Die Vermessung der Eiswelt
118 Meter lang, doppelwandiger Stahlrumpf und 20.000 PS: Die „Polarstern“ durchbricht seit Jahrzehnten auf ihren Forschungsfahrten eineinhalb Meter dickes Eis ohne Probleme. Und das ist das eigentliche Problem. Denn das Eis schmilzt uns und dem Forschungsschiff unter dem Rumpf weg. Von Juliane Fischer
Keine andere Region der Welt erwärmt sich schneller als die Arktis. Die Polkappen sind quasi Brennpunktregionen der Klimakrise. Die raschen Veränderungen spüren wir bald überall. „Jeder Eiswürfel, der in Grönland schmilzt, trifft unsere Zivilisation wie ein Stein, wird zur tödlichen Wassergranate auf Europas Felder, zum glühenden Staub in unseren Städten und zur Feuersbrunst in unseren Wäldern“, schreibt Marzio G. Mian in seinem Buch „Die neue Arktis“ eindrucksvoll.
Stellt man sich jene Masse, die seit 2011 jährlich in Grönland schmilzt, als Eiswürfel vor, er würde eine Kantenlänge von acht Kilometern aufweisen und 375 Milliarden Tonnen wiegen. Damit kann man 400 Millionen olympische Schwimmbecken füllen. Wenn sich allein die beiden größten, am stärksten schmelzenden grönländischen Gletscher verflüssigen, würde der Meeresspiegel um einen Meter steigen.
In diesem Sommer ließen die immer wärmere Luft und das warme Meerwasser das Arktische Eis wieder großflächig schmelzen. Die Meereisdecke des Ozeans ist auf die zweitkleinste Fläche seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979 geschrumpft, vermeldet das Nationale Schnee- und Eisdatenzentrum der USA (NSIDC) in Colorado. Zurück bleibt die dunkle Wasseroberfläche. Sie beschleunigt die Erderwärmung weiter. Denn Eis reflektiert 50 bis 60 Prozent der Sonnenstrahlung, Wasser aber nur sechs Prozent. Experten sprechen von der „arktischen Verstärkung“, einer Kettenreaktion, die sich unaufhaltsam fortsetzt.
Hals- und Eisbruch
Die junge Elise Droste ist PhD-Studentin von der Universität von East Anglia im Team Ecosystem. Zoé Koenig von der Universität Bergen leitet das Team Ocean. Marc Oggier von der University of Alaska gehört zum Team Biochemie und Meereseis. Der Hubschrauber-Ingenieur Ricard Martinez arbeitet mit den Logistikern. Jörg Meißner bekocht die Crew. Sie alle erlebten die rapide Eisschmelze quasi live mit. Sie sind mit rund 600 anderen Teil der größten Arktisexpedition aller Zeiten. 80 wissenschaftliche Institute aus 19 Ländern schickten ihre Forscher in das 140 Millionen Euro schwere Projekt „Mosaic“ (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate). Unter der Leitung des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) werden dabei Eis, Ozean und Atmosphäre vermessen. Die Wissenschaftler überwintern in einer Region, die in der Polarnacht nahezu unerreichbar ist. Auf einer Eisscholle schlagen sie ihr Forschungscamp auf und verbinden es mit einem kilometerweiten Netz von Messstationen. Eine Flotte von Eisbrechern, Helikoptern und Flugzeugen versorgt das Team auf dieser extremen Route.
Früher mussten sich Eisbrecher mühsam durch das dicke Eis kämpfen, heute benötigte die „Polarstern“ mit ihrem doppelwandigen Stahlrumpf und 20 000 PS für die Passage zum Nordpol gerade einmal sechs Tage. Nicht weil das Schiffe leistungsstärker geworden sind – das AWI-Flaggschiff ist bereits seit 9. Dezember 1982 in Dienst – die Eisdecke ist seither viel weniger geworden! „Das Meereis der Arktis hat sich in diesem Jahr atemberaubend weit zurückgezogen. Als wir den Nordpol kürzlich erreicht haben, sahen wir weite Bereiche offenen Wassers fast bis zum Pol, umgeben von Eis, welches durch massives Schmelzen völlig durchlöchert war. Das Eis der Arktis schwindet in dramatischer Geschwindigkeit“, schildert Markus Rex, Atmosphärenphysiker am Institut. Er leitete die Mission, die die erste Möglichkeit war, mitten in der zentralen Arktis umfassende Messungen durchzuführen – im dunklen Winter, bei minus 40!
Ziel der Expedition: Den Einfluss der Arktis auf das globale Klima besser zu verstehen. Schließlich erwärmt sich unser Planet nirgendswo so schnell und folgenschwer wie hier. Die Auswirkungen der weltweiten Erwärmung auf Gewässer, Permafrostböden und Polkappen sind dramatisch. Sie betreffen uns alle. „Die Erwärmung ist hier mindestens doppelt so groß wie im Rest der Welt und im Winter ist sie sogar noch deutlich größer als das“, sagt Rex. Gleichzeitig kennen wir just in dieser Region das Klima-System am schlechtesten. Welche Rolle spielt die Größe der Schneekristalle? Was geschieht in der Atmosphäre und wie geht es den Tieren hier? Diesen Fragen geht die Forschungsmannschaft nach. Regelmäßig messen sie die Schneedicke, nehmen chemische Proben und untersuchen mittels Unterwasserroboter die Eisdecke sogar von unten.
„Wir verlassen unseren letzten logistischen Wegpunkt Spitzbergen am Sonntag um 16 Uhr, nachdem wir in den letzten zwei Tagen die Ladearbeiten im Kongsfjord erfolgreich abgeschlossen haben“, heißt es dann im Logbuch am 4. Oktober. Ein paar Tage zuvor haben die Wissenschaftler noch die letzten Eiskernbohrungen vorgenommen. Am 12. Oktober kommt das Forschungsschiff wieder in seinem Heimathafen Bremerhaven an.
„Es war ein verrücktes Jahr im Norden, mit Meereis in der Nähe eines Rekordtiefs, Hitzewellen mit knapp 40 Grad in Sibirien und massiven Waldbränden“, fasst Mark Serreze, Chef des National Snow and Ice Data Centers, zusammen. 2020 wird als Ausrufungszeichen in einem Abwärtstrend bei der Ausbreitung des arktischen Meereises stehen. „Wir steuern auf einen saisonal eisfreien Arktischen Ozean zu, und dieses Jahr ist ein weiterer Nagel im Sarg“, meint er.
389 Tage driftete die „Polarstern“ mit einer gewaltigen Eisscholle durch das Nordpolarmeer. Mit den Daten der Forschungsfahrt kann man den Wandel des Klimas genauer vorhersagen und das Leben auf den weißen Flecken der Erde besser verstehen. Für die Mosaic-Forscher beginnt nun die eigentliche Auswertung der gesamten Daten. Wohlig warm wird ihnen dabei nicht werden.
Gletscherverdunkelung
Gletscherforscher aus aller Welt haben im Fachjournal „Nature“ einen offenen Brief veröffentlicht. Sie mahnen dringend zu Maßnahmen gegen die globale Erwärmung. Unter den Autorinnen: die ÖAW-Glaziologin
Andrea Fischer, österreichische Korrespondentin des globalen Gletschermonitoring-Netzwerkes WGMS.
Andrea Fischer
Bewusst provokant und plakativ gefragt: Was geht es uns an, was in der Arktis passiert?
Gerade am Klimasystem sieht man abseits von COVID die globalen Zusammenhänge. Die Insel der Seligen, wie wir sie gerne hätten, existiert nicht. In der Natur sehen wir, wie Veränderungen in anderen Gebieten der Erde uns alle betreffen. Auch wenn es in Niederösterreich keinen Gletscher gibt, merkt man die Erderwärmung. Und die Donau beispielsweise wird auch von Schmelzwasser gespeist. Sand und Pollen aus der Sahara werden mit dem Wind bis nach Vorarlberg transportiert. Es gibt vielfältige Wechselwirkungen. Darum müssen wir uns vom Kirchturmdenken loslösen. Wenn wir uns nur für den unmittelbaren Umgebungsbereich interessieren, rutschen wir zurück in eine Welt der Naturmagie, wie sie vielleicht nicht einmal Bronzezeitmenschen gehabt haben. Auch diese haben Zusammenhänge wahrscheinlich schon bewusst erkennen können.
Warum sind Gletscher wichtige Indikatoren für die Klimaerwärmung?
Weil die Folgen der Erwärmung so sichtbar sind. Wunderbare Fotografien seit 1870 zeigen plakativ und ansehnlich diese massiven Änderungen. Man muss kein Glaziologe sein, um gleich auf den ersten Blick die Unterschiede zu erkennen. Für alles, was sich beim Eis verändert hat, ist nur der Klimawandel ausschlaggebend. Entwicklungen in der Vegetation hingegen sieht man nicht so schnell und sie hängen – beispielsweise die Baumgrenze – auch vom Nutzungsaspekt ab: Ist die Fläche beweidet oder nicht?
Was lässt sich an den Gletschern alles ablesen?
Von 1850 bis 2000 wurden die Gletscher einfach immer kleiner, unterbrochen von 2 kurzen Wachstumsperioden. Seit Beginn dieses Jahrtausends spielt sich der Gletscherwandel anders ab und schaut anders aus: Die Gletscheroberfläche ist jetzt dunkel. Es gibt diese weißen großen Schneeflächen im Sommer nicht mehr. Felsen in der Umgebung zerbröckeln und zerbröseln, Schutt fällt auf das Eis. Der Gletscher selbst ist nicht mehr das helle gleißende Subjekt am oberen Ende unserer Berge, sondern mittlerweile eine sehr dunkle Fläche.
Gibt es dadurch wie im Nordpolarmeer, wo die Eisdecke zurückgeht, diesen Albedo-Feedback-Mechanismus?
Ja, die dunkle Oberfläche löst den Mechanismus aus. Während die helle Schneeoberfläche das meiste Licht rückgestrahlt hat, nimmt die dunklere Fläche jetzt Sonnenenergie effizienter auf. Dann geht das Schmelzen noch einmal schneller. Die Alpengletscher sind davon besonders betroffen, weil sie nicht so hoch sind wie die Gletscher in anderen Gebirgen der Erde.
Was erwarten Sie sich als Glaziologin von der Mosaic-Expedition?
Das Alfred-Wegener-Institut hat seit Jahrzehnten eine wirklich sehr gute Stellung in der europäischen Polarforschung inne. Das AWI betreibt auch eine Station in der Antarktis, die Neumayer-Station. Diese Messungen sind deshalb so wichtig, weil in den Polargebieten die größten Eisreserven der Erde liegen. Von dort kommt das Schmelzwasser her, das maßgeblich zum Meeresspiegelanstieg beiträgt. Momentan sehen wir durch die Pandemie recht gut, wie sehr uns der Meeresspiegelanstieg auch als Binnenland betreffen kann und noch betreffen wird. Wir bekommen viele Waren über die europäischen Häfen, aus den Küstenregionen in Asien und so weiter. Wir werden nicht im Wasser stehen, aber die Auswirkungen spüren.
Was hat Sie in Ihrer Laufbahn als Glaziologin bisher am meisten überrascht?
Mich überraschen die Gletscher immer wieder. In letzter Zeit ist das rasante Tempo des Rückgangs in den Ostalpen ein großes Thema. Unser lineares Prognosemodell hat nicht vorhergesehen, dass sich Seen am Gletscher bilden, dass Schutt herunterkommt und die Oberfläche verdunkelt.
Für uns wird jetzt wirklich spannend: Wenn die Gletscher weggehen – was kommt darunter zum Vorschein? Werden wir dort einen Boden finden? Wie lange hat es die Gletscher schon gegeben? Auf den Flächen, die jetzt frei werden, erleben wir sicher noch die eine oder andere Überraschung.
Juliane Fischer arbeitet als freie Journalistin in Wien und Niederösterreich für die Tageszeitungen Salzburger Nachrichten und Die Presse, die Wochenzeitung Falter und diverse Magazine sowie in ihrer wöchentlichen Weinkolumne „Juliane Fischers Flaschenpost“ in der Kurier freizeit. Sie ist ein born and raised Bauernkind. Der Biohof ihrer Familie prägte ihr besonderes Interesse für Nachhaltigkeit. Foto Carina Rumpold