Der Haas und die liebe Mutter
Von Verena Roßbacher
Wolf Haas
Eigentum
Roman
160 Seiten, Hanser
ISBN 978-3-446-27833-2,
2023
Bei einem Gespräch über das vorletzte Buch von Wolf Haas – es handelte sich um „Müll“, einen der Krimis aus der Brenner-Reihe – meinte jemand, ihm wäre das zu haasig. Gemeint war damit wohl, Haas würde sein Haas-Sein überstrapazieren und somit zu einem Haas-Überdruss führen. Wahr ist, dass man Haas immer sofort erkennt. Wo Haas draufsteht, ist Haas drin. Ich persönlich finde das gut. Mir ist er nicht zu haasig, der Haas, ich denke, egal, ob es sich um einen der Krimis oder einen der Nicht-Krimis handelt: Haas hat in einem Finger mehr Können als andere in … gerade werde ich unsicher, wie dieses Sprichwort weitergeht und jetzt, wo ich nachschaue, heißt es ganz anders: Sein kleiner Finger ist gescheiter als du mit Haut und Haar. Das passt mir jetzt nicht ganz so gut, wie wenn es etwas mit dem kleinen Finger und Können wäre, aber wenn wir ein bisschen daran herumdoktern, geht es schon irgendwie: Haas kann in einem kleinen Buch mehr als andere in ihrem gesamten Lebenswerk.
In „Eigentum“, dem aktuellen Buch und Nicht-Krimi, erzählt er vom Sterben seiner Mutter. Die Autofiktion ist ja gerade hoch im Kurs und zumeist schaut dabei nichts Gutes heraus, aber vor Kitsch, Dummheit und Sentimentalität bewahrt uns Haas dank seiner Haasigkeit.
Er sitzt neben seiner 95-jährigen Mutter, die in drei Tagen sterben wird. In ihrem Dahindämmern fragt sie plötzlich nach ihren längst verblichenen Eltern und bittet ihn, dort, wo sie jetzt seien, anzurufen, um ihnen mitzuteilen, dass es ihr gut ginge. „Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat meine Mutter mir weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging.“ Er sagt ihr dann aber, dass er angerufen habe, ihnen gehe es auch gut, nur der Vater habe einen Schnupfen. Dabei weiß er schon, als er den Schnupfen erwähnt, dass das ein taktischer Fehler war, mit dem Schnupfen hat er sich in eines dieser heillosen Gespräche verwickelt, aus dem er jetzt nicht mehr herauskommt. „Weil er nie aufpasst!“ ruft die sterbende Mutter, und die beiden werden das Thema nun nach Strich und Faden abhandeln („Hat er Husten auch?“ – „Nein nein. Er ist eh schon auf dem Weg der Besserung“ – „Halsweh?“ – „Was?“ – „Hat er Halsweh auch?“ – „Nein, gar kein Halsweh. Nur ein bisschen Schnupfen. Und der ist auch schon vorbei.“ Und so weiter). Und in dieses Gerangel um das Wohlergehen der längst Verstorbenen flicht sich, geschickt und kaum merklich, die Geschichte dieser Mutter und die Geschichte dieser Familie und dazu allerhand Geschichte Österreichs und überhaupt ziemlich viel Geschichte, was irgendwie auch naheliegt beim Nachdenken über eine Frau, die 1923, ins Jahr der Superinflation, hineingeboren wurde und deren Leben in großer Armut aus „Arbeit Arbeit Arbeit“ und „sparen sparen sparen“ bestand („Meine Mutter war zeitlebens eine Anhängerin der rhetorischen Trias gewesen.“). Es liegt nahe, gewiss, aber da Haas im kleinen Finger gescheiter ist als andere mit Haut und Haar, wird daraus kein peinliches und auch kein betuliches Machwerk über arme Leutʼ zwischen Krieg und Wirtschaftskrise, sondern ein kluges und lustiges und, ja, zärtliches, Buch über all die Unwegsamkeiten eines langen Lebens inmitten einer turbulenten Zeit.
Da sitzt nun der Haas aus dem Buch, der mit dem realen Haas recht viel gemein hat (unter anderem sollte er eigentlich gar nicht hier sitzen, sondern eine Poetikvorlesung ausarbeiten, deren Titel – und: „Das ist ja schon die halbe Miete.“ – er immerhin hat, nämlich: „Kann man vom Leben schreiben“). Und wie er nun so neben der Mutter sitzt und ab und zu mit ihr über den verkühlten, toten Vater redet und dazwischen über die Bauernstrümpfe, die sie als zwölfjährige Magd hat stricken müssen, derweil sie nebenbei die Kühe hütete, wie er über ihre Jahre als Dienstmädchen in der Schweiz nachdenkt und ihr stetes Streben nach einem Grundstück, einem Haus oder zumindest einer Wohnung, nach irgendeinem Eigentum einfach, da kommt er sich vor, als wäre er die externe Festplatte dieser sterbenden Frau. All dies, was sie sonst mit ins Grab – den minimalsten Grundbesitz, den man hieniden erwerben kann – nehmen würde, das speichert sie nun bei ihm ab, alle Erinnerungen und jedes Hadern, jeden Kummer, und insgesamt halt dieses Wüste Stück Zeitgeschichte, das sich innerhalb dieser beinah hundert Jahre so angesammelt hat.
„Eigentum“ ist die vermutlich poetischste Antwort, die man auf die Frage „Kann man vom Leben schreiben“ geben kann und ist damit nicht weniger, als eine Poetikvorlesung sein sollte. In seiner ganzen Haasigkeit denkt der Autor über Sprache nach und ganz lose über dies und das und man merkt später erst, es war gar nicht lose. Nein, weil er im kleinen Finger so irrsinnig gescheit ist, platziert er also unauffällig und allzu geschickt die Topoi, um sie hernach wieder aufzugreifen und weiterzuspinnen – oder zu stricken, wie er viel mehr sagt (die Bauernstrümpfe! Mit den komplizierten Mustern!). Mit wenigen Handgriffen breitet er ein ganzes Leben vor uns aus und wir sehen: Ja eh, man kann davon schreiben. Man kann davon schreiben und hat damit dann nicht nur einen Roman fix und fertig, sondern auch gleich seine Poetikvorlesung erledigt, alles in einem Aufwasch also, zwei Fliegen mit einer Klatsche. In einem einzigen Buch zeigt er, was andere in einem ganzen Lebenswerk nicht hinkriegen, und ich denke, das ist, jawohl!, die halbe Miete. Mindestens!