Die Spinner von Kutch

Die Kala-Baumwolle wird händisch gesponnen. Foto Vankar Vishram Valji-bhujodi

Eine der ältesten indischen Baumwollsorten wird wiederentdeckt.
Von Claudine Beguine

In der an der Grenze zu Pakistan liegenden Region Kutch, im indischen Bundesstaat Gujarat, wächst die Kala-Baumwolle, die in dörflichen Familienbetrieben handversponnen und zu handgewebten Stoffen verarbeitet wird. Die Pflanze, die sich über Jahrhunderte an die sich wandelnden Witterungsbedingungen angepasst hat, gedeiht mit dem wenigen Wasser, das in der regenarmen Region niedergeht. Sie ist eine der ältesten einheimischen Sorten, womit sie eine Besonderheit im sich rasch verkleinernden indischen Samenpool darstellt. Wie andere alte Sorten ist sie äußerst robust und kommt ohne Pestizide und Düngemittel aus. Aktivistinnen und Aktivisten setzen sich für den Anbau von „desi seeds“ (einheimische Saaten) ein, zu denen auch Kala gehört. Initiativen wie „Khamir Crafts“ sensibilisieren die Öffentlichkeit für die Besonderheit der Kala-Baumwolle im Verbund mit traditionellen Anbau- und Verarbeitungsweisen. Ihr Anliegen hat eine lange Vorgeschichte.

Die ältesten Nachweise von Baumwolle stammen aus Indien

Die Baumwolle ist mit Indiens Glück und Unglück eng verwoben: Textilreste konnten für die Mohendjo-Daro-Zivilisation, die etwa von 2600 bis 1800 v. Chr. bestand, im Indus-Tal nachgewiesen werden, das sich nicht unweit von Kutch befindet. Baumwollsaaten und -fasern sind dort auch schon für zirka 6000 v. Chr. belegt, womit Indien nachweislich die älteste Zivilisation ist, in der die Kulturpflanze Verwendung fand. Der griechische Geschichtsschreiber Herodot berichtet über „wildwachsende Bäume, aus deren Frucht man eine Wolle gewinnen kann, die die Schönheit und Qualität der Schafwolle weit übertrifft“, aus der die Inder ihre Kleider machen. Reisende aus Europa, Persien und China bewunderten die hauchfeinen Tuche aus Bengalen, die aus einer inzwischen ausgestorbenen Baumwollsorte gewonnen wurden. Mit der britischen „East India Company“ stieg „Gossypium“, so der botanische Name der Baumwolle, zum „König“ eines weltumspannenden Imperiums auf. Ohne Baumwolle ist die globale Gewaltgeschichte des frühen Kapitalismus nicht zu verstehen, meint der deutsche Harvard-Professor Sven Beckert in seinem preisgekrönten Buch „King Cotton: Eine Geschichte des globalen Kapitalismus“ (2014).

Hauptinteresse der britischen Kolonialisten und Geschäftsleute ist neben den billigen Arbeitskräften vor allem der Rohstoff, auch bekannt als „weißes Gold“. Für die zugehörigen Handwerkskünste haben die Industriellen allerdings keine Zeit. Die Logik des neuen „Kriegskapitalismus“ (Beckert) verlangt, dass hölzerne Spinnräder und Webstühle ölverschmierten Maschinen aus Schwermetall weichen, die zunächst in Manchester, dann auch in Bombay und Surat mit ohrenbetäubendem Lärm Pflanzenfasern zu Kapital verhämmern. Verlierer dieser Entwicklung sind nicht nur die ländlichen Volkswirtschaften Indiens samt ihrem sozialen Gefüge, sondern auch die europäischen Spinnerinnen und Weber, die bis zur Erfindung von „Spinning Jenny“ ihre Flachse noch in Heimarbeit verweben, aber mit den günstigen Preisen der Kolonialwaren nicht mithalten können. Baumwolle verdrängt Leinen beinah vollständig vom europäischen Markt.

Aber auch die alten Sorten der Inder halten dem Druck der Maschinen nicht stand: weil die amerikanischen Baumwollpflanzen (gossypium hirsutum) als hochwertiger und ergiebiger gelten, beschließt man, nun diese in der „Perle des Empire“ anzubauen. Aufgrund ihrer langen Fasern sind sie besser für die industrielle Verarbeitung geeignet als die kurzen Fasern der einheimischen Spezies. „Für die Gewinnung von Produkten, die europäischen Standards und Vorlieben entsprechen, sind die alten Sorten nicht zu gebrauchen. Es bedarf jahrzehntelanger Nachzüchtung, bis die Pflanzen eine Faserlänge haben, mit denen man feinere Garne und Stoffe herstellen kann“, erklärt Roland Stelzer von der schwäbischen Firma „Elmer und Zweifel“, einer der führenden deutschen Produzenten von Bio-Baumwolle mit eigenen Plantagen in Kirgistan und Uganda.

Mit Khadi gegen die Kolonialherrschaft

Für Liebhaber von Khadi, also ausschließlich handgewebten und handgesponnen Stoffen, ist es aber gerade die rohe, weniger perfekte Beschaffenheit der Garne und Gewebe, die ihren Charme ausmacht. Es sind heute vor allem Frauen aus den gebildeten Schichten, die stolz ihre handgewebten Saris bei gesellschaftlichen Ereignissen tragen und sich für den Erhalt und die Förderung von „Handloom“, der händischen Weberei, stark machen. Auch Designerinnen und Designer setzen immer wieder auf traditionell verarbeitete Textilien, die im digitalen Zeitalter wie museale Kostbarkeiten anmuten. Schon seit Mahatma Gandhi steht Khadi für ein neues Selbstbewusstsein. Als Symbol für die Befreiung von der britischen Kolonialherrschaft, die eben auch maßgeblich über die Baumwolle ausgeübt wurde, schmückt die „charkha“, das Spinnrad, seit 1947 Indiens Nationalflagge.

Kala

Kala heißt schwarz. Der Name rührt von den schwarzen Kapseln her, die die weißen Samenhaare der Baumwollpflanze umfassen. Bei der manuellen Verarbeitung bleiben häufig kleine dunkle Rückstände im Garn, das außerdem vergleichsweise grob ist.

Einer der berühmtesten Weber aus Kutch ist heute Shamji Vankar: er hat zahlreiche Preise gewonnen und wird regelmäßig zu Vorträgen in Mode-Akademien eingeladen. Bei einem Workshop in Mallorca zeigt er den überwiegend weiblichen Teilnehmerinnen aus Europa und den USA, wie man ein Handspinnrad bedient. Dabei erzählt er, dass traditionell nur für Mitglieder der Dorfgemeinschaft und für bestimmte gesellschaftliche Anlässe gewebt wurde, dass jeder Stand seine eigene Farbsymbolik hatte, und dass sich alle Familien die Stoffe leisten konnten, weil die Wirtschaft auf Tauschhandel basierte. Einen Auftrag des amerikanischen Sportartikelherstellers Nike musste er ablehnen: die Firma wollte Stoffe mit ihrem Logo produzieren lassen, jedoch ohne die eingewebten Doppeldreiecke, die als wichtiges Gestaltungselement den Gott Shiva repräsentieren. Sie wegzulassen kam für die Weber nicht in Frage. Größere Aufträge würde Shamji prinzipiell aber schon annehmen. Das Problem sei für die Auftraggeber aber meistens nicht der Preis, sondern die lange Wartezeit. Auch wenn sie gelegentlich mit Designern aus dem Ausland zusammenarbeiten, haben die Weber nicht vor, die ganze Welt mit ihren Stoffen zu beliefern. „Die nachhaltigste Lösung wäre, wenn die Europäer sich auf ihre eigenen Textiltraditionen zurückbesännen und wieder Leinen anbauten“, so Shamji, und verweist auf das vorbildliche „Linen Project“ aus Holland.

Ein gewebter Stoff aus Kala-Baumwolle. Foto Claudine Beguine

Bis heute wird in Indien vorwiegend die sogenannte konventionelle Baumwolle angebaut, was seit den 1970er Jahren mit der Verwendung von toxischen Düngemitteln und Insektiziden einhergeht. Trotz massiver Gesundheitsschäden bei Bauern geht die teilweise staatlich und von ausländischen Stiftungen wie der Schweizer „BioRe“ unterstützte Umstellung auf Bio-Baumwolle nur schleppend voran. Im Jahr 2020 erschütterte ein massiver Betrugsskandal das Vertrauen europäischer Textilhersteller in zertifizierte Bio-Baumwolle aus Indien. Seit 2005 beherrschen die genmanipulierten Hybrid-Saaten von Monsanto (BT-Cotton) die Felder. Sie wurden auf Empfehlung der Weltbank eingeführt, sollten ohne Insektizide auskommen und reichere Erträge bringen. Das Glück währte nicht allzu lang. Die Pflanze erwies sich schon bald als schädlingsanfällig, was noch giftigere Pestizide erforderlich machte und den erhofften Erntesegen vielerorts zunichte machte. Die Landwirte müssen jedes Jahr aufs Neue Kredite für den Ankauf von Saatgut aufnehmen und rutschen bei geringen Erträgen in die Schuldenfalle. Zwischen 1995 und 2015 wählten Schätzungen zufolge über 300.000 Bauern den Freitod. In den Statistiken sind vor allem die verarmten und vom Baumwollanbau dominierten Regionen vertreten. „Indien hatte im weltweiten Vergleich die größte Sortenvielfalt, die größten Anbauflächen und die meisten Baumwollbauern. Was dort passiert ist, war ökologisch, sozial und ökonomisch eine Katastrophe“, so Roland Stelzer.

Nicht die Natur verbessern, sondern die Maschinen

„Im Jahr 1947 wuchsen noch zu 97 Prozent alte Sorten, gossypium herbaceum und arboreum, auf indischen Feldern. Heute sind es noch 3 Prozent“, beklagt die indische Journalistin Meena Menon in ihrem Buch „A Frayed History. The Journey of Cotton in India“ (2017), das sie gemeinsam mit Uzramma, einer Ikone der „Handloom“-Bewegung, verfasst hat. Die Autorinnen plädieren für eine Rückkehr zu herkömmlichen Produktionskreisläufen und fordern eine neue Sicht auf die alten Saaten. Sie finden, man sollte das Problem mit der Faserlänge nicht beim Saatgut angehen, sondern bei den Maschinen: „Wir haben hierzulande jahrtausendealte Techniken, mit denen man kurzstapelige Baumwollfasern gut verarbeiten kann. Warum sollten wir die über Bord werfen? Wir sollten lieber neue Technologien entwickeln, die der Diversität und den besonderen Eigenschaften der alten Sorten besser gerecht werden“, so Meena Menon.

Das könnte dauern, aber vielleicht ist jetzt die richtige Zeit, um solchen Ideen Raum zu geben. Ajay Sabharwal, dessen Firma „Indesign Pvt. Ltd.“ europäische Premium-Labels in Indien vertritt und Designern hilft, in Indien zu produzieren, sieht das Potenzial der Kala-Baumwolle gerade in ihrer Eigenschaft als umweltfreundliches Nischenprodukt: „Die Kala-Baumwolle ist extrem nachhaltig: sie ist frei von Pestiziden, benötigt pro Kilo am wenigsten Wasser und gibt weniger als 0,1 Prozent an Treibhausgasen ab, im Vergleich zu anderen Sorten, die fünfmal so viel ausstoßen. Aus meiner Sicht sollte der fertige Stoff exportiert werden und zu Heimtextilien oder einfach geschnittenen Kleidungsstücken verarbeitet werden. Ansonsten wird es zu viele Probleme geben, die die Kundenzufriedenheit, Waschbarkeit und den Tragekomfort betreffen,“ so Sabharwal, der selbst viele Jahre in Stuttgart verbracht hat. Aufgrund seiner langjährigen Arbeit mit europäischen Modehäusern ist er mit den hiesigen Befindlichkeiten gut vertraut: „Vor allem in Deutschland stoßen die gröberen traditionellen Gewebe auf geringe Akzeptanz bei Industrie und Konsumenten. Das muss aber nicht so bleiben: einer meiner Kunden hatte großen Erfolg mit einer kleinen Kollektion.“ Besonders vorbildlich findet er den Umgang japanischer Designer mit Khadi-Stoffen. Sie finden die richtige Balance „zwischen Wirtschaftlichkeit und Respekt vor einer sehr alten Tradition“, die niemals darauf angelegt war, industrielle Massenware hervorzubringen. Und vielleicht liegt genau darin ihr Wert und ihre Zukunftsfähigkeit.


Teilen auf:
Facebook