Ernährung sichern

Wie kann die österreichische Lebensmittelproduktion internationale Abhängigkeiten reduzieren und das richtige Maß an Import und Export finden? Die Suche nach Antworten führt uns aufs sogenannte WeltTellerFeld und zum Konzept der Ernährungssouveränität.
Von Sarah Kleiner, Fotos Stefan Fuertbauer

„Bevor wir anfangen, ruft euch bitte das letzte Gericht, das ihr zu euch genommen habt, vor Augen. Frühstück, Mittagessen oder Kaffee – welche Zutaten standen auf dem Tisch?“, fragt Charlotte Kottusch. Wir stehen neben einem bunt durchwachsenen Feld, ein Teil mit Weizen bepflanzt, ein anderer mit Soja und Mais. Obst- und Nussbäume, Hanf, Beerensträucher und vieles mehr wächst auf gekennzeichneten Flächen rund um die Besucherinnen und Besucher des WeltTellerFeld. Das gemeinsame Projekt von Brot für die Welt, dem Ernährungsrat Wien, dem Verein Hallo Klima! und der Kleinen Stadtfarm macht sichtbar, wie und wo unsere Nahrung entsteht. Mit einer Größe von gut 3.000 Quadratmetern zeigt es am Rande Wiens jene Fläche auf, die eine durchschnittliche Person aus Österreich im Jahr für ihre Ernährung benötigt, und zwar im In- und im Ausland.

Der Sommer des Jahres 2022 hat uns auf unterschiedlichen Wegen gezeigt, wie abhängig die Staaten der Erde von einem globalen Netz der Lebensmittelversorgung sind. Ein Krieg in Europa kann Hungersnöte in afrikanischen Staaten bewirken, auch in Österreich bekommt man das Ausbleiben von Importen mit den steigenden Lebensmittelpreisen zu spüren. Und durch die klimatischen Veränderungen werden altbewährte Strukturen zusätzlich strapaziert, Dürren oder Wetterextreme lassen ganze Ernten ausbleiben. Ein guter Anlass also, um sich mit den möglichen Auswegen aus der Abhängigkeit zu beschäftigen.

„Etwa 55 Prozent der Lebensmittel, die in einem Jahr in Österreich konsumiert werden, stammen aus dem Ausland“, erklärt Charlotte zu Beginn des Spaziergangs durch unsere Ernährung. „Bei den pflanzlichen Produkten, die wir importieren, handelt es sich dabei nur zu einem kleinen Teil um solche, die in Österreich nicht wachsen könnten. Datteln, Ananas oder Kaffee zum Beispiel“, sagt sie. Solange diese Lebensmittelimporte aufrecht bleiben, kann man davon sprechen, dass in Österreich Ernährungssicherheit gegeben ist. Ernährungssicherheit hat eine politische Dimension, in internationalen Rankings wie dem „Global Food Security Index“ liegt hier Österreich durchaus im Spitzenfeld. Sie bedeutet aber oft nur, dass Lebensmittel für die Bürgerinnen und Bürger erschwinglich oder durch ein dichtes Netz an Lebensmittelhändlern ausreichend erhältlich sind. Die Frage, was geschieht, wenn internationale Warenströme abreißen, bringt uns zu Fragen der Ernährungssouveränität.

Österreich ist keine Insel
„Es wäre eine Illusion, ein Land losgelöst von allen anderen Staaten zu betrachten, sie stehen im Lebensmittelbereich immer in einem Verhältnis zueinander. Derzeit geht die Sicherheit von einigen stark auf Kosten anderer“, sagt Franziskus Forster von Via Campesina Austria, der „Österreichischen Kleinbäuer_innen Vereinigung“ (ÖBV) in einem Telefonat nach dem Besuch am Feld. La Via Campesina ist international vernetzt und seit über 20 Jahren federführend bei der Definition und Realisierung von Ernährungssouveränität. „Wenn wir von Ernährungssouveränität sprechen, dann ist das nicht zu verwechseln mit nationaler Selbstversorgung oder Autarkie“, sagt er. „Vielmehr geht es um die Art und Weise, wie Lebensmittel produziert, verteilt und konsumiert werden und wer dabei profitiert.“

Forster gibt hinsichtlich von Indizes zur Ernährungssicherheit zu bedenken, dass Import- und Ressourcenabhängigkeiten bei Pestiziden, Kunstdünger, Futtermitteln oder auch von billigen Arbeitskräften oft nicht einkalkuliert werden. Nehmen wir das Beispiel Schweinefleisch. Hier hat Österreich einen Selbstversorgungsgrad von 106 Prozent, was so viel bedeutet, dass sechs Prozent des hergestellten Fleischs nicht benötigt werden, um die Nachfrage im Land zu decken. Was dieser Grad nicht miteinbezieht, ist die Menge an Futtermitteln, die dafür importiert werden muss, oder die in der Produktion eingesetzten Pestizide und Kunstdünger, die ebenfalls großteils außer Landes hergestellt werden. Am WeltTellerFeld wird Österreichs Abhängigkeit von Futtermittelimporten ersichtlich: Zwei Drittel der 3.000 Quadratmeter werden von Weide und Futterpflanzen eingenommen, etwa die Hälfte davon steht für die Menge, die importiert wird.

Ernährungssouveränität kann und soll also nicht bedeuten, Importe gegen Null zu reduzieren. Sie würde aber im Bezug auf den internationalen Handel bedeuten, dass die Versorgung der Bevölkerung mit gesunden und leistbaren Lebensmitteln an erster Stelle steht. Ernährungssouveränität umfasst die Etablierung von lokalen Produktionssystemen und die Mitbestimmung der lokalen Erzeuger in strukturellen Fragen. Auch die Regulierung des Markts, der Schutz vor „Dumping“, vor billigen Importen, die sozialer Ausbeutung oder Raubbau an der Natur entstammen, kann zu einer stabilen Versorgung beitragen. Nicht zuletzt ginge es um ökologische und vielseitige Anbaustrukturen in der Landwirtschaft, mit möglichst geringem Einsatz von Pestiziden und Kunstdüngern. „Wir setzen uns weltweit als kleinbäuerliche Organisationen für eine Landwirtschaft und Ernährungssicherheit ein, die nicht auf Kosten anderer Menschen und der Umwelt geht. Bei Ernährungssouveränität geht es deshalb immer auch um eine bestimmte Art der agrarökologischen Bewirtschaftung, in der Bäuerinnen und Bauern einen sicheren und gerechten Zugang zu Land, Wasser und Saatgut haben“, sagt Forster.

Laut der ETC-Group werden 70 Prozent der Welternährung über die kleinbäuerliche Landwirtschaft geleistet, und das mit 30 Prozent der Ressourcen. Die Argumentation, dass agrarindustriell und monokulturell bewirtschaftete Felder den Löwenanteil der Lebensmittelversorgung leisten, stimmt also so nicht. Etwa zwei Drittel der landwirtschaftlichen Betriebe hat Europa in den vergangenen 30 Jahren verloren, in Österreich ist die Situation kaum besser: Zwischen 1990 und 2020 sind fast 45 Prozent der Betriebe abhanden gekommen. Um einen weiteren Rückgang zu verhindern, bräuchte es laut ÖBV eine Reform der EU-Agrarpolitik und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, die zum Beispiel von der Welthandelsorganisation (WTO) oder durch bilaterale Abkommen wie CETA oder Mercosur, vorgegeben werden. „Wenn wir von einem Übergang in eine nachhaltige Landwirtschaft und von Ernährungssicherheit im Sinne von Ernährungssouveränität reden, dann muss sowohl die Agrar- als auch die Handelspolitik in Frage gestellt werden. Sie muss von einer gestärkten Rolle von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, von Vielfalt und von einer Priorität für lokale Lebensmittelnetze völlig neu gedacht werden.“

Die Politik sei also gefordert, Versorgungsstrukturen zu stärken, und zwar auf nationaler und internationaler, sprich EU-Ebene. Auf persönlicher Ebene können die Österreicherinnen und Österreicher mit Blick auf das WeltTellerFeld auch mit dem eigenen Konsum zu einer Stabilisierung beitragen. „Wenn wir dieses Wissen in die Handlungsebene übersetzen, reduzieren wir unseren Flächenabdruck deutlich, je mehr wir direkt konsumieren“, sagt Charlotte Kottusch am Ende der Führung durchs WeltTellerFeld. Die Lektionen, die Besucherinnen und Besucher desselben mitnehmen, sind altbewährte: saisonal und regional einkaufen, Direktvermarktung nutzen, auf Gütesiegel achten, bewusster Fleischkonsum. „Je mehr Getreide, Gemüse und pflanzliche Proteine wir direkt zu uns nehmen, umso weniger Fläche brauchen wir, umso mehr könnte die Bevölkerung mit dem eigenen Getreide versorgt werden. So könnten wir die Ernährungssicherheit deutlich steigern.“


TIPP DER REDAKTION
Im Oktober plant u. a. Via Campesina ein öffentliches Forum zum Thema Ernährungssouveränität in Krems an der Donau. Es dient auch als Vorbereitung für ein globales Forum im Frühjahr 2023. Informationen unter: viacampesina.at. Termine für eine Führung durch das (prinzipiell öffentlich zugängliche) WeltTellerFeld finden sich auf:
welttellerfeld.at


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