„Diese Menschen haben kein Verbrechen begangen”

Mehr als hundert Millionen Menschen befinden sich laut dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) weltweit auf der Flucht oder wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Flucht und Migration nach Europa sind dabei immer öfter mit gewaltsamen Pushbacks, prekären Unterbringungsformen und mit Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit verbunden. Reem Mussa versucht das menschliche Leid, das dadurch entsteht, zu erfassen und durch die Zusammenarbeit mit Entscheidungsträgern und humanitären Organisationen zu lindern. In der Analysesektion der NGO „Ärzte ohne Grenzen“ (Médecins Sans Frontières, MSF) beschäftigt sie sich mit den gesundheitlichen Auswirkungen von Flucht und Migration.

Text: Sarah Kleiner, Foto: MSF/Médecins Sans Frontières

In einem Interview sagten Sie, Migranten und Flüchtende würden ihre Reise oft gesund starten und krank in Europa ankommen. Was geschieht hier?

Reem Mussa: Das Thema ist ein Kerngebiet meiner Arbeit. Aufgrund der überbordenden Sicherheitspolitik sind Menschen auf den Migrationsrouten einem höheren Risiko von Gewalt ausgesetzt und werden gezwungen, in prekären Verhältnissen zu leben, was sie noch unsichtbarer macht und sie weiterer Ausbeutung ausliefert – mit entsprechenden Folgen für ihre Gesundheit. Eine Studie des University College of London und der NGO „Ärzte der Welt“ zeigte, dass mehr als 70 Prozent der Migranten, die in ihren Einrichtungen behandelt wurden, vorher keinen Zugang zu medizinischer Versorgung hatten.

In MSF-Projekten, die Menschen auf der Reise, in Aufnahmezentren oder in Haft Gesundheitsleistungen bieten, werden oft Hautkrankheiten wie Krätze, Atemwegserkrankungen wie Lungenentzündung, Tuberkulose oder anderen Infektionskrankheiten wie Diphtherie behandelt. Diese Krankheiten sind vermeidbar, aber durch die mangelnde Gesundheitsversorgung und prekären Lebensumstände verschlimmern sie sich. Selbst wenn Menschen in staatlichen Einrichtungen inhaftiert sind, erhalten sie oft keinen Zugang zu Impfungen und erkranken daher sogar an impfpräventablen Krankheiten. All das führt zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustands und zu höheren Morbiditätsraten, sogar bei den vergleichsweise jungen und grundsätzlich gesunden Gruppen in unseren Projekten.

Was tut die EU, um eine adäquate Gesundheitsversorgung für Geflüchtete entlang den Migrationsrouten zu gewährleisten?

In Europa ist jeder Staat selbst für die Gesundheitsversorgung verantwortlich. Für jene Menschen, die in Griechenland in Aufnahmezentren landen, gibt es eine Versorgung durch die griechischen Behörden, die aber oft nicht ausreichend ist. Das Gesundheitspersonal muss viele Ressourcen für die „Vulnerability Screenings” (Erstuntersuchung, um besonders gefährdete Menschen zu erkennen, Anm.) aufwenden, die wichtig sind, aber wir wissen, dass sie schnell und oft oberflächlich durchgeführt werden. Das zweite Problem ist, dass das Personal in diesen Zentren nicht ausreicht. Und das dritte ist, dass die Gesundheitsinfrastruktur nicht auf die Komplexität der Gesundheitsbedürfnisse der Geflüchteten reagieren kann. Zum Beispiel gibt es auf einigen griechischen Inseln keinen Kinderpsychiater, obwohl es einen hohen Bedarf dafür gibt. Insbesondere Menschen, die sich ohne Dokumente bewegen, haben nach ihrer Ankunft in vielen Ländern keinen Zugang zur Gesundheitsversorgung über die Notfallversorgung hinaus. Die Position der WHO und der internationalen Gemeinschaft ist aber, dass jeder Mensch in gleichem Maß Zugang haben sollte. Die NGO-Gemeinschaft springt hier ein, um diese Lücken zu schließen.

Vor einigen Wochen präsentierte die EU das neue Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS). Geplant sind Asylverfahren an der europäischen Außengrenze, im Zuge derer Erwachsene und auch Kinder für bis zu drei Monate festgehalten werden können. Humanitäre Organisationen schlugen Alarm. Wie steht „Ärzte ohne Grenzen“ zur geplanten Reform?

Die sogenannten Lösungen, die dieser Migrationspakt enthält, und ihre Konsequenzen haben wir in den letzten sechs, sieben Jahren in der Praxis gesehen. Viele Elemente des Pakts sind nicht neu, sie werden bis zu einem gewissen Grad bereits in Griechenland, Italien, generell in den sogenannten Hotspots umgesetzt. Die Reform bewirkt, dass eine Politik, die angesichts einer Migrationskrise in Form von Ausnahmeregelungen – wie dem Hotspot-Modell oder beschleunigten Asylverfahren – begann, nun ihren Weg in den rechtlichen Rahmen findet. Das ist besorgniserregend, denn es verengt den Zugang zu Asyl und erweitert Formen von Haft oder de facto Haft an den Außengrenzen – oftmals mit minimalem Schutz für Vulnerable und kaum Zugang zu Rechtsberatung. Die medizinischen und humanitären Erfahrungen von MSF zeigen, dass das zu einer Zunahme humanitärer Bedürfnisse führen wird, zu negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen, zu einer Zunahme psychischer Belastungen, einem Mangel an angemessenen Reaktionen auf ihre Bedürfnisse und zu einer weiteren Gefährdung der Menschen.

„Ärzte ohne Grenzen“ ist in Flüchtlingslagern auf der ganzen Welt im Einsatz. Wie wirkt sich das Leben dort auf die Gesundheit und Psyche der Menschen aus?

Flüchtlinge auf der ganzen Welt leben in den unterschiedlichsten Kontexten, oft in Lagern und anderen prekären Umgebungen. Sie haben nur begrenzten Zugang zu angemessener Nahrung, sauberem Wasser, sanitären Einrichtungen, Unterkünften und Gesundheitsversorgung. Flüchtlinge und andere Zwangsmigranten sind zunehmend mit restriktiven Richtlinien konfrontiert, die ihre Gesundheit noch weiter gefährden. MSF hat im Jahr 2021 einen Bericht veröffentlicht, in dem wir das psychische Leid detailliert beschrieben haben, dem wir seit 2017 in den Hotspots begegnen. Es gibt hohe Raten von posttraumatischen Belastungsstörungen, von Angstzuständen, Psychosen, Selbstverletzungen und Suiziden, insbesondere bei Kindern. Diese Effekte haben wir sowohl in Moria, als auch auf Nauru – der Insel, auf der Australien Asylverfahren auslagert und Flüchtlinge unterbringt – beobachtet. In Moria waren oft die furchtbaren Lagerbedingungen mit den psychischen Belastungen verbunden. In Nauru leben die Menschen in Apartments. In beiden Kontexten war der Hauptfaktor, der psychische Belastungen verschlimmerte, die Inhaftierung. Diese Menschen haben kein Verbrechen begangen und fragen sich, warum sie in dieser Situation sind. Auch die Ungewissheit darüber, was mit ihnen geschehen wird, ist ein großer Stressfaktor. Außerdem haben wir gesehen, dass sich Familientrennungen sehr negativ auf das psychische Wohlergehen auswirken.

„Ärzte ohne Grenzen“ befürwortet in der Gesundheitsversorgung von Asylwerbern das sogenannte Firewall-Konzept. Was ist damit gemeint?

Das Konzept bedeutet im Grunde, dass es eine klare Trennung zwischen Gesundheitsversorgung und Einwanderungsbehörden oder Sicherheitsdiensten geben sollte. Das schließt auch den Datenaustausch zwischen diesen Stellen ein. Es ist wichtig, dass der rechtliche Status einer Person nicht über den Zugang zu Gesundheitsleistungen entscheidet. Das betrifft auch eine Frage der medizinischen Ethik, denn die primäre Pflicht von Gesundheitsdienstleistern ist die Versorgung von Patienten, die ärztliche Vertraulichkeit und der Schutz derselben, und keinen Schaden zu verursachen. Wenn Gesundheitsdienstleister verpflichtet sind – und in einigen Rechtssystemen sind sie das –, undokumentierte Personen der Polizei zu melden, dann hat das nicht nur Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung, sondern auch auf die medizinische Ethik und die Rolle des medizinischen Fachpersonals selbst.

„Ärzte ohne Grenzen“ ist auch in Kriegsgebieten und bewaffneten Konflikten mit Infrastruktur präsent. Was sind dort die Herausforderungen?

Das ist ein zentrales Thema. Oftmals betrachten wir in Kriegen und Konflikten die Anzahl der Opfer in Bezug auf die Anzahl der Menschen, die im Krieg oder Konflikt sterben oder verletzt werden. Es entsteht hier aber auch ein sekundärer Preis des Kriegs, nämlich der vollständige Zusammenbruch des Zugangs zur medizinischen Versorgung, der sogar zu einer höheren Sterblichkeitsrate und Morbidität führt als die direkten Opfer oder Verletzten des Kriegs. Wir können das zum Beispiel in der Ukraine beobachten. Es ist daher für humanitäre Akteure und die internationale Gemeinschaft von großer Bedeutung, Konflikte und Krisen nicht nur anhand der direkten, primären Opferzahlen zu betrachten, sondern auch die breiteren Auswirkungen auf das Gesundheitssystem zu beachten, da dies jahrelang verheerende Folgen für Gemeinschaften haben kann.

Die Zeiten sind düster, an der europäischen Außengrenze wird mit Waffengewalt gegen Flüchtende vorgegangen, Menschen werden mit Hunden gejagt. Was könnten wir hier tun, um das zu verhindern?

Aus der Perspektive der Menschen, die in Europa leben: Wir müssen uns daran erinnern, dass unsere Schicksale mit denen anderer verbunden sind. Das könnte uns dabei helfen, die Menschlichkeit wieder ins Zentrum zu rücken und der Entmenschlichung, die stattfindet, entgegenzuwirken. Gewalt und Pushbacks an den Grenzen, Tote im Mittelmeer, Zugang zu internationalem Schutz – das sind ja alles Themen, die den Rechtsstaat und den Respekt der Menschenwürde betreffen. Wir beobachten eine Kriminalisierung von jenen, die Migranten beistehen wollen, und eine generelle Verengung des Raums für die Zivilgesellschaft, sei es in Bezug auf Migration oder andere Themen. Wir müssen uns für eine Politik einsetzen, die stärker mit unserem gemeinsamen Wohl verbunden ist. Wir müssen gemeinsam und lautstark unsere Gesellschaft und auch Entscheidungsträger daran erinnern, dass wir Raum für unseres gemeinsames Wohl brauchen.



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