Detox. Riten der Reinheit

Von Wolfgang Fetz

„Vor fünf Jahren habe ich mit dem Duschen aufgehört.“
Haben Sie sich schon einmal überlegt, was es bedeuten würde, in einem weitgehend eigenschaftslosen Raum zu leben? Ist beispielsweise ein „entgifteter Raum“ ein eigenschaftsloser Raum? Schwierige Fragen. Im Vergleich dazu ist die Vorstellung von Räumen, deren Eigenschaften zumindest radikal heruntergedimmt sind, schon wesentlich leichter nachvollziehbar. Derartige Räume sind nämlich Teil unserer Alltagserfahrung, und zwar völlig unabhängig davon, ob uns das bewusst ist oder nicht. Ohne ständiges „Dimmen“ hätten wir keine Chance zu überleben.

Lachhaft und verräterisch allein schon dieses „runderneuert“, ein Wort, das man üblicherweise für die Überholung von verschlissenen Reifen verwendet.


Wenn ich im Folgenden von Detox spreche, geht es mir um jene Formen von Reinigung/Entgiftung, die dieses Dimmen über ein striktes System von Geboten und Verboten mitregulieren. Entgiften bedeutet in diesem Sinne auch die Negation (Ausleitung) von Eigenschaften oder Zuständen, die man als schädlich, als unrein erachtet. Dass derartige Negation sehr weitgehend sein kann, versteht sich von selbst. Zum Beispiel indem sie den Aggregationszustand Reinheit in den Stand eines allein gültigen Mono-Prinzips erhebt. Schädlich kann es sein, gewisse Nahrungsmittel zu sich zu nehmen oder, je nach System, eben nicht zu sich zu nehmen. Schädlich kann ein bestimmter Sprachgebrauch sein. In diversen Kulturen gilt die Regel, dass der Mann sich nach dem Samenerguss zu reinigen hat, bevor er einer anderen Person in die Augen blickt.
Ungeachtet der Tatsache, dass ich ein Anhänger der Vermischung, der Bastardisierung, also der Unreinheit in einem umfassenderen Sinne bin, halte ich es für unumgänglich, die unterschiedlichen Reinheitsideologien und -strategien (wie übrigens auch jene der Vermischung) strikt auseinanderzuhalten. Es macht ja einen essenziellen Unterschied, ob ich – etwa auf „Sprachreinheit“ bezogen – mit den dahingehenden Überlegungen Ludwig Wittgensteins in seinem „Tractatus“ konfrontiert bin oder mit den unerträglichen Auswüchsen gegenwärtiger Sprachpolitik.


Der Detox-Markt expandiert, die Zahl der Produkte und Angebote multipliziert sich. Dass es sich dabei – selbst in scheinbar seriöseren Ecken – in aller Regel um billige Geschäftsmodelle handelt, ist schwer zu übersehen. Allein was sich auf dem sogenannten Bio-Sektor an Ramsch tummelt, ist oft haarsträubend. Ich erwähne lediglich die wundersam entgiftenden Nahrungsergänzungsmittel. Eine wahre Heilsindustrie. Hält man mir ein Buch unter die Nase, das den Titel trägt: „Die 7-Minuten-Detox-Kur: Natürlich runderneuert in nur 3 Wochen“, dann liegt es auf der Hand, dass mich jemand für dumm verkaufen will. Lachhaft und verräterisch allein schon dieses „runderneuert“, ein Wort, das man üblicherweise für die Überholung von verschlissenen Reifen verwendet. Mitgeliefert wird freilich das Versprechen, dass diese Kur auch geeignet ist, die „Gedanken zu reinigen“. Und das ohne weiteren Aufwand in knapp 2,5 Stunden Nettozeit. Hut ab!
Da lese ich lieber einen Satz wie: „Five years ago, I stopped showering.“ Mit ihm beginnt das Buch „Clean. The New Science of Skin“ des US-Gesundheitspublizisten James Hamblin. Kostet übrigens nicht mehr als eine Packung Detox-Fußpflaster. Die Kollateralschäden unserer Waschhygiene (quantitativer Wasserverbrauch, Verschmutzung von Wasser, nicht oder nur schwer abbaubare Reststoffe in den Körperpflegeprodukten, Verwendung von Palmöl etc.) sind Hamblins Ausgangspunkt für ausgreifende Recherchen zu Körperreinigungsmitteln, ihrer industriellen Herstellung, ihrer Vermarktung. Parallel dazu betreibt er einen Selbstversuch: Nichtduschen als höhere Kunst betrachtet. Sein Fazit: allesamt weitgehend nutzlose Produkte, die mit falschen Versprechungen verkauft werden. Darüber hinaus versichert er, die Sache mit der Ausdünstung auch ohne Duschen in den Griff bekommen zu haben.

Moralische Engführung
Die Detox-Geschichte ist, aus welchen Gründen auch immer, zweifellos eine anthropologische Konstante. Keine Kultur, keine Gesellschaft (zumindest keine, die wir so nennen), die nicht von der Dichotomie rein/unrein zutiefst durchdrungen ist. Und zwar flächendeckend. Sie zieht sich durch alle Lebensbereiche hindurch, und bildet dabei „Moralfronten“ aus, Radikalisierungen von großer Tragweite und Wirksamkeit.
Die „Moralfronten“ sind unterschiedlicher Natur. Das wird Ihnen sehr schnell deutlich, wenn Sie darauf achten, wie oft am Tag und in welchen Zusammenhängen Sie das Wort „rein“ verwenden. Die reine Wahrheit. Im Herzen rein. Reines Gewissen. Reine (saubere) Lebensmittel. Gereinigter Darm. Entschlackter Körper. Reine Luft. Reinen Tisch machen. Unbefleckt. Reine Kunst. Die reine Unschuld. Reine Sprache. Das alles strotzt nur so vor Moral. In solchen gereinigten Zonen kann man leicht auf Trigger-Warnungen verzichten. Warnhinweise sind überflüssig.
Die Konzepte der „Reinheit“ laufen durchgehend auf eine Filterung der Wirklichkeit hinaus. Diese Filterungsleistung, die ich eingangs etwas polemisch mit dem Begriff des „Herunterdimmens“ bezeichnet habe, ist kulturell derart verinnerlicht, dass es uns mitunter schwerfällt, das dahinterstehende moralische Regelsystem herauszulösen. In den wenigsten Fällen legen wir Rechenschaft ab über die parasitäre Verbindung von Filterung/Reinheit und Moral. Die Vorstellung von toxischen Räumen ist für jeden Vertreter der „Reinheit“ ein übler Albtraum. Der toxische Raum ist unkontrollierbar, wuchernd, widersprüchlich, er ist nicht homogen, er ist schmutzig-obsessiv. Der marode Keller, über dem das feine Haus einzustürzen droht. Der in dieser Sub-Welt seinen Lastern nachgehende „Unreine“ ist moralisch suspekt, ein klebriges Subjekt, nicht zumutbar. Insofern ist es unerheblich, ob es sich dabei um einen Duschverweigerer handelt oder um einen, der davon absieht, sich einer Detox-Kur zu unterwerfen. Es ist unerheblich, ob es sich dabei um einen toxischen Mann (dem weder mit Östrogen-Smoothies noch Detox-Fußpflastern zu helfen ist) oder eine toxische Sprache handelt.

Sauberes Essen, sauberes Wasser, saubere Luft
Sprache, Religion und Nahrungsaufnahme gehören sicherlich zu den Paradezonen, in denen sich Reinheitsgebote und Verbote artikulieren. In allen diesen Bereichen ist das Gelände stark abschüssig und ist als solches gesellschaftlich sanktioniert.
Keine Frage, niemand, weder Tier noch Mensch, will sich freiwillig vergiften. Also ging es darum, zwischen giftig (ungenießbar, unrein) und ungiftig (genießbar/rein) unterscheiden zu können. Ein langer Weg. Aber es gab noch eine andere Ebene, die sukzessive eine zentrale Rolle zu spielen begann. Sie hatte weniger mit dem Problem der Zuträglichkeit im Sinne von Überleben oder nicht zu tun, sondern mit „angelagerten“ Geschichten, Zuschreibungen, Theorien. Wenn etwa der spätstoische Philosoph Musonius den Standpunkt vertritt, dass fleischliche Nahrung „schwerer verträglich“ ist und „das Denken verlangsamt“, „denn das Aufdampfen dieses unreinen Stoffes verdunkelt die Seele“, dann ist das so ein Fall. Derartiges kann man noch heute, 2.000 Jahre später, in adaptierter Formulierung ohne Umstände in den verschiedensten Ess-Bibeln finden.

Frei und glücklich kann nur der sein, der entgiftet ist. Man mag es glauben oder nicht.


Kaum waren die letzten Hungersnöte in Deutschland überstanden, kaum hatte sich, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die Fleisch- und Agrarproduktion deutlich gesteigert, regte sich in gewissen Kreisen der Widerstand gegen diese Entwicklung. Ein Verdachtsmoment machte sich breit: Das alles ist doch nicht mehr „sauber“. Dieses „alles“ beschränkte sich nicht nur auf den industriell organisierten (und deshalb effizienten) Nahrungsmittelsektor, sondern bezog sich auch auf die entwurzelte, degenerierte, korrupte Lebensform des sogenannten „modernen“ Menschen. Wie sah es mit dem Liebesleben aus, wie mit der Körperlichkeit, welche Ernährungsform ist vorzuziehen? „Unternehmen Lebensreform“ avancierte zum Stichwort für Aussteiger, Esoteriker, Naturheiler, Sozialrevolutionäre, Fanatiker und Künstler. Und über all dem thronte einmal mehr die „neue Reinheit“: ein schillerndes, eklektizistisches Panorama des Unverfälschten, Authentischen, Ursprünglichen. Bis heute steht dafür beispielhaft die Ascona-Fraktion, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Kanton Tessin, am Monte Verità, dem Berg der Wahrheit (der in Wahrheit ein Hügel ist), Stellung bezog. Eine bunt zusammengewürfelte Schar an Individualisten, die den unterschiedlichsten Lebensreformprojekten nachhing. Ein stark verbindendes Moment war sicherlich der Vegetarismus als zentrales Motiv gesunder Lebensführung (das, was man im klassischen Sinn als Diätetik verstand). Die Entgiftung von Körper und Geist, ein Appell, um den herum sich die Lebensinteressen gruppierten. Frei und glücklich kann nur der sein, der entgiftet ist. Man mag es glauben oder nicht.

Diskrepanz
Man staunt und es macht stutzig, wenn man sich die Zahl und Art der Publikationen zum Thema Detox etwas genauer ansieht. Es besteht nämlich ein extremes Missverhältnis zwischen Publikationen, die sich seriös mit der Geschichte der Reinheit auseinandersetzen, und zwar in allen Schattierungen, die der Begriff bietet, und solchen, die einen medizinischen oder biologischen Hintergrund haben. Allein was sich im Gefolge von Mary Douglas‘ „Purity and Danger“ (1966) entwickelte, füllt inzwischen Regale. Sowohl in religionsgeschichtlicher, anthropologischer oder philosophischer Hinsicht zählt das Phänomen der Reinheit (und des Schmutzes: Stichwort „Dirty Theory“) längst zu den prominenteren Gegenständen.


Umso mehr fällt auf, dass es keine (!) validen medizinischen Studien zu „Detox“ gibt. Diese Auslassung erscheint mir signifikant. Mit anderen Worten: abgesehen von Werbetexten, denen der inhaltliche Unsinn, die Wissenschaftsresistenz ins Gesicht geschrieben ist, bleiben wir nackt. Ich für meinen Teil kenne jedenfalls keinen ernstzunehmenden Mediziner, für den das Wort „Schlacke“ eine Kategorie darstellte. Stammt es doch aus dem Bereich der Schwerindustrie, und die ist ja nicht unbedingt sein Arbeitsgebiet.


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