Die Macht der Fiktion
Von Verena Roßbacher
Percival Everett, 1956 in Georgia geboren, Professor für Englisch und Autor von über dreißig Romanen, macht in seinem neuen Buch etwas, was einem immer sofort und unbedingt einleuchtet und dabei nicht zwangsläufig funktioniert, hier aber schon: Er erzählt eine Geschichte, die jeder kennt, aus einer anderen Perspektive.
Percival Everett
James
Roman
336 S., Hanser Verlag
ISBN 978-3-446-27948-3, 2024
In diesem Fall handelt es sich um Mark Twains „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“, einen amerikanischen Klassiker. Wenn es auch vielleicht hilfreich ist, den Originaltext gelesen zu haben, so ist es aber sicherlich keine Voraussetzung für das Verständnis des vorliegenden Buchs.
Es ist eine Geschichte, die im Original von Finn selbst erzählt wird, bei Everett übernimmt nun James, genannt Jim, das Erzählen, und er ist ebenjener Jim aus Twains Geschichte, schwarzer Sklave und Abenteuergefährte Finns. Schon Mark Twains Schaffen darf als klare Position gegen die Sklaverei gelesen werden – Everett erweist ihm in seinem Nachwort auch seinen tiefen Respekt und seine Bewunderung: „Sein [Mark Twains] Humor und seine Menschlichkeit haben mich beeinflusst, lange bevor ich Schriftsteller wurde.“ Jim, der Sklave in dem Haus, in dem Huckleberry Finn aufwächst, soll verkauft werden. Der Junge wiederum fürchtet seinen brutalen Vater, und gemeinsam machen sie sich mit einem Floß auf die Flucht und schippern den Mississippi hinunter. Weitestgehend folgt Everetts Version den Erlebnissen seiner beiden Vorbilder, jedoch, anders als in der Vorlage, ist James/Jim sehr gebildet, er spricht zwar den idiomatischen Sklavenslang, allerdings nur zur Tarnung. Das gibt den Weißen eine weitere Möglichkeit, sich überlegen zu fühlen, was wiederum für das Überleben in dieser Welt unbedingt nötig ist. „Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen“, denn „je besser sie sich fühlen, desto sicherer sind wir.“
Er hat sich in der Bibliothek des Richters selbst das Lesen beigebracht und setzt sich intensiv mit den damals aktuellen philosophischen und ethnischen Diskussionen zur Sklaverei auseinander.
Zwangsläufig entfernt sich die Neuschreibung immer wieder und immer mehr vom Original, man könnte sagen, überall dort, wo Jim für Huckleberry Finn der Statist an seiner Seite war, ist es nun umgekehrt. Wir erfahren, wie Jim diese Reise erlebt, was ihm widerfährt, wenn die beiden getrennt sind, und es ist ein Blick in die Realität schwarzer Sklaven dieser Zeit, und das wird mit der ganzen unvermeidlichen Härte und Brutalität erzählt. Es ist eine verzweifelte Welt ohne Ausweg, es gibt für einen Afroamerikaner niemanden, an den man sich wenden, keinen Ort, an den man sich flüchten könnte, es gibt keine Möglichkeit der Verweigerung, keine Rechte, keine Aussicht auf Besserung. Ein Schwarzer zu sein in den Südstaaten dieser Zeit bedeutete, nicht viel mehr zu sein als ein Tier, eine Ware, die man kaufen und verkaufen konnte. Es gelingt Everett mit seinem erzählerischen Trick großartig, diese dunkle Seite der amerikanischen Geschichte auf ganz neue Weise zu beleuchten, zumal er dann, in dieser großen Hoffnungslosigkeit und Düsterkeit, ein Fenster aufmacht: Er gibt seinem Jim die Fähigkeit zur Wut, ein Gefühl, das er sich eigentlich nicht leisten kann, und, ähnlich wie Quentin Tarantino in „Django Unchained“, wählt er für seinen Protagonisten die Macht der Rache. Jim, der nun James wird, zieht rächend durch die Lande, befreit seine Frau und seine Tochter und weitere Sklaven, und es wird ihm gelingen, in die Nordstaaten vorzudringen, wo er mit seiner Familie ein Leben in Freiheit verbringen kann.
Unrealistisch? Gewiss. Aber da wir alle wissen, wie die Geschichte war und ist, ist die Aussicht auf Selbstermächtigung, auf Hoffnung und auf eine Utopie keine Lüge, sondern ebendas: eine Hoffnung am Horizont, eine Utopie, die oft genug fabuliert werden muss, damit sie wahr wird.
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