Die Erfindung eines Klassikers
In den 1990er Jahren schneiderten die Schweizer Brüder Daniel und Markus Freitag erstmals aus alten LKW-Planen neue, unverwüstliche Taschen. Heute haben ihre Recycle-Unikate weltweit Kultstatus erreicht. Seit 2003 steht eine Freitag-Tasche auch in der Designsammlung des Museum of Modern Art in New York. Von Babette Karner
1993 waren die beiden Schweizer Designer Markus und Daniel Freitag auf der Suche nach einer Tasche, in der sie ihre Entwürfe sicher transportieren konnten, auch auf dem Fahrrad. So robust und praktisch wie die Umhängetaschen der legendären New Yorker Fahrradkuriere sollte sie sein. Die Idee kam beim Blick aus dem Wohnungsfenster: Markus lebte zu dem Zeitpunkt in einer WG an der Züricher Hardbrücke, auf der tagein tagaus lange, bunte Lastwagen-Kolonnen auf der Transitstrecke vorbeirauschten. Funktionell, wasserabweisend, robust, dazu farbenprächtig und einzigartig? LKW-Planen! Aus einer gebrauchten Plane, die sich die beiden Brüder bei einer Spedition besorgten, schneiderten sie im Wohnzimmer eigenhändig die ersten selbstentworfenen Exemplare. Kurze Zeit später ging die Tasche in Produktion.
Schnell entpuppten sich Freitag-Taschen als das perfekte Accessoire für den Großstadt-dschungel. Keine Tasche glich der anderen, und jeder konnte den eigenen Lieblingsstil finden: Glänzend oder „destroyed“, quiet-schbunt oder – ganz schwer zu kriegen! – kohlrabenschwarz. Das „Ur-Modell“, die klassische Kuriertasche, gibt es heute noch. Unter dem Namen F13 TOP CAT findet man sie in einem Sortiment, das inzwischen von Rucksäcken über Einkaufs-, Hand- und Reisetaschen, bis hin zu Hüllen für Handys und Laptops so ziemlich alles umfasst, was man tragen kann.
Heute werden die LKW-Planen in Zürich von 150 Beschäftigten zerlegt, mit gesammeltem Regenwasser gewaschen und von Hand zugeschnitten. Bis auf das Zusammennähen der Taschenteile, das in Portugal, Tschechien, Bulgarien und Tunesien erfolgt, findet die gesamte Produktion seit 2011 im Gewerbehaus Noerd in Zürich-Oerlikon statt. 450 Tonnen Material werden heute pro Jahr verarbeitet, dazu 18.000 Fahrradschläuche und 150.000 ausgediente Autogurte. 300.000 Taschen werden jährlich in 20 eigenen Läden, online auf der Freitag-Webseite und bei mehr als 400 Händlern weltweit verkauft.
Aber nicht nur die Freitag-Taschen wurden Kult: Der Züricher Flagshipstore, ein 26 Meter hoher Turm aus 17 aufeinander gestapelten Fracht-Containern beim Bahnhof Hardbrücke, beherbergt nicht nur 1.600 Freitag- Unikate, sondern ist längst zu einem geheimen Wahrzeichen der Schweizer Metropole avanciert. Vom Dach aus kann man hier noch immer den LKW-Verkehr auf der Brücke beobachten.
„Typisch Freitag“ und auffallend innovativ sind auch die kurzen Gebrauchsanleitungs-Videos, die es zu jeder Tasche gibt: Gefilmt im Stop-and-Go-Modus zeigen sie bis heute, was so alles in eine Freitag-Tasche passt: Croissants und Schraubenschlüssel, Laptops und Auberginen, Eier und Tischtennisschläger. 2003 erhielt die unverwüstliche Tasche ihren „Design-Ritterschlag“: Seither ist die F13 TOP CAT in der Designsammlung des Museum of Modern Art in New York zu sehen. Der Prototyp dieses Modells ist auch längst ins Züricher Museum für Gestaltung übersiedelt.
Markus und Daniel Freitag.
Foto Roland Tännler
Vom Hype zum Klassiker
Markus und Daniel Freitag, Jahrgang 1970 und 1971, betrieben Recycling zu einer Zeit, als es das eigentlich noch gar nicht gab. Heute sind die Taschen mit ihrer Funktionalität, dem reduzierten Design und den ökologischen Vorteilen ein perfektes Beispiel dafür, wie Nachhaltigkeit funktionieren und rentabel sein kann.
Der Zeitgeist entwickelte sich in den vergangenen drei Jahrzehnten im Sinne der Philosophie der Firma Freitag – nicht umgekehrt. Zwar ist der weltweite Hype um die Freitag- Tasche in den 2010er Jahren etwas abgeflaut, doch die beiden Gründer haben darauf entspannt reagiert. Auch in dem Wissen, dass ihr Produkt längst zum Klassiker avanciert ist. Wie konnte das gelingen? „Ein Produkt muss funktional und die Gestaltung relativ zeitlos sein, damit sie nach ein paar Jahren nicht altmodisch wirkt. Auch die Einmaligkeit ist ein Faktor“, so das Fazit von Markus Freitag in einem Interview zum 25-jährigen Jubiläum der Tasche 2018. „Ein glaubwürdiges Unikat hat das Potenzial, langlebig zu sein. Außerdem ist Nachhaltigkeit ein Element, das etwas zu einem Klassiker machen kann.“
Nachhaltigkeit aus Bastfasern, Leinen und Modal
Sich auf dem Erfolg auszuruhen, kam für die Brüder nicht infrage. 2014 kam Freitag mit neuen, innovativen Produkten auf den Markt. Diesmal waren Nachhaltigkeit und Recycling kein Nebeneffekt, sondern standen von vornherein im Zentrum. „Eigentlich suchten wir nur nach geeigneten Arbeitskleidern für unsere Mitarbeitenden. Dann merkten wir, dass wir nach etwas suchen, was es noch gar nicht gibt – einem robusten, konsequent nachhaltig produzierten und kompostierbaren Stoff, made in Europe, erklären die Gründer. Das neu entwickelte Material F-ABRIC ist eine Textilie aus Bastfasern, Leinen und Modal, das in Europa mit minimalem Ressourceneinsatz produziert wird. Die daraus geschneiderten T-Shirts, Sakkos, Hosen und Overalls sind robust und komfortabel und können am Ende ihres Gebrauchszyklus bedenkenlos dem Kompost anvertraut werden: Denn F-ABRIC ist vollständig biologisch abbaubar.
Weiche Taschen aus PET-Flaschen
Auch bei den Taschen gibt es Neues. Ein weiches, flexibles und nachhaltiges Material, das aus alten PET-Flaschen hergestellt wird, gleicht das einzige Defizit aus, das Freitag-Taschen immer hatten: ihre Steifheit. Der PFC-freie Stoff, also frei von per- und polyfluorierten Chemikalien, der die neue Art von Freitag-Tasche namens Tarp on Pet ergänzt, stammt von der Firma „We aRe SpinDye®“ und besteht zu 100 Prozent aus wiederverwertetem PET. Gefärbt wird dieser mit einer Spinndüsentechnik, bei der das Garn schon während des Spinnens eingefärbt wird. Das benötigt weniger Wasser, Chemikalien und Energie als die herkömmliche Stückfärbemethode.
Der jüngste Streich der Firma Freitag sind Taschen aus nie zum Einsatz gekommenen Airbags. Unter dem Namen F707 STRATOS bekommen Airbags, die die vielen Qualitätsprüfungen nicht bestanden haben, eine zweite Chance als Rucksack für die Stadt. Dass auch das neueste Mitglied der Freitag- Familie einen äußerst sehenswerten, skurrilen Werbeclip erhielt, versteht sich von selbst. Der vom Schweizer Studio „zweihund“ kreierte Film entwirft in typischer Freitag-Manier eine neue Lebenswelt für Airbags, die an die Werke des Appenzeller Künstlers Roman Signer erinnert.
Auch im Marketing hat sich die Firma Freitag dem Recycling verschrieben: Schon seit mehreren Jahren propagiert man am „Kaufrauschtag“ Black Friday den Tauschhandel. Der Onlinestore bleibt geschlossen, und wer auch immer dort landet, wird auf die Taschen-Tauschplattform S.W.A.P. umgeleitet. 2022 kann man erstmals auch offline tauschen: Am Black Friday 2022 wird in allen Freitag-Geschäften zum Taschentausch von Angesicht zu Angesicht eingeladen.