Die Welt mit allen Sinnen feiern

Foto Eberhard Grossgasteiger

Zur spirituellen Tiefendimension der Transformation
Von Ernst Fürlinger

Wie können wir verstehen, in welcher Gegenwart wir leben? Mit Hilfe welcher Erzählungen? Der französische Historiker Christophe Bonneuil („The Geological Turn“, 2015) unterscheidet mehrere große Erzählungen des Anthropozäns in der westlichen Kultur. Gegenwärtig dominiere das „naturalistische“ Narrativ (die „Menschheit“ sei zu einer geologischen Kraft geworden; eine wissenschaftliche Elite müsse nun das Erdsystem steuern etc.). Weitere Erzählungen sind das „öko-modernistische“ Narrativ über das hochtechnologische „gute Anthropozän“, die das kapitalistische Projekt von unbegrenztem Wachstum fortsetzt, oder ein dystopisches „öko-katastrophisches“, ein „öko-marxistisches“ und „öko-feministisches“ Narrativ.

Es ist kein Zufall, dass Bonneuil eine bestimmte Erzählung zu den gegenwärtigen Veränderungen nicht erwähnt, obwohl ihre Bedeutung vielfach anerkannt wird: ein „öko-spirituelles“ Narrativ. Wie viele Intellektuelle scheint er das Minenfeld von Religion und Spiritualität zu meiden. Nicht von ungefähr: Oft ist es mit reaktionären, gegenaufklärerischen, wissenschaftsfeindlichen, obskurantistischen Positionen verbunden. Das komplexe Spannungsfeld Religion/Moderne ist im „nachmetaphysischen Zeitalter“ (Jürgen Habermas: „Nachmetaphysisches Denken“, 1992) nach wie vor virulent. Gerade dieses Narrativ könnte sich jedoch als entscheidend für einen Ausweg aus der planetaren Krise erweisen, weil es an einer ihrer Wurzeln ansetzt.

Eine „öko-spirituelle Erzählung“ geht davon aus, dass der Ursprung der ökologischen Krise nicht zuletzt im mechanistischen, anthropozentrischen und dualistischen Weltbild liegt, das die westliche Moderne durchgesetzt hat: Natur reduziert auf einen passiven Container von „Ressourcen“, die von Menschen ausgebeutet werden. Der Mensch verstanden als Herrscher über die Natur, von der er getrennt ist – befangen in einem „Krieg gegen die Natur“ (Jules Michelet: „Universalgeschichte“, 1831). Diese weltanschauliche Veränderung, die zur Zeit der europäischen Eroberung Amerikas und des Sklavenhandels erfolgte, bildete eine der Voraussetzungen für den Aufstieg des Kapitalismus: „Diese miteinander verbundenen Prozesse von physischer und intellektueller Gewalt waren alle nötig, damit eine neue Wirtschaftsweise entstand, die darauf basierte, einer entheiligten, leblosen Erde die Ressourcen zu entnehmen“ (Amitav Gosh: „Der Fluch der Muskatnuss“, 2023).

Im „öko-spirituellen Narrativ“ setzt die sozial-ökologische Transformation des Systems eine Wende zu einem spirituellen Verständnis der Wirklichkeit als wesentliches Element voraus. Die Ehrfurcht gegenüber dem Gewebe des Lebendigen, das Verständnis des Menschen als Teil davon, das Bewusstsein unserer Verwandtschaft mit den anderen Arten – all das ist in dieser Sicht nicht nur naturwissenschaftlich-ökologisch, sondern auch spirituell begründet. Je bekannter wissenschaftliche Erkenntnisse über die sinnlichen und kommunikativen Fähigkeiten von Pflanzen, über das Bewusstsein von Tieren werden, umso stärker werden sie zu einer solchen neuen Ethik menschlicher Verbundenheit mit dem Mehr-als-Menschlichen beitragen.

Ein solcher Paradigmenwechsel kann vermutlich nicht allein mit Hilfe von westlichen philosophischen Konzepten geschafft werden. In der existenziellen Krise des westlichen Zivilisationsmodells liegt eine Chance: Sie erzwingt geradezu einen substanziellen Dialog mit nicht-europäischen Sichtweisen – etwa mit der traditionellen Philosophie der Andenvölker über das „buen vivir y convivir“ (gut leben und zusammenleben), einer Ethik der Verbundenheit mit dem Ganzen, die auch die spirituelle Dimension umfasst. Gerade nicht-dualistische philosophische Traditionen bieten grundlegende Alternativen zu einem nicht zukunftsfähigen gnostischen Weltbild, bei dem das Materielle, Irdische, Körperliche abgewertet wird. Ein Beispiel ist die Welterfahrung des nichtdualistischen Shivaismus von Kaschmir: Das Universum ist identisch mit der ursprünglichen, dynamischen, vibrierenden „Kraft“ oder „Energie“ (Sanskrit „shakti“), die in dieser Tradition als Göttin verehrt wird, die die phänomenale Wirklichkeit hervorbringt und zugleich transzendiert. Es ist diese absolut dynamische, kreative, freie Dimension der höchsten Wirklichkeit, die alles durchdringt, belebt und verwebt.

Angesichts des planetaren Notstands kommen viele zu der Überzeugung, dass die notwendige Transformation auch eine religiös-spirituelle Fundierung braucht. Tatsächlich verbreitet sich weltweit eine neue Form von Naturspiritualität, die die Natur als heilig und von daher absolut schützenswert betrachtet, die ihren intrinsischen Wert – unabhängig von ihrem Wert für menschliche Zwecke – hervorhebt und von der Verbundenheit alles Lebendigen ausgeht. Der US-amerikanische Religionswissenschaftler Bron Taylor bezeichnet diese Form von Spiritualität als „dunkelgrüne Religion“ („Dark Green Religion“, 2009). Er sieht viele Anzeichen im kulturellen und wissenschaftlichen Bereich dafür, dass ein solcher Wandel in der Mensch-Natur-Beziehung weltweit an Einfluss gewinnt. Seit Erscheinen des Buchs ist ein bedeutsamer Faktor dazugekommen, nämlich die ökologische Wende in der Lehre der katholischen Kirche (der die Praxis noch nachhinkt). Die Sozial- und Umweltenzyklika Laudato Si‘ (2015) enthält Elemente „dunkelgrüner Religion“: die Kritik des Anthropozentrismus und die Betonung des intrinsischen Werts der Natur; die Verbundenheit von allem; die Würdigung der indigenen Traditionen; eine ökologische Spiritualität. Sie enthält aber auch wesentliche Unterschiede dazu, unter anderem die Bedeutung einer „integralen Ökologie“, die die soziale und ökologische Dimension, den „Schrei der Natur und der Armen“ verbindet.

Ein Indiz für einen Bewusstseinswandel ist auch die breite globale Bewegung für die Rechte der Natur, die von indigenen Gruppen mit der Heiligkeit von Flüssen, Bergen und Wäldern und der Verwandtschaft mit ihnen begründet werden. Für sie, die weltweit um den Schutz ihrer Gebiete, Wälder und Flüsse kämpfen, ist „Naturspiritualität“ nichts Romantisches, sondern eine Frage des Überlebens. Urwälder als „heilig“ zu erklären, ist aus ihrer Sicht ein zentrales Mittel, sie gegenüber machtvollen industriellen und politischen Institutionen zu verteidigen und ihre Zerstörung zu verhindern.

Eine spirituelle Sicht der Natur, des Menschen, der Wirklichkeit als ganze könnte als starker Hebel für eine systemische Umwälzung wirken. Eine spirituelle Weltsicht in das moderne westliche Denken zu integrieren, ohne in Gegenaufklärung, Anti-Humanismus zu kippen – das ist der Balanceakt, der gelingen müsste. Eine Naturspiritualität, die nicht regressiv, entpolitisierend, eskapistisch ausgerichtet, sondern Teil eines emanzipatorischen Projekts ist, ohne Moderne und Aufklärung über Bord zu werfen – etwa zentrale Errungenschaften wie eine Ethik der individuellen Menschenrechte auf Basis der gleichen Würde aller Menschen.

Spirituelle Praxis auf der Linie einer befreienden Spiritualität bedeutet: sich nicht dem Dogma zu unterwerfen, es gäbe keine gangbare Alternative zum bestehenden selbstzerstörerischen System. Meditativ einzutauchen in den Grund der Wirklichkeit – dem völlig Offenen, Freien, Spielerischen, Kreativen, Dynamischen. Mit allen Sinnen seine Präsenz in Gestalt der Welt zu feiern. Freiräume, „reale Utopien“ (Erik Olin Wright) zu schaffen und auszuweiten, um so die dominierenden Strukturen zu transformieren. 


Ernst Fürlinger ist Religionswissenschaftler und seit 2006 an der Universität für Weiterbildung Krems tätig. Von 1995 bis 2001 war er Projektleiter der „Österreichischen Armutskonferenz“, danach widmete er sich von 2002 bis 2005 der Forschung zum kaschmirischen Shivaismus in Nordindien. Er leitet gegenwärtig die „Akademie der Transformation“ und das „Österreichische Transformationsforum“.


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