EIN LAND SCHWIMMT GEGEN DEN STROM

Costa Rica wurde im vergangenen Jahr als Vorreiter auf dem Gebiet des Klimaschutzes ausgezeichnet. Auch sonst setzt der mittelamerikanische Staat gezielt auf Nachhaltigkeit und Renaturierung – mit erstaunlichem Erfolg.
Von Kurt de Swaaf
Tropenstation La Gamba Comedor, Foto Ch. Hartmann

Der Río Bonito macht seinem Namen alle Ehre. Wild und dynamisch schlängelt sich der „schöne Fluss“ durch die Tropenlandschaft, seine Ufer säumen Regenwald, Weiden und Plantagen. Auf den Überflutungsflächen suchen Helmbasilisken nach Futter, Blattschneiderameisen marschieren in dichten Kolonnen über den Kies. Im Wasser blüht ebenfalls das Leben. Schwärme von Kleinfischen huschen durch die Fluten, an ruhigeren Stellen lauern Machacas, harmlose, aber äußerst wohlschmeckende Verwandte der Piranhas, auf vorbeitreibende Früchte oder Insekten. Ein Gewässer wie aus dem Bilderbuch. Was allerding am meisten auffällt, ist das, was fehlt: Plastikmüll. Keine Spur von den sonst fast überall auf der Welt präsenten Fetzen und PET-Flaschen, die Äste der ufernahen Bäume sind tatsächlich sauber. Erst nach längerem Suchen findet man ein Stück Saatgutsack. Unglaublich, eigentlich.


Es war wohl nicht immer so. Noch vor knapp drei Jahrzehnten wurde auch in Costa Rica massig Abfall achtlos in der Natur „entsorgt“, wie der Botaniker und Landeskenner Anton Weissenhofer zu berichten weiß. Inzwischen hat sich aber die Einstellung vieler Menschen geändert. Zwar produzieren die rund fünf Millionen Einwohner des mittelamerikanischen Staats täglich an die 4.000 Tonnen Müll, wovon circa 11 Prozent Plastik sind, doch der Trend ist positiv. 2017 startete die Regierung ihre nationale Strategie zur Verbannung von Einwegplastik. Bis 2021 soll der Verbrauch fast komplett gestoppt sein. Die Müllabfuhr wird verbessert, und landauf, landab sammeln Freiwillige vagabundierenden Dreck ein. Mit offensichtlichem Ergebnis.

Die Vermüllung ist nicht das einzige Problem, dem Costa Rica konsequent den Kampf angesagt hat. Ob Energieversorgung, Ökologie, Gesundheitssystem oder Bildungssektor: das Land gilt in vielerlei Bereichen als Musterschüler in Sachen nachhaltiger Entwicklung. Gut ein Viertel seiner Gesamtfläche stehen mittlerweile unter Naturschutz. Im vergangenen Jahr wurde Costa Rica für sein Engagement gegen den Klimawandel von den Vereinten Nationen mit dem Umweltpreis „Champions of the Earth“ ausgezeichnet. Bereits jetzt decken erneuerbare Energien gut 98 Prozent des Elektrizitätsbedarfs. In 30 Jahren soll die komplette Wirtschaft klimaneutral sein, Verkehr inklusive. Natürlich haben sich auch viele andere Staaten und die EU derartige Ziele gesetzt. Leider jedoch hapert es oft an der Umsetzung. Die Ticos indes, wie sich die Costa-Ricaner selber nennen, lassen auf Worte gerne Taten folgen. 1949 zum Beispiel schafften sie nach einem Bürgerkrieg die Armee ab – eine radikale Lösung zur Verbesserung der politischen Stabilität. Das eingesparte Geld sollte zudem der Bildung und der medizinischen Versorgung zugutekommen. Die Strategie ist aufgegangen. Heute gilt Costa Rica gewissermaßen als die Schweiz Mittelamerikas.

Zurück an den Río Bonito. Wenige hundert Meter vom Ufer entfernt führt Anton Weissenhofer seine Besucher durch matschiges Gelände. Es ist Regenzeit in einer eh schon sehr regenreichen Region. Bis zu 6000 Liter gehen hier, am Golfo Dulce im Südosten der Küstenprovinz Puntarenas, jährlich auf einen Quadratmeter nieder. Der Vegetation bekommt’s. Weissenhofer deutet auf einen über zehn Meter hohen Baum mit ausladenden Ästen. „Eine Inga oerstediana“, erklärt er. Die Art gehört zu den Leguminosen, sprich Hülsenfrüchtler, und ist somit eine Verwandte von Bohnen- und Erbsenpflanzen. Wie alt mag dieses stolze Gewächs sein? Fünf Jahre, antwortet Weissenhofer. Unglaublich. Der Stamm misst bereits 1,20 Meter Umfang. Der Botaniker und sein Team haben den Baum selbst gepflanzt, zusammen mit 11.500 weiteren Setzlingen. Das Terrain, die Finca Amable, war bis 2012 ziemlich ausgelaugtes Farmland – zuerst Bananenplantage, dann Reisfeld, und schließlich Viehweide. Jetzt wächst hier neuer Regenwald, geschaffen von Menschenhand.

Das Projekt steht exemplarisch für eine weitere Erfolgsgeschichte der costa-ricanischen Umweltpolitik: die Wiederbewaldung. Während anderswo in der Welt fortwährend abgeholzt wird, breitet sich hierzulande der Dschungel wieder aus. 53 Prozent der Fläche Costa Ricas ist heute waldbedeckt, Tendenz weiterhin steigend. Anton Weissenhofer ist einer der vielen treibenden Köpfe hinter dem Umschwung. Als Wissenschaftler der Universität Wien gründete er 1993 zusammen mit seinem Kollegen Werner Huber die biologische Station La Gamba am Rande des Nationalparks Piedras Blancas. Die Einrichtung dient nicht nur der Forschung und der Lehre, sondern eben auch dem aktiven Naturschutz. Die Österreicher arbeiten in enger Kooperation mit costa-ricanischen Fachleuten. Eines ihrer Hauptziele ist die Entwicklung von Renaturierungskonzepten. Man betreibe keine klassische Wiederaufforstung, betont Weissenhofer. Bäume an sich machen schließlich noch keinen Dschungel. Stattdessen versuchen die Experten, das ursprüngliche Ökosystem zu rekonstruieren. Eine hochkomplexe Herausforderung.
Ohne detailliertes Grundlagenwissen sind solche Vorhaben natürlich zum Scheitern verurteilt. Weissenhofer und seine Mitstreiter haben in den vergangenen Jahrzehnten fast die gesamte Gehölz-Flora der Region katalogisiert. Gut 600 Baumspezies sind im Gebiet rund um den Golfo Dulce heimisch, rund 100 davon benutzen die Botaniker für ihre Pflanzungen. Die meisten Setzlinge werden in einer eigenen Baumschule aufgezogen. Welche Arten auf einer bestimmten Fläche zum Einsatz kommen, hängt von den lokalen Bedingungen ab. Das Team, erklärt Weissenhofer, untersucht entscheidende Faktoren wie pH-Wert, Struktur und Zusammensetzung des Bodens und die Sonneneinstrahlung. „Das Wichtigste jedoch ist das Wasser.“

Auf der Finca Amable gab es deutlich zu viel davon. Nach dem Kauf des Geländes mussten die Wald-Architekten erst mal Drainagegräben ziehen. Leider war zudem die natürliche Samenbank, die jahrelang im Boden überdauern und eine Renaturierung unterstützen kann, praktisch vollständig zerstört. Von sich aus wäre nur Pioniergestrüpp gekeimt. Was tun? Die Forscher gingen aufs Ganze und pflanzten ihr gesamtes Arteninventar. Das Experiment gelang. Wo einst Sumpfgras wuchert, gleicht das Terrain heute eher einem verwunschenen Park. Auch die Tierwelt kehrt zurück. Die Bäume locken Vögel an, die mit ihrem Kot neues Saatgut einbringen. Erstes Totholz dient einer Fülle von Insekten und anderen Wirbellosen als Lebensgrundlage. So zeigt sich der eigentliche Clou hinter der Wiederbewaldung: Die Wissenschaftler liefern lediglich eine gezielte Initialzündung. Schon wenige Jahre später jedoch übernimmt die Natur das Regime und entfaltet ihre geballte Kraft.

Rund 100 Jahre, schätzen Experten, wird die Regeneration eines Dschungels mitsamt seiner Artenvielfalt nach diesem Ansatz dauern. Ökologisch gesehen ist das ein erstaunlich kurzer Zeitraum. Die renaturierten Grundstücke dienen zudem noch einem weiteren wichtigen Zweck. Sie sind Teil des neu entstehenden „Amistosa“-Korridors zwischen den Schutzgebieten am Pazifik und dem Nationalpark „La Amistad“ im zentralen Hochland. Die über 40 Kilometer lange Kette aus Waldflächen soll beide Regionen miteinander verbinden und vor allem Tierpopulationen den genetischen Austausch ermöglichen. Sogar Tapire, Jaguare und Pumas würden wieder frei wandern können.

Costa Ricas Wiederbewaldung indes basiert nicht nur auf „Komplettsanierungen“ wie jene der Finca Amable. Die sogenannte Agroforstwirtschaft spielt ebenfalls eine zentrale Rolle. In ihr werden Baumpflanzungen gezielt mit Nutzgewächsen wie Kakao, Kaffee oder Vanille kombiniert. So entsteht ein äußerst produktiver Mischwald, der Bauern und vielen Tier- und Pflanzenarten gleichermaßen ein Auskommen bietet. Die Bäume sorgen unter anderem für ein stabiles Mikroklima. Sie binden Feuchtigkeit und schützen die Nutzpflanzen vor der gnadenlosen Sonne, während das Millionenheer aus Waldinsekten Blüten bestäubt und Schädlinge in Schach hält. Die costa-ricanische Regierung setzt seit Jahren auf eine gezielte Förderung der Agroforstwirtschaft. Wer den Wald schont und Bäume pflanzt, wird dafür bezahlt. Das hat viele Landbesitzer motiviert.

Allen positiven Entwicklungen zum Trotz macht der globale Druck vor Costa Rica leider nicht halt. Multinationale Konzerne treiben zum Beispiel den Ananas-Anbau auf immer größeren Flächen voran – Billigware, zu einem Großteil für den europäischen Markt. Auch wenn dafür kein Dschungel abgeholzt wird, sind die ökologischen Schäden dennoch enorm. Erosion zerstört die Böden, und der gewaltige Pestizideinsatz belastet die Umwelt. Die Auswirkungen sind oft noch dutzende Kilometer weiter messbar. In der Provinz Puntarenas bedrohen Ananasplantagen im Inland inzwischen sogar die Mangrovenwälder an der Küste, wie lokale Umweltschützer berichten. Ihr Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Palmöl-Produzenten haben derweil ein Auge auf Grundstücke im Gebiet des „Amistosa“-Korridors geworfen. „Denen dürfen wir das Land nicht überlassen“, betont Anton Weissenhofer.

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