Der Geschmack von Mutters Hand

Von Nina Kaltenbrunner


Wir postulieren: Mutti ist die beste Köchin. Ob sie es tatsächlich ist oder auch nicht, ist dabei irrelevant. Fakt ist, in jeder Familie gibt es mindestens dieses eine Gericht, das niemand so gut zubereiten kann, wie sie. Eventuell noch die Großmutter, aber das war‘s dann auch schon. Nachkochen ist sinnlos, es wird nie genau so schmecken wie bei ihr. Die jeweiligen Speisen divergieren zwar weltweit, eines bleibt diesem Phänomen gemeinsam: es handelt sich um Sehnsuchtsgerichte. Essen ist schließlich ein sehr emotionaler Prozess; Essen ist Erinnerung – an die Heimat, die Familie, die Kindheit und eben auch an die Mutter. Sehnsüchte wie Heimweh manifestieren sich nicht selten in der Lust auf eine dieser Lieblingsspeisen. In der Regel handelt es sich dabei um sehr traditionelle Gerichte, (meist) mit viel Liebe zubereitet und vor allem: selbst, sprich, mit der Hand gemacht. Aber ist das schon das ganze Geheimnis?

Der Mutter-Hand-Geschmack
In Korea ist der Kontakt zwischen Lebensmitteln und den Händen der Köchin ein wesentlicher Bestandteil der Küchentradition. Es gibt dafür sogar einen eigenen Begriff: „son-mat“, der wörtlich übersetzt soviel wie „Hand-Geschmack” bedeutet und gerne als Kompliment für besondere Kochfertigkeiten weitergegeben wird. Wer „guten Hand-Geschmack” hat, der beherrscht das Handwerk. Am häufigsten wird „son-mat“ aber in Verbindung mit den Kochkünsten der Mutter angewendet und beinhaltet somit auch weitere (Mutter-) Eigenschaften wie: Nährend, liebend, schützend; „son-mat“ geht mit Termini wie Hinwendung, Fürsorge und dem Gefühl von Zugehörigkeit einher. „Wer mit gutem „son-mat“ aufwächst, trägt ein großes Geschenk in sich”, weiß man auf der ostasiatischen Halbinsel.
Was es mit dem spezifischen Geschmack, beziehungsweise dem Mythos dieser „Mutter-Küche“ tatsächlich auf sich hat, wollte die koreanische Künstlerin Jiwon Woo ganz genau wissen. Für ihre interdisziplinäre Arbeit „son-mat – Mother’s Hand Taste” ist sie dabei den komplexen Zusammenhängen zwischen Tradition, Genealogie, Mikrobiologie, Immigration und jener „unsichtbaren, persönlichen Note”, die von der kochenden Mutter in die Speise übergeht, nachgegangen.

„Je mehr man mit Handkontakt arbeitet, desto mehr von der eigenen Person überträgt sich auf die Speise,” ist Peter Kubelka, Österreichischer Filmemacher und Künstler, überzeugt.
„Wenn also unsere Mutter mit ihren Händen Teige knetet, Strudel zieht oder Knödel rollt, überträgt sie ihre Persönlichkeit auf die Speisen, die wir, von klein auf essen und lieben. Es sind die ersten kulinarischen Erfahrungen, die wir machen, das konditioniert den Geruchs- und Geschmackssinn entscheidend und prägt unsere späteren kulinarischen Vorlieben.“

„Was aber befindet sich tatsächlich auf der Hand der Mutter, das den Geschmack ihrer Speisen so einzigartig und unvergesslich macht?“, fragt Jiwon Woo und nimmt auch die Bakterienflora, die sich auf der Hand befindet, ganz genau unter die Lupe.

Bis zu zehn Millionen Bakterien leben im Schnitt auf einem Quadratzentimeter menschlicher Haut. Amerikanische Forscher haben über 4.700 Bakterienarten identifiziert, die die Handinnenflächen besiedeln. Jeder Mensch trägt bis zu 150 verschiedene Arten auf seinen Händen. Die Zusammensetzung dieser Bakteriengemeinschaften divergiert von Mensch zu Mensch, sogar von Hand zu Hand: 83 Prozent der Bakterien auf der einen Hand eines Menschen kommen nicht auf seiner anderen vor.

Die Visualisierung des Unsichtbaren
Dafür wählte Woo vier koreanische Drei-Generationen-Haushalte aus, bestehend aus Großmutter, Mutter und Tochter, die an vier verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Essgewohnheiten (Korea, Japan, USA und Niederlande) und in acht verschiedenen Haushalten leben. Den gemeinsamen kulinarischen Nenner bildet Makgeolli, ein fermentiertes Getränk mit 1.700-jähriger Geschichte, das aus gekochtem Klebreis, Wasser und der Starterkultur „Nuruk“ hergestellt wird. Zu Beginn wurde allen zwölf Teilnehmerinnen gleichzeitig ein Satz Handbakterien (Hefen) entnommen. Danach bereitete jede von ihnen ihr eigenes Makgeolli zu. Nach dem Kochen wurde der zweite Satz Handbakterien genommen und gemeinsam mit den Speisen gesammelt. In Kooperation mit der Universität Utrecht wurden die Handpilze anschließend kultiviert, gereinigt, identifiziert und zwischen den Haushalten, Generationen und dem Zeitpunkt der Probenahme verglichen. Dabei zeigten sich bei drei der vier Familien starke Ähnlichkeiten und eine Kontinuität der Handbakterien – unabhängig vom geografischen Standort der Familienmitglieder. In einem weiteren Schritt wurden die unsichtbaren Organismen, die auf den Händen der Probandinnen leben, in unterschiedlichen Formen und Dimensionen visualisiert und somit durch Jiwon Woo als künstlerisches Material angeeignet.

Die „son-mat-Maschine“
Basierend auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen dieser Studie entwickelte die Künstlerin im Anschluss eine vierteilige „Hand-Infektions-Maschine”, mit deren Hilfe man das „son-mat“ einer Person erfassen, reproduzieren, konservieren, und damit – an ein und demselben Gerät – Makgeolli zubereiten kann. „Ich stellte mir dabei vor, so das son-mat meiner Mutter jederzeit auf meine eigenen Hände übertragen zu können, wenn ich den Geschmack ihres Essens vermisse“, lautet der poetische Ansatz der Künstlerin dazu. Sich die Hände mit dem „son-mat“ der Mutter zu benetzen und anschließend, wie von Zauberhand die Lieblingsgerichte aus der Kindheit zubereiten. Die Sehnsuchtsküche im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit – ein Traum oder eher ein Albtraum?

Allemal ein Anlass zur Reflexion über die eigene kulturelle Identität, die Bedeutung der kulinarischen Sozialisation sowie den Umgang und die Weitergabe familiären Erbguts. Auch rückt „son-mat – Mother’s Hand Taste” die Rolle der Hand bei der Bereitung von Speisen erneut ins Bewusstsein. Womöglich ist gerade das der Schlüssel zur Auflösung der eingangs gestellten Frage. Denn Fakt ist: handgemacht schmeckt einfach besser. Schneiden, kneten, mischen, formen – keine Küchenmaschine der Welt kann den Handkontakt mit den Lebensmitteln beim Kochen ersetzen. Die Zeit und die Hingabe, die man einer Speise dabei widmet, manifestieren sich eben auch in ihrem Geschmack. Bakterien hin oder her. 



Für ihre Arbeit „son-mat – Mother’s Hand Taste” wurde Jiwon Woo 2017 mit dem renommierten Bio Art & Design Award ausgezeichnet, zu sehen war sie auch im Rahmen einiger renommierter Ausstellungen (u. a. Ars Electronica, 2018, Linz, und V&A Museum, „FOOD: Bigger than the Plate“, 2019, London).woojiwon.com 


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