Der Fluch der Urlauber

Im Intendente Viertel in Lissabon eröffnete im Jahr 2012 Largo Residências, Hotel, Herberge, Artist-in-Residence-Programm und Café zugleich. Die Idee dahinter lautete, das Viertel zu beleben, mit dem Café einen Aufenthaltsort für die lokale Bevölkerung zu schaffen und durch die touristische Nutzung Kulturprojekte und soziale Initiativen zu finanzieren. Der Mietvertrag wurde 2021 nicht verlängert, das Haus steht nun zum Verkauf. Foto Levente Polyak, Eutropian
Mit der Ausstellung „Über Tourismus“ greift das Architekturzentrum Wien ein
brandaktuelles Thema auf.
Von Nicole Scheyerer
Kein Markusplatz ohne Ticket: Seit Ende April verlangt Venedig von Tagestouristen fünf Euro Eintritt. Jahrelang stritt die venezianische Stadtregierung darüber, wie der gewaltige Besucherstrom eingedämmt werden könnte. 2021 verbannte sie endlich die großen Kreuzfahrtschiffe, die der Lagune vor allem Schmutz und Schäden brachten. Aber auch ohne Cruise-Gäste schippern jährlich noch rund 30 Millionen Besucher über den Canal Grande. Damit rangiert die 50.000-Einwohner-Stadt noch vor Barcelona und Amsterdam auf der Opferliste des sogenannten „overtourism”.
„Über Tourismus“ titelt eine kritische, aber auch unterhaltsame Ausstellung im Architekturzentrum Wien (AzW). Sie ist gestaltet wie eine Ferienmesse, aber ihre acht thematischen Stände präsentieren sowohl die Sonnen- wie auch die Schattenseiten der Reiseindustrie. Bereits 2021 erforschten die AzW-Kuratorinnen Karoline Mayer und Katharina Ritter für die Schau „Boden für Alle“ den Flächenverbrauch hierzulande. „Dabei stolperten wir immer wieder über den Tourismus und uns wurde klar, wie viel Raum Zweitwohnsitze, Chaletdörfer und ähnliche Strukturen verbrauchen“, erzählt Ritter zum jetzigen Folgeprojekt.
Dabei ist der Fremdenverkehr wirtschaftlich weniger bedeutsam als gemeinhin angenommen. Er trägt nur rund fünf Prozent zum österreichischen Bruttoinlandsprodukt bei. Die Ausstellung geht auf nachhaltiges Reisen hierzulande ein, behandelt aber auch internationale Beispiele von der Schweiz bis Ecuador und Bhutan. Als Quellen für einen Umdenkprozess dienten den Kuratorinnen Publikationen zum „Degrowth“ (auf Deutsch „Postwachstum“) im Tourismus, also einer Wirtschaftsweise, die das Wohlergehen aller zum Ziel hat und die ökologischen Lebensgrundlagen erhält.
Wie geurlaubt wird, hat sich stark verändert. Bis zum Zweiten Weltkrieg fuhr die „bessere Gesellschaft“ für viele Wochen auf Sommerfrische oder ans Meer, während die Arbeiterschaft erst ab 1919 in den Genuss von bezahltem Urlaub kam. Heute dominieren Städtetrips und Power-Wellness, und das mehrmals im Jahr. Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe sind die größten Dreckschleudern der Reisebranche, und trotzdem expandieren sie, während das Schienennetz vergleichsweise wenig wächst. Die Ausstellung blickt auf Frankreich, wo Inlandsflüge drastisch eingeschränkt wurden. Alternativen zu Flieger und Auto bietet das Reisebüro „Traivelling“, das Fernreisen mit dem Zug organisiert, oder das europaweite Radwegenetz „EuroVelo”. Unter dem Dachverband „Alpine Pearls“ haben sich autofreie Orte zusammengeschlossen und auch der Verbund der „Bergsteigerdörfer“ fördert die Anreise mit Öffis.

Die Schweizer Stiftung „Ferien im Baudenkmal“ rettet historisch wertvolle leerstehende Gebäude vor Verfall und Abriss, indem sie diese behutsam restaurieren lässt und als Ferienobjekte der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Hier beispielsweise das 1901 erbaute Stationsgebäude von Alvaneu. Der Umbau stammt vom Architekturbüro Stefan Wolf (Chur und Sam, CH).
Foto Studio Gataric Fotografie

Der Verein „Schule der Alm“ in Vals, Nordtirol, bietet Grundkurse an, bei denen man vom Sensenmähen am Bergmahd über den Bau von Schrägzäunen die Grundelemente der bergbäuerlichen Arbeit erlernt. Vermittlung, Aufklärungsarbeit und Involvierung Interessierter soll die Aufmerksamkeit auf das Thema des Erhalts der Almen lenken.
Foto Schule der Alm, Vals

Weißensee, eine kleine Tourismusgemeinde in Kärnten, zeigt, dass es von Vorteil sein kann, Entwicklungen bewusst nicht mitzumachen. Heute sind zwei Drittel des Seeufers unverbaut und die Gemeinde profitiert vom nicht vorhandenen Durchzugsverkehr. Foto Katharina Ritter
Was kleine Ortschaften und ihren Ausbau angeht, kann bremsen manchmal Fort-schritt bedeuten. So geschehen im Kärntner Ort Weißensee, der sich gegen neue Straßen und Kraftwerke stemmte und heute mit seinem zu zwei Drittel unverbauten und frei zugänglichen Seeufer punktet. Kein Vergleich zum Wörthersee, wo die öffentliche Hand kaum eingriff, und mittlerweile 80 Prozent der Ufergrundstücke privat und unzugänglich sind.
Schwimmen und Sonnenbaden interessiert das asiatische Publikum, das seit 2012 die 700-Seelen-Ortschaft Hallstatt stürmt, nicht – sie wollen Fotos! Eine TV-Serie aus Korea und eine architektonische „Kopie“ als Luxussiedlung in China zählen zu den Auslösern des Runs auf die kleine Marktgemeinde. Eine Million Menschen im Jahr quetschten sich bis zur Pandemie durch die engen Gassen des Orts. Das 1997 verliehene Prädikat „Unesco-Welterbe“ wurde für die Bewohner von Hallstatt – wie auch für jene von Dubrovnik oder Český Krumlov – zum Fluch. Auf Proteste der „bereisten“ Bürgerinnen und Bürger reagierte die Gemeinde, die finanziell profitiert, nur halbherzig. Auch im Kapitel über Städtetourismus geht die Schau auf die Protestbewegungen ein, die sich etwa in Lissabon gegen die Gentrifizierung traditioneller Arbeiterviertel (Stichwort: Airbnb) wehren.
Schon einmal von „Snowfarming“ gehört? So lautet der Fachbegriff für das Sammeln und Deponieren von Schnee. Ein Foto im AzW zeigt eine Pistenraupe, die ein weißes Band auf einem grünen Berg bearbeitet. Mit Schnee aus dem vergangenen Winter veranstalten die Kitzbüheler Bergbahnen jeden Oktober ihr Ski Opening – selbst bei Wanderwetter mit 20 Grad. Das Ausstellungskapitel „Der Elefant im Raum“ thematisiert, dass der Klimawandel in der hochgradig wetterabhängigen Urlaubsbranche kaum auf dem Tapet steht.
Gibt es ein Leben nach dem Skitourismus? Diese bange Frage verdrängen alpine Touristiker, Liftbetreiber oder Hoteliers offen-sichtlich. „Obergurgl 2100“ titelt eines von vier Zukunftsszenarien, welche die Ausstellung entwirft. Auf einem Bild tummeln sich Badende an einem Gletschersee. Alle Skigebiete unter 2.000 Metern – das sind etwa 45 Prozent – werden dann nicht mehr in Betrieb sein. Muren und Steinschlag stehen zur Jahrhundertwende ebenso an der Tagesordnung wie (Schmelz-)Wassermangel.
Wie könnte ein Tourismus aussehen, der seine Lebensgrundlage fördert anstatt zerstört, lautet die Kernfrage der Schau. Während die Reiseindustrie von rustikal bis exotisch alles im Angebot hat, steht „nachhaltig“ noch kaum auf der Liste. „Über Tourismus“ liefert auch im Begleitbuch eine Fülle an Statistiken und Analysen. Dass es sich bei den darin versammelten Alternativen durchwegs um kleine Unternehmen und Organisationen handelt, macht deutlich, dass touristischer „Degrowth“ noch am Anfang steht. Wie könnte zum Beispiel ein nachhaltiger Besuch von Venedig aussehen?
Über Tourismus
21.3. – 9.9.2024
Architekturzentrum Wien, azw.at