Die vierte Haut des Menschen
Die Architekten Karl Sillaber und Max Fohn (C4) waren früh überzeugt, dass ein Bewuchs integraler Bestandteil der Architektur sein sollte, der beschattet und kühlt. Sie traten als Gestalter ihres Doppelhauses in Bregenz (erbaut 1968) freimütig in den Hintergrund und ließen den wildwuchernden Pflanzen ihre Freiheit. Foto Robert Fabach
Oder: Warum uns der Rock doch näher ist als das Hemd. Naturräume als integraler Bestandteil einer neuen Baukultur. Von Robert Fabach
Der Begriff der „Architektur als dritte Haut des Menschen“ stammt interessanterweise nicht von einem Architekturtheoretiker, sondern vom Künstler Friedensreich Hundertwasser. Er – heute durch sein plakatives Spätwerk verkannt – hatte diesen Begriff 1967 in seiner manifesthaften „Nacktrede für das Anrecht auf die dritte Haut“ geprägt.
Neben seinen Ausfällen gegen die Orthogonalität und die Architekten im Allgemeinen bleibt aber Hundertwassers wertvolle Erweiterung eines Raum- und Architekturbegriffs, dessen Bedeutsamkeit uns heute auf vielfältige Weise einholt. Hundertwasser hatte schon 1958 durchaus visionär mit seinem „Verschimmelungsmanifest“ zum Widerstand gegen den sich damals aufbauenden Bauwirtschaftsfunktionalismus aufgerufen und gegen eine Kommerzialisierung von lebensnotwendigen Ressourcen.
Wenn uns heute der Fokus auf „Stars“ und „Architektursensationen“ mehr und mehr fragwürdig vorkommt, ist das nur ein Zeichen, dass sich viele Fragestellungen längst verschoben haben.
Lebensräume als vierte Haut
Die Aufweitung des Blicks und die zunehmende Bedeutung interdisziplinärer Lösungswege zeichnen heute einen klaren Weg. Hatte man sich zur Bewältigung der Energiekrise in den 1980er-Jahren noch auf die Regulierung von einzelnen Bauteilen gestürzt, diskutiert man heute an derselben Stelle über die Bewertung von Mobilität in der Siedlungsentwicklung und eine Kreislaufwirtschaft für Baumaterialien. Selbst der Rückzug auf elitäre und segregierte Siedlungsflächen erweist sich heute als vergeblich. Gerade touristisch attraktive und entlegen exklusive Lagen zeigen sich verletzlich. Naturkatastrophen wie Waldbrände und Erdrutsche bedrohen diese massiv und Außenräume werden zusehends durch sommerliche Überhitzung unbewohnbar. Technische Lösungen greifen dabei oft zu kurz. Klimaanlagen oder auch punktuelle Befeuchtung in den Straßen mit Wassernebel und Ähnliches erweisen sich rasch als in der Gesamtbilanz kontraproduktiv und als dekorative Gegenwehr.
Als tatsächlich wirksam zeigen sich letztlich Naturräume in unterschiedlichster Form. Von zusammenhängenden Waldflächen über verwilderte Brachen und Restflächen bis hin zu Alleen, Parks und Gebäudebegrünungen gehen wirkungsvolle Effekte aus. Sie alle leisten auf effiziente und zugleich logische Weise eine ganze Reihe von mikro- und makroklimatischen Beiträgen, die technische Sonderlösungen nur bruchstückhaft vermögen. Um derartige, oft gutgemeinte Maßnahmen und auch den Wert des Erhalts von solchen Naturräumen bewerten zu können, bedarf es einiger Kriterien, die als Grundkenntnisse und quantifizierbare Größen in jeglicher Gestaltung von Raum konsequent eingeführt werden sollten.
Die Schönheit des Porösen
Diese Qualität ist ein entscheidendes Merkmal, um Wasser, den Grundstoff allen Lebens, adäquat aufnehmen, speichern und nutzen zu können. Zugleich richtet sich Porosität gegen ein kulturell zutiefst verwurzeltes Dogma der Moderne. Der Mythos von perfekter Sauberkeit und die Abwehr von Schmutz und Erde haben unserer gebauten Umwelt viele glatte Oberflächen als Synonym des Fortschritts beschert. Der lange Kulturkampf um unbehandelte Holzfassaden sei als Beispiel genannt.
Die Kommerzialisierung von Grund und Boden und ein anthropologischer Drang nach Rodung und Zähmung befeuern gerade seit der Moderne eine Zerstörung von Lebensgrundlagen. Der Grad der Bodenversiegelung ist ein wichtiger Kennwert jeder Landschaft. Nicht nur ungebremstes Oberflächenwasser, sondern auch die Unmöglichkeit, Lebewesen und Lebensräume anzusiedeln, verödet menschliche Lebensräume zu biologisch toten Flächen. Mittlerweile ist deshalb der Ruf nach Renaturierung immer lauter zu hören.
Dabei zeigen Erfahrungswerte, dass unverändert belassene Flächen deutlich leistungsfähiger sind als nachträglich entsiegelte Bereiche. Seien es in Bauwerke integrierte oder auch nachträglich geöffnete Wuchsflächen: Eine komplexe Vielzahl an Wechselwirkungen erzeugt erst sukzessive jene Kreisläufe von Feuchtigkeitsspeichern, vitalen Böden und Bewuchs, die dann tatsächlich zu Lebensräumen werden.
In Zusammenarbeit mit dem Architekten Martin Mackowitz, dem Lehmbaukünstler Martin Rauch, dem Österreichischen Ökologieinstitut und der „holzbau_zukunft“ ist unter anderem ein Pavillon auf dem Firmengelände der Firma Haberkorn in Schwarzach entstanden, mit Stampflehmwänden und Dachbegrünung als Erholungsraum für die Mitarbeiter. Foto Haberkorn
Komplexität. Der Wert des Unkalkulierbaren
Gerade die Kenngröße Biodiversität steht für jene Vielfalt von Organismen, deren Wechselwirkungen nicht isoliert technisch herstellbar sind. Wie sehr der ingenieurhafte Drang nach Kalkulierbarkeit zu simplifizierten Lösungen, zu Monokulturen, zu Verödung geführt hat, zeigen uns mittlerweile ganze Kontinente. Dieser systemische Irrweg wird nun auch für unsere unmittelbaren Lebensbereiche zum zunehmenden Problem.
Porosität kann in einem größeren Maßstab auch die Anwesenheit von Nischen und organischen Inseln bedeuten. Wie attraktiv technisch generierte Komplexitäten sind, zeigt auch der aktuelle Hype rund um künstliche Intelligenz, deren Komplexität die halbe Welt zu Begeisterungsstürmen veranlasst, die aber als klinisch reines System von digitalen Zeichen vollständig an Maschinen gebunden ist und vor jedem natürlichen Organismus unweigerlich scheitert. Bei der Diskussion um diese Form von Intelligenz wird beharrlich übersehen, dass schon die Grenzen der Maschinen die Grenzen dieser Welt bedeuten. Douglas Adams hat in einer literarischen Metapher in seinem „The Hitchhiker‘s Guide to the Galaxy“ den Planeten Erde zu einem gigantischen Supercomputer erklärt und dabei auf ironische Weise die überragende Komplexität eines biologischen Systems vermittelt.
Lob des Schattens – Kronendichte und Blattmasse
Ökologische Kennwerte halten bereits gelegentlich Einzug in Bauvorschriften. Genauso wie Bebauungsdichte oder Höchstgeschosszahlen das Verhältnis von baulichen Erhebungen zu „unbebauten“ Flächen beschreiben, werden zunehmend auch die Dichte und Qualität von biologischen Systemen definiert. Die Schweizer Städte Zürich und St. Gallen prüfen für einzelne Nutzungsbereiche die Möglichkeit, biologische Mindestwerte für den Bewuchs vorzuschreiben. Dazu sind jeder Baumart spezifische Kennzahlen zugeordnet, wie Biodiversitätsindex, Klimatauglichkeit oder Beschattungsvermögen.
Zur Einschätzung der Transpiration, der Produktion von Sauerstoff und des Beitrags zum CO2-Ausgleich wird die biologisch wirksame Masse jeder Pflanze oder jeden Baumes herangezogen. Der Begriff Raumqualität erhält so neue Dimensionen. So wie die Architektur sich um einen Raumbegriff bemüht, der sich von einem simplen geometrisch umschlossenen Raum zu einem gestalterisch aufgeladenen Raum steigert, der dank seiner atmosphärischen und bauplastischen Qualitäten eine gestalterische Dimension annimmt, so entsteht mit der Erweiterung um biologische, Kriterien eine neue Raumqualität, die ihre langfristige Verträglichkeit für Lebewesen beschreibt. Gemeinsam mit einer neuen Partnerschaft in Gärtnern, Landschafts- und Grünraumgestaltern entstehen neue Räume und eine neue Architektur. Ist ein angenehm temperierter und lebendiger Raum nicht in einer besonders relevanten Weise schön?
Ausblick auf eine belebte Ästhetik
Der phänomenologische Zugang der 1960er-Jahre hat den Raum- und Architekturbegriff konsequent auf jede Form von Aufenthaltsflächen und Freiräumen erweitert. Schon einzelne Vertreter der Moderne und auch die Gartenstadtbewegung haben die Bedeutung von Grünräumen und Gärten betont. Richard Neutra, Rudolph Schindler oder Josef Frank haben den Schattenwurf von bewegten Bäumen auf ihre Gebäude inszeniert. Schon der Einfluss japanischer Ästhetik um das frühe 20. Jahrhundert und noch früher die Raumkonzepte der Romantik brachten das Gebaute in ein neues Verhältnis zum biologischen und ästhetischen Gewicht von Gärten und Landschaft.
Kann nicht heute eine ästhetische Verschiebung und eine zunehmende Bildung und Aufmerksamkeit für biologische Abläufe und Fähigkeiten natürlicher Systeme einen neuen Schönheitsbegriff einleiten, der über die visuelle Schönheit hinaus eine echte Aufenthaltsqualität zum Kriterium macht? Erleben wir nicht gerade wie das Dogma, des schönen Wetters abgelöst wird von einem Ideal des kühlen Schattens? Ist eine Allee oder ein Hain mit Obstbäumen nicht Raum in seiner reinsten und nun neuen Form?
Einen Paradigmenwechsel erleben wir bereits. In die einst ideal leeren Gebäude der avancierten Architekturfotografie strömen nicht nur mehr und mehr die Inszenierungen des Menschen, vielleicht auch bald die Schönheit lebendiger Naturräume.