Die vielen Leben eines Hauses
Ausstellungsansicht „Refuse, Reduce, Re-use, Recycle, Rot“ im vai. Foto Darko Todorovic.
Das Zurückfahren von Neubauten, das Bauen mit wiederverwendeten Bauteilen und der Einsatz von recycelbaren Materialien sind in den vergangenen Jahren die meistdiskutierten Themen der Architektur geworden. Architektur unter diesen Aspekten zu betrachten und die damit einhergehenden Problematiken gesellschaftsübergreifend zu vermitteln, ist Ziel der Ausstellung „Refuse, Reduce, Re-use, Recycle, Rot“ des vai Vorarlberger Architektur Instituts.
Von Karl Heinz Pichler
„Re-use und Recycling zählen zu den ältesten Prinzipien in der Architektur“, sagt Verena Konrad, Direktorin des auf baukulturelle Bildung sowie Wissens- und Expertentransfer fokussierten vai Vorarlberger Architektur Instituts. Über Jahrhunderte hinweg hätten sich diese Prinzipien als grundsätzliche Handlungsweisen gehalten, bis im 20. Jahrhundert das Wachstum ohne Grenzen, der Konsumrausch und damit zusammenhängend der Wahn, ständig nach Neuem zu streben, diese Traditionen hinweggefegt hätten.
In Anbetracht des globalen Klimawandels und des Faktums, dass die Baubranche laut EU-Kommission bis zu 40 Prozent der Energie in der EU und fast die Hälfte aller Ressourcen verbraucht, während sie dabei für fast 40 Prozent der Treibhausgase verantwortlich zeichnet, wird auch die Architektur immer mehr in die Pflicht genommen, zur Erreichung der Klimaziele beizutragen. Die Begriffstroika „Reduce, Re-use, Recycle“, die auch im Bereich Abfall zum Tragen kommt, stellt eine mögliche Vorgehenskette dar.
Mit ihr setzt sich das vai in der neuen Ausstellung eingehend auseinander und erweitert sie um die zwei zusätzlichen Termini „Refuse“ (ablehnen) und „Rot“ (verrotten). Das brennend aktuelle Thema wird bereits in der Ausstellungsarchitektur augenscheinlich, stammen doch die roten Fensterrahmen, die der Schau einen wesentlichen visuellen Stempel aufdrücken, aus der Entkernung der ehemaligen Dornbirner Bundestextilschule (heute Fachhochschule Vorarlberg), die von German Meusburger und Willi Ramersdorfer geplant wurde. Im nächsten Jahr sollen dieselben Fenster in der CampusVäre Dornbirn einer weiteren Wiederverwendung zugeführt werden.
„Aus ökologischer Sicht ist es fast immer sinnvoller, ein Bestandsgebäude thermisch zu sanieren und weiter zu nutzen, statt es abzureißen und neu zu bauen“
„Aus ökologischer Sicht ist es fast immer sinnvoller, ein Bestandsgebäude thermisch zu sanieren und weiter zu nutzen, statt es abzureißen und neu zu bauen“
Clemens Quirin, Kurator der Ausstellung
Ausstellungsansicht „Refuse, Reduce, Re-use, Recycle, Rot“ im vai. Foto Darko Todorovic
Refuse
Vom französischen Büro „Lacation & Vassal Architects“ stammt die Diktion „Nie abreißen, immer transformieren“, vom deutschen Autor und Wirtschaftswissenschaftler Daniel Fuhrhop die Streitschrift „Verbietet das Bauen!“, und „Stoppt den Neubau!“ hieß es im Rahmen eines Symposiums im vorigen Jahr am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Mit solchen Imperativen fordern Expertinnen und Experten vehement die Auseinandersetzung mit den klimaschädlichen Auswirkungen des zeitgenössischen Bauverhaltens. Clemens Quirin, der Kurator der Ausstellung im vai, verweist darauf, dass 75 Prozent des österreichischen Abfalls, 59 Prozent für Aushub und 16 Prozent für Abbruch, auf den Bau-sektor zurückzuführen seien. Aus zumeist rein ökonomischen Gründen im Rahmen der Immobilienspekulation sei der Bausektor weiterhin auf Neubau fokussiert. Aber die Zahl derer, die dies verwerflich finden und ablehnen, wächst. „Aus ökologischer Sicht ist es fast immer sinnvoller, ein Bestandsgebäude thermisch zu sanieren und weiter zu nutzen, statt es abzureißen und neu zu bauen“, sagt Clemens Quirin.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass die Bürgerinitiative „House Europe!“ (www.houseeurope.eu) im November eine europaweite Unterschriftenkampagne startet, bei der eine europäische Gesetzgebung zur Förderung von Bestandsnutzung und gegen spekulationsgetriebenen Abbruch gefordert wird. Die Kampagne wird auch vom vai unterstützt.
Reduce
Trotz dieser Feldzüge für ein Neubaustopp wird man nicht umhinkommen, auch in Zukunft Gebäude zu erweitern oder neu zu bauen. Beton wird aufgrund seiner technischen Vorzüge dabei nicht wegzudenken sein. Aber man kann den mengenmäßigen Einsatz verringern. Etwa durch simple Reduktion der räumlichen Dimensionierung, durch die Kombination mit nachwachsenden Baustoffen sowie durch technische Verbesserungen. Kurator Quirin: „Zuletzt gilt es zu bewerten, wie viel Energie in einem Material steckt, welche Schadstoffe oder seltenen Rohstoffe enthalten sind und wie ein möglicher Rückbau und die folgende Verwertung – also das Recycling – oder Wiederverwendung – Re-use – funktionieren.“ Als Fokusprojekt dafür bringt das vai „Das Manifest für eine freudvolle und kreative Frugalität“ von Philppe Madec, Dominique Gauzin-Müller und Alain Bornarel ins Spiel.
Re-use
Groß im Gespräch bei Architektinnen und Architekten und Bauschaffenden ist das Thema Re-use und wie der Baubestand neu interpretiert werden kann. Im Kern geht es darum, dass im Abbruchfall gut erhaltene Bauteile nicht mehr nur rezykliert, sondern eins zu eins in Neu-, Um- oder Erweiterungsbauten integriert werden. In etlichen Ländern Europas gibt es dafür eigene Bauteilbörsen und Baustoffdatenbanken. In Österreich etwa das Baukarussel Wien (www.baukarussel.at) oder ebenfalls in Wien die Materialnomaden (www.materialnomaden.at, www.restore.at) oder in der Schweiz die Bauteildatenbank Salza (www.salza.ch) und der Bauteilladen Winterthur (www.bauteilladen.ch), um nur einige zu nennen.
Ein zentraler Aspekt dabei ist, dass bereits in der Planung eines Neubaus dessen möglicher Rückbau, die Trennbarkeit der Baumaterialien und das Re-use-Potenzial mitgedacht und dokumentiert werden. „Architekturbüros sind bei Re-use-Projekten mit ganz neuen Aufgaben konfrontiert“, sagt Clemens Quirin. „Das Baumaterial ist nicht nur im Katalog zu recherchieren, vielmehr ist häufig der gesamte Gewinnungs-, Logistik- und Wiedereinbauprozess zu organisieren.“ Fokusprojekt des vai ist hier das Brettspiel „Trivial Circuit“ von LXSY Architekten. In den sechs Phasen des Spiels begegnen die Spieler den besonderen Herausforderungen des zirkulären Bauens und haben die Möglichkeit, im Team eigene kreative Antworten darauf zu finden.
Recycle
In Österreich werden laut dem Verband Österreichischer Entsorgungsbetriebe an die 70 Prozent der Bauabfälle rezykliert. Damit können viele Wertstoffe einer neuerlichen Verwendung zugeführt und der Primärressourcenverbrauch, also der Abbau von Rohstoffen, kann reduziert werden. Andererseits bedeutet Recycling oft ein Downcycling und damit eine Abwertung der Materialqualität. Die Herstellung von Recycling-Baustoffen ist zumeist mit einem ebenso großen Energieverbrauch verbunden wie bei Neubaustoffen. Nicht in dieser Rechnung enthalten ist das Aushubmaterial, das mit fast 60 Prozent Anteil die mit Abstand am stärksten wachsende Abfallart der Alpenrepublik darstellt. Und nur ein Viertel des Aushubs wird wiederverwertet, obwohl sich viele Aushübe für Stampflehmmischungen einsetzen ließen.
Als Fokusprojekt zum Recycling präsentiert das vai das Bauteilinventar sowie die Recycling- und Re-use-Szenarien zu den Gebäuden der Universität Liechtenstein.
Rot
Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war das Bauen geprägt von der lokalen Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen. In Vorarlberg kam beispielsweise vor allem Holz, aber auch Stein, Lehm und Kalk zum Einsatz. Mit der rasch voranschreitenden Industrialisierung, der Erfindung moderner Baustoffe in Kombination mit neuen Transportmöglichkeiten, wurden die lokalen Materialien zurückgedrängt. Kurator Quirin: „Dabei verlangen Holz, Lehm, wie auch die vielen weiteren biobasierten Baustoffe nicht nur einen sehr geringen Energieeinsatz in der Produktion, sie sind im Falle des Abbruchs eines Gebäudes auch grundsätzlich verrottbar. Im besten Fall ergibt sich also ein sehr kleiner und regionaler Materialkreislauf.“
Beim Fokusprojekt für „Rot“ bezieht sich das vai auf das Wohnbauforschungsprojekt „ERDEN Wohnen“ mit Beiträgen von Julia Kick Architekten, Studio SAAL und Cukrowicz Nachbaur Architekten.
Green Deal
In Österreich gibt es übrigens erst seit dem Jahr 2016 eine gesetzliche Regelung für den Umgang mit Bau- und Abbruchabfällen. Diese regelt die Abfalltrennung sowie die Herstellung und Verwendung von Recycling-Baustoffen. Der von der EU-Kommission 2019 vorgestellte „European Green Deal“ schreibt allerdings vor, dass bis zum Jahr 2050 80 Prozent eines neuen Gebäudes recycelbar sein müssen. In Zukunft wird es also bereits bei der Planung notwendig sein, das Prinzip der Sortenreinheit miteinzubinden.