Ein Gesamtkunstwerk

Von Jutta Nachtwey

Vor fünf Jahren berichteten wir über das Sozialunternehmen More Than Shelters (MTS), das sich auf vielfältige Weise für die Verbesserung der Lebensräume in Flüchtlingslagern und informellen Siedlungen einsetzte. Hierfür hatte die Organisation, vom Künstler Daniel Kerber 2012 gegründet, unter anderem das nachhaltig konzipierte Zeltsystem Domo entwickelt, dessen modularer Aufbau flexible Raumstrukturen ermöglicht. Wie hat sich das in Berlin und Hamburg ansässige Unternehmen seitdem fortentwickelt und welche neuen Perspektiven haben sich eröffnet?

Auf Erfolgen ausruhen? Keine Chance! Zum einen liegt dies wohl nicht im Wesen des More Than Shelters-Gründers Daniel Kerber, zum anderen stellte das Weltgeschehen ihn immer wieder vor völlig neue Herausforderungen. Als sein Team die interkulturelle Arbeit in Krisengebieten auf einen guten Weg gebracht hatte, setzte der Flüchtlingsstrom nach Europa ein – und Hilfe war plötzlich auch auf den griechischen Inseln, entlang der Balkanroute und sogar zuhause gefragt. MTS schuf mit Domo-Zelten vielerorts flexible Räume für soziale Interaktionen und weitete seine Arbeitsfelder aus – aber dann kam die Covid-19-Pandemie. Das Hin- und Herreisen zwischen Deutschland und den Krisengebieten war nicht mehr möglich. Auch wenn die bereits angestoßenen Projekte dort weiterlaufen, neue Pläne lassen sich derzeit vor Ort nicht initiieren.
Umso stärker hat sich das Team nun der Integration in Deutschland verschrieben. Ziel ist es, auf nachbarschaftlicher Ebene Ankommende und Alteingesessene zusammenzubringen, wobei MTS soziale Arbeit und Raumbespielung kombiniert. Mit ihren Konzepten lassen sich Menschen nicht nur schneller und besser integrieren, es entsteht dabei auch ein Mehrwert für das jeweilige Viertel. In Stuttgart wurde etwa ein Lernzelt für Flüchtlingskinder und Kids aus der Umgebung ins Leben gerufen, das als temporärer Baustein einer neuen sozialen Infrastruktur konzipiert ist. Auch in Berlin ist MTS als Urban Design-Team aktiv, etwa mit einem vierjährigen Integrations-Management-Projekt im Bezirk Charlottenburg. Ab 2021 kommen zwei sechsjährige Quartiersmanagement-Projekte in Neukölln und Schöneberg-Tempelhof hinzu. Grundsätzlich geht es bei diesen Konzepten darum, alle Akteure – MTS nennt sie „Stadtnutzerinnen und Stadtmacherinnen“ – zu befähigen, gemeinsam die Zukunft des Viertels positiv zu gestalten.
Neben diesen sozialräumlichen Interventionen hat die Organisation ein Arbeitsfeld eröffnet, das sich den Methoden des Social Design widmet. Kerber selbst setzt hier derzeit einen Schwerpunkt. Basierend auf den praktischen Erfahrungen arbeitet er daran, die Strategien für Transformationsprozesse weiterzuentwickeln und die Ergebnisse zu publizieren. Sein Team entwickelt auch maßgeschneiderte Konzepte für Projekte von Stiftungen, Unternehmen und Initiativen, die ihrerseits positiven Einfluss auf die Gesellschaft nehmen möchten.

Die interkulturelle Arbeit, die ursprünglich in der Ferne begann, kommt nun also auch der hiesigen Gesellschaft auf vielfältige Weise zugute. Wir Europäer können diesen Input dringend gebrauchen. Denn wir bleiben uns selbst weiterhin Antworten schuldig, wie wir angemessen mit der Not Geflüchteter umgehen – und inwiefern unsere Ohnmacht uns selbst schleichend verändert, indem sie die Gültigkeit unserer hehren europäischen Werte zunehmend infrage stellt.


Kurzer Rückblick: Im Herbst 2015 gab es eine Hilfsbereitschaft, die zugleich für elastischen sozialen Kitt sorgte. Beim Sortieren von Altkleidern für Geflüchtete arbeitete etwa ein feiner Herr mit Hornbrille und Tweed-Sakko ganz selbstverständlich mit einem Obdachlosen in den Hamburger Messehallen zusammen. Beide wollten dasselbe: helfen. Sie teilten eine Haltung, unabhängig von sozialen Gräben oder Berührungsängsten. Für einen winzigen Moment blitzte durch, wie sich unsere Gesellschaft angesichts der Not anderer neu formieren und regenerieren könnte. Da diese Prozesse von rassistischer Unkultur unterlaufen wurden, erscheint das Wirken von MTS umso wertvoller – es erzeugt und verstärkt auf mehreren Ebenen solche sozialen regenerativen Energien und treibt dadurch einen Wandel voran, von denen Zugewanderte und Alteingesessene gleichermaßen profitieren.

Daniel Kerber, Gründer des Sozialunternehmens More Than Shelters, wurde bereits vielfach ausgezeichnet. Er erhielt beispielsweise 2014 den 1. Preis des Ideenwettbewerbs „Weltverbesserer gesucht“ der ZEIT Verlagsgruppe und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius und wurde 2015 von der BMW Foundation Herbert Quandt zum „Responsible Leader“ gekürt.

INTERVIEW

Ursprünglich haben Sie in Krisengebieten gearbeitet, nun geht es um Quartiersarbeit im Berliner Kiez. Wie hängen diese Arbeitsfelder zusammen?
In Jordanien mussten wir Methoden aus dem Urban Design und der Quartiersverwaltung in diese extremen Kontexte übersetzen, um sie dort für die interkulturelle Arbeit und die Entwicklung urbaner Strukturen nutzen zu können. Dabei haben wir viel gelernt und insbesondere mit Beteiligungsformaten sehr gute Erfahrungen gemacht, die wir nun zuhause wieder einbringen können. Dies hat es uns erleichtert, die Quartiersarbeit und das Urban Design hierzulande zu einem weiteren Schwerpunkt auszubauen. Auf diese Weise hat sich für uns der Kreis geschlossen.

Zur Verbesserung der Lebensräume in Flüchtlingslagern hatten Sie ein modulares, nachhaltiges Zeltsystem entwickelt. Wie hat es sich bewährt und für welche Zwecke wird es heute genutzt?
Es bietet zum Beispiel Raum für Schulen, Kindergärten und mobile Krankenhäuser. Damals war unser Plan, Zeltstoff und Außenhaut vor Ort zu produzieren, aber als kleine Organisation ist es uns nicht gelungen, die gesamte Wertschöpfungskette neu aufzubauen. Dennoch, die 100-prozentige Trennbarkeit der Materialien hat sich bewährt: Bei Verschleiß kann man einzelne Elemente ganz präzise ersetzen und den Abfall dem Re- oder Upcycling zuführen. So entstanden im Flüchtlingslager Za’atari auch Nebenprojekte wie die Herstellung von Taschen aus ausrangiertem Zeltstoff.

Welche Rolle spielen Umweltfragen heute in den verschiedenen Arbeitsfeldern?
Wir sind immer weiter weggekommen von klassischer Produktgestaltung, deshalb stellen sich die Materialkreislauf-Themen immer weniger. Wir bemühen uns aber, den CO2-Fußabdruck unserer Reisen und unserer Projekte zu minimieren. Nachhaltigkeit ist grundsätzlich immer noch Kern unserer Aktivitäten. Wenn wir Systeme beeinflussen, muss dies eine langfristige, nachhaltige Verbesserung bieten – und zwar in sozialer, ökologischer und ökonomischer Hinsicht.

Wenn Sie darauf zurückblicken, was Sie sich bei der Gründung von MTS erhofft hatten – was ließ sich davon realisieren und welche Hindernisse tauchten auf?
Von Anfang an ging es bei More Than Shelters ja um das Mehr, also nicht nur um einfache, eindimensionale Lösungen. Denn die komplexen Kontexte in den Krisengebieten erfordern ganzheitliche Konzepte. In unserem Ursprungsarbeitsfeld haben wir das sehr gut entwickeln können und durch die anderen Arbeitsfelder wird nochmal deutlicher, um was es uns
eigentlich geht. Das ist jetzt natürlich eine schöne Erzählung, in zwei Minuten zusammengefasst, aber diese Reise war nicht leicht und vielleicht auch nicht so stringent. Und natürlich war die Finanzierung immer wieder eine echte Herausforderung – die ersten acht Jahre
waren finanziell extrem stressig. Aber eigentlich bin ich sehr glücklich mit dem jetzigen Zustand, weil sich die Ursprungsvision nun in aller Breite entfaltet und noch darüber hinaus wachsen kann.

Seit 2015 hat sich das politische Klima und die gesellschaftliche Haltung gegenüber Flüchtlingen deutlich verändert. Wie wirkt sich das auf Ihre Arbeit aus?
Der politische Kontext hat uns nicht gerade in die Karten gespielt. Am Anfang gab es diese Willkommenskultur, aber nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015/16 in Köln kippte die Stimmung und die AFD brachte ganz andere Narrative an den Start. Auch jenseits des politischen Kontextes hat sich ein defizitorientierter Diskurs eingeschliffen – nach dem Motto „Die kommen hierher und die nehmen uns was weg und die können doch nichts“. Wir gehen dagegen sehr ressourcenorientiert vor: Die Ankommenden bringen eine Menge mit, auch viele Fähigkeiten. Darauf aufbauend schauen wir, was gemeinsam möglich ist. Auf dieser nachbarschaftlichen Ebene merken wir auch, dass die Willkommenskultur noch sehr lebendig ist!

Eine Frage darf natürlich nicht fehlen: Konnten Sie sich Ihre ursprünglich künstlerische Denkweise bis heute bewahren?
Ich hab’ ja insgeheim die Hoffnung, dass irgendwann mal jemand erkennt, dass das Ge-samte hier eigentlich ein Gesamtkunstwerk ist (lacht).

Wenn man Beuys’ Begriff der Sozialen Plastik zugrunde legt, ist es das auf jeden Fall!
Ja, Beuys und Buckminster Fuller, das sind schon Figuren, die mich geprägt haben. Tat-sächlich hatte ich nie das Gefühl, dass ich mich von irgendetwas weg entwickle. Auch wenn es jetzt nicht mehr um große internationale Ausstellungen geht – die Denkweise oder Arbeitsweise ist total gleich. Ich hab einfach nur den Wirkkontext geändert. 


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