Eine Lawine rollt an

Umwelt-Kolumne von Gerlinde Pölsler

Derzeit sind wir weit davon entfernt, die Pariser Klimaziele zu erreichen. Was uns retten könnte: Nicht nur beim Klima, auch in der Gesellschaft gibt es Kipppunkte – und dann verändern sich Dinge rasant.

Das Piktogramm, das freiheitliche Mandatare auf Facebook posteten, zeigt einen männlichen Menschen, der einer auf der Straße sitzenden Person auf den Kopf uriniert. Eine Rachefantasie gegen jene Klimaaktivistinnen und -aktivisten, die den Autoverkehr blockieren, indem sie sich an Straßen festkleben. Eine zentrale Forderung: Tempo 100 auf der Autobahn. FPÖ-Parteichef Herbert Kickl rechtfertigt das Herumschicken des Bildes damit, es sei eine Warnung, dass die „Klimachaoten” eine „Eskalation” auslösen könnten.

Allerdings könnte die Stimmung auch in die genau entgegengesetzte Richtung kippen als die von Kickl erhoffte.

Aus der Klimaforschung kennen wir Kipppunkte: Der sibirische Permafrost, der auftaut, das Grönländische Eisschild, das wegschmilzt – und einen Strudel an Folgewirkungen in Gang setzt. Nun haben die Klimaforscher die sozialen Kipppunkte entdeckt: Auch Einstellungen und Werte einer Gesellschaft wandeln sich nicht bloß langsam und gleichmäßig – ein einzelnes Ereignis, eine soziale Bewegung kann eine Lawine lostreten. Was gestern noch cool war, gilt morgen als unsozial oder ewiggestrig.

Um die Pariser Klimaziele zu erreichen, müssen die CO2-Emissionen jährlich um mindestens sieben Prozent sinken, schreiben die Klimaforscher Ilona Ott, Hans Joachim Schellnhuber und weitere Autorinnen und Autoren in ihrem Aufsatz „Soziale Kippdynamik zur Stabilisierung des Erdklimas bis 2050”. Das würde sogar jene Rückgänge „bei weitem übertreffen, die nur in Zeiten massiver sozioökonomischer Krisen im 20. Jahrhundert, wie dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Kommunismus, erreicht wurden”. Aber wie schaffen wir das?

Über soziale Kipppunkte, so die Autoren. Um diese zu erreichen, genügten oft 15 bis 25 Prozent an Zustimmung, erklärte Ilona Ott in der Berliner taz: „Sozialer Wandel ist ansteckend.” Das gilt natürlich in alle weltanschaulichen Richtungen: Rechte Parteien treiben alle anderen mit ihren Ansichten zur Flüchtlingsfrage vor sich her. Umgekehrt kann keine mehr feministische Strömungen ignorieren.

Als Beispiel für einen Punkt, als in der Gesellschaft Großes ins Rutschen geriet, nennen die Studienautoren die Schriften Martin Luthers: Die Gesellschaft war aufnahmebereit, die neu verfügbare Drucktechnologie verbreitete die Lehren – weltweit etablierten sich evangelische Kirchen. Zum politischen Kipppunkt kommt es dann, „wenn die Debatte von der Moral in das Gesetz überwechselt”, so Ott. „Im Feminismus war er erreicht, als Frauen das Wahlrecht bekamen.”

Für das Klima gelte es nun, kleine Interventionen mit großer Wirkung zu setzen. Als Beispiel nennt sie den Abzug von Kapital aus verschmutzenden Industrien. Eine relativ kleine Zahl von Investoren, die aus fossilem Kapital flüchten, könnte den Markt drehen.

Was heißt das alles für die Klimaaktivisten und Tempo 100?
Was die Regierung von niedrigeren Tempolimits abhält, sind ausschließlich Emotionen – jene wütender Autofahrer. Die Aktionen der „Letzten Generation” schaffen es nun, dass alle die Debatte mitbekommen – und mancher nachzudenken beginnt.

Die Fakten sind nämlich eindeutig. Der Verkehr ist in Österreich der einzige Bereich, in dem die Emissionen immer noch steigen. 2021 lagen sie hier sogar um 57 Prozent höher als 1990. Laut Umweltbundesamt emittiert ein Pkw bei Tempo 100 statt 130 um knapp ein Viertel weniger CO2, um die Hälfte weniger Stickoxide und ein Drittel weniger Feinstaub. Tempolimits bedeuten auch weniger Lärm und weniger Unfälle. Sie sind einfach, schnell umsetzbar, billig und sozial gerecht.

Käme außerdem noch Tempo 80 auf Freilandstraßen und 30 für Ortsgebiete, dann würden öffentliche Verkehrsmittel und Radfahren sofort attraktiver, weil Unterschiede in der Reisezeit abnähmen, so der Verkehrsplaner Günter Emberger von der TU Wien im Standard. Es bräuchte weniger eigene Radwege, „da der Radverkehr mit dem Autoverkehr ‚mitschwimmen‘ könnte.”

„Wir wollen 10 bis 15 Prozent der Menschen dafür gewinnen, aktiv zu werden“, erklärte Klimaaktivist Florian Wagner von der „Letzten Generation” in der Sonntagskrone. Nach der Kipppunkte-Theorie tun sie das Richtige. Fordert eine kritische Masse lautstark und lange genug eine konsequente Klimapolitik, wird sich irgendwann auch die Politik drübertrauen.


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