EIN LETZTES MA(H)L IN HACKNEY WICK
Restaurants wie das Silo in Hackney Wick mit einer radikalen Zero Waste-Philosophie werden die neuen Leitbetriebe
Text und Fotos Jürgen Schmücking
Vor wenigen Tagen musste das Silo in London schließen. So wie tausende andere Restaurants auf der Welt. Kein großer Krieg, ein kleiner Virus hat die Welt ausgebremst. Jürgen Schmücking war für ORIGINAL in East London und hat das Lokal an einem seiner letzten Abende besucht. An diesem Abend wusste noch niemand, dass das Silo weniger als zwei Wochen später dichtmachen muss. Aus heutiger Sicht gibt der Abend aber Hoffnung. Denn was Douglas McMaster und sein Team im Silo leben, ist nichts weniger als enkeltaugliche Gastronomie. Wenn wir Corona und seine Folgen hinter uns gelassen haben, werden die Feuer wieder brennen und die Töpfe dampfen. Und Restaurants wie das Silo mit einer radikalen Zero Waste-Philosophie werden die neuen Leitbetriebe sein.
Es fühlt sich eigenartig an, im Moment über Restaurants zu schreiben. Die meisten haben bzw. wurden mittlerweile geschlossen. „Auswärts essen“ war in den letzten Tagen vor der Quarantäne und der behördlichen Schließung nur noch möglich, um die Grundversorgung zu gewährleisten. Fine Dining verlor über Nacht jegliche Relevanz, und Mitarbeiter in der Küche und im Service jegliche Orientierung. Wir haben uns aus zwei Gründen trotzdem dafür entschieden, über das Silo zu schreiben. Erstens aus Respekt gegenüber dem, was hier geleistet und geboten wurde und zweitens, weil die Philosophie und Gedanken von Douglas McMaster, dem Chef, von beträchtlicher Relevanz für die Zukunft der Gastronomie sind.
Beginnen wir dort, wo alles begann. 2014 öffnete das Silo seine Pforten in Brighton. Der Standort war sorgfältig gewählt. Die Südküste Englands gilt schon lange als ökofreundliches Terrain mit einer vitalen Bio-Szene und einer aktiven veganen Community. McMaster rannte in Brighton offene Türen ein und nutzte die Zeit, um seine Philosophie zu schärfen und um Strukturen aufzubauen. Das funktionierte auch. Nur wollte der Chef zurück nach London. Immer schon. Hier, genauer gesagt im St. Johns Bread & Wine am Spitalfields Market, lernte er sein Handwerk. Nicht nur das. Die Zeit prägte ihn: „St. John was the most important establishment that Iʼve worked at because of their philosophy and approach to gastronomy. Fergus [Henderson] and Trevor [Gulliver] were very much like: ‚thereʼs a rulebook, but we donʼt believe that rulebook, so weʼre not going to use the rulebook. Weʼre going to make our own rulebook.“
Das prägte den jungen Mann nicht nur, es kam ihm auch sehr entgegen. Mit Regeln hatte es Douglas McMaster nämlich noch nie so wirklich. Viel eher war Douglas das, was wir einen „Schulversager“ nennen. „Over a decade ago, before Silo was born, I dropped out of school. I didn’t like school. I’m dyslexic, dyscalculic, dys-everything.” Douglas flog also aus der Schule, landete direkt in einer Küche und wusste sofort, dass er hierhergehört. Die Küche war für den jungen Wilden ein Ort wie ein Piratennest. Hierarchisch und strukturiert einerseits, chaotisch und anarchisch andererseits. Er schätzte die kreative Freiheit, die er im Klassenzimmer so vermisste. Es folgten – durchaus üblich bei ambitionierten Youngsters, die Küchenblut geleckt haben – Jahre der Wanderschaft. Den größten Einfluss aber hatte Fergus Henderson’s St. John Bread and Wine. Hier lernte Douglas, wie wichtig es ist, nicht des Kochens wegen zu kochen, sondern eine Vision zu haben. „St. John taught me to cook for a reason: respect the produce, banish all that is superfluous, cook the whole food, cherish the whole beast, obey the seasons”, schreibt er ganz vorne in seinem Buch.
Zurück zum Silo. 2019 eröffnete das Lokal im hippen Londoner Viertel Hackney Wick. Direkt am Kanal gelegen und in partnerschaftlicher Nachbarschaft zur Crate Brewery (deren Biere es klarerweise auch im Silo gibt). Im Lokal stehen 10 große, runde Tische und eine Bar, deren Oberfläche aus upgecyceltem Plastik gefertigt ist. Der Gedanke der Nachhaltigkeit endet nicht bei den Gerichten und den Zutaten. Im Gegenteil. Er beginnt bereits im Raum. Gläser werden aus Weinflaschen gefertigt, Teller aus Plastiksackerl. Jedes davon ein Unikat, und wenn Douglas gut drauf ist, zeigt er den Gästen seine Lieblingsstücke.
Abends wird (wir gehen davon aus, dass sich alles wieder zum Guten fügt und bleiben beim Präsens) ein 6-gängiges Degustationsmenü serviert. Nach Brot (Siloaf) und Butter (eine Woche gereift) werden die ersten Tomaten der Saison aus Sussex serviert. Gesalzen, leicht gedämpft, mit Ricotta und geräuchertem Garum, einer fermentierten Fischsauce, die sich – trotz des Raucharomas – viel feingliedriger und eleganter präsentiert als viele ihrer Artgenossen. Danach Randig. Oder Rote Bete, wie der Rest des Landes sagt. Zuerst wurde sie getrocknet (de-hydriert), dann, wieder re-hydriert und mit Buchweizen, Miso und Crème fraîche angerichtet. Dann, als dritter Gang, kam
der Knaller. Geräucherter Pink fir potato
(aka „Rosa Tannenzapfen”). Eine faustgroße und intensive Kartoffel, geräuchert über dem offenen Feuer im Kamin. Dem schlagenden Herz des Silo im Übrigen. Dazu Buchweizen-Koji und (eingelegte) Blüten vom wilden Knoblauch. Das Gericht ist so einfach wie genial. Komplex, filigran und unglaublich köstlich.
Vor dem Hauptgang ein paar Worte zur Douglas McMasters Verhältnis zum Fleisch. Und zu den Fischen. Irgendwo in seinem Buch stellt er die Frage, ob der Verzehr von Tieren aus ethischen Gründen zu rechtfertigen ist. Seine Antwort ist kurz und kristallklar: „No, it isn’t, is it?” Warum es also im Silo doch Gänge mit Fisch und Fleisch gibt, liegt daran, dass er für seine Regel klar definierte Ausnahmen hat. Rindfleisch kommt bei ihm nur in die Töpfe, wenn es von pensionierten Milchkühen kommt. Kalbfleisch nur, wenn es sonst entsorgt würde (was häufiger der Fall ist, als allgemein bekannt). Zwei Ausnahmen klingen radikal, sind aus Sicht seiner Philosophie aber schlüssig: Roadkill und Lab Meat. Mit Roadkill sind bei Wildunfällen verendetes Wild (Hase, Reh & Co) gemeint, mit Lab Meat im Labor gezüchtetes Fleischgewebe. Das eine (Roadkill) ist bei uns aus lebensmittel- und jagdrechtlichen Gründen (noch) nicht denkbar, das andere (Lab Meat) ist in der Herstellung (noch) so teuer, dass die Diskussion darüber bestenfalls eine akademische ist. Und dann sind als Ausnahmen auf Douglas’ Liste noch invasive Arten und „creatures that have no brain or nervous system“. Bei „invasiven Arten“ bewegt sich der Koch in der bekannten Gedankenwelt der heimischen Jägerschaft: „A deer without ist natural predator can damage the environment; ethically speaking, we can play wolf. Rabbits are another pest – from a naturalist’s perspective it’s necessary that they die. Likewise with fish. There are a number of examples where there is an unnatural balance, be it crayfish (Flusskrebse) invading our rivers or cephalopods (Oktopus) overpopulating our oceans.”
Der Hauptgang im Menü war eine Rentnerin. Eine ausgediente friesische Milchkuh, um genau zu sein. Dry aged, geschmort und insgesamt recht klassisch.
Lara aus Brasilien ist leidenschaftliche Köchin. Ihr Herz schlägt für Lebensmittel und Nachhaltigkeit. Wir diskutierten über die einzelnen Gänge, über Cider und die zu den Gerichten servierten Weine, während sie behutsam Blüten vom wilden Knoblauch öffnete. Das ist 10 Tage her. Seit ein paar Tagen ist das Silo geschlossen. In ihrem letzten Posting auf Instagram sucht Lara Nachmieter für ihr Apartment. „Anyone looking for 1 bed flat in Hackney Central. Ours is up for grabs as of next week.“
Einen Tag später meldet sich Lara wieder zu Wort. Schon deutlich zuversichtlicher. „What-
ever happens now, the Silo dream doesn’t end here. Its bigger than all of us. It’s too important, too urgent, too necessary. Thank you for everything guys. We will see each other again soon.“
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