodiversität (INBio) gelang es dem Land, die Rahmenbedingungen für die Suche nach neuen Wirkstoffen mehrerer Pharmakonzerne in den Regenwäldern der Insel zu regulieren, um eine Beteiligung für Land und Bewohner an der Wertschöpfung zu garantieren. So verschlüsselten Mitarbeiter des Instituts die für Konzernlabors bestimmten Proben mit einem Code, sodass ihre Herkunft nicht erkennbar war. Wollten die Konzerne mehr davon, mussten sie sich an die Costa Ricaner wenden. INBio bildete mit den Einnahmen Einheimische zu Pflanzensammlern aus und investierte massiv in den Naturschutz der Insel.
Die Notwendigkeit, die tropischen Regenwälder und das traditionelle Heilwissen ihrer Einwohner anzuerkennen und zu bewahren, geht zudem über den reinen Nutzen für zukünftige medizinische Anwendungen hinaus: In Ländern wie Ghana oder Belize erfolgt die medizinische Versorgung der ländlichen Bevölkerung fast zur Gänze durch lokale Heiler, die traditionelle Methoden anwenden. Wenn die Pflanzenarten und das Wissen über ihre Wirkungen und Anwendungsformen nicht mehr an die jungen Generationen übermittelt werden, könnte das gravierende Folgen haben für die gesundheitliche Versorgung von Millionen von Menschen. Und letztlich weiß die Wissenschaft heute auch um den Zusammenhang zwischen Verlust von Artenvielfalt und den zunehmenden Ausbrüchen von Infektionskrankheiten und Pandemien.
Institut für Biodiversität (INBio) in Santo Domingo de Heredia (Costa Rica)
Für den globalen Erhalt der Biodiversität und die zukünftige Gesundheit der gesamten Weltbevölkerung spielen die noch intakten Tropenwälder als oft letzte große Inseln unberührter Landoberfläche daher eine zentrale Rolle. Die indigenen Völker, die sie bewohnen, und dessen der Natur gegenüber respektvollen Lebensweisen zu schützen, ja vielleicht sogar in Teilen zu übernehmen, ist wahrscheinlich auch für unser Fortbestehen auf dem Planeten unerlässlich.