„Es gibt Dinge, die haben mehr Wert als Preis“
Foto Michael M. Blank
Der Österreichische Rat für Nachhaltige Entwicklung will im Schulterschluss mit Unternehmen eine Wirtschaft gestalten, die umweltbewusst bis klimaneutral agiert und soziale Verantwortung übernimmt. Er berät, forscht und unterstützt Unternehmen bei der Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen und bei der Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Etwa 1.300 vorrangig mittelständische Firmen haben das Angebot inzwischen in Anspruch genommen. Die Theologin und Wirtschaftsethikerin Ramona Maria Kordesch hat beim Nachhaltigkeitsrat die Funktion der Direktorin für Kooperation und Entwicklung inne. Im Gespräch erklärt die gebürtige Kärntnerin und gläubige Katholikin, was christliche Werte mit der Transformation unseres Wirtschaftssystems zu tun haben und warum „Corporate Social Responsibility“ (CSR) mehr bedeutet, als eine kleine Spende oder eine gemeinnützige Einzelaktion. Von Sarah Kleiner
Frau Kordesch, Sie treten in der Öffentlichkeit offen als gläubige Christin auf, was selten geworden ist. Darf ich mir zu Beginn des Gesprächs die Frage erlauben: Warum haben Sie Theologie studiert?
Ramona Maria Kordesch: Die Theologie bietet das umfassendste Denken hinsichtlich humanistischer Bildung, aber auch was Leitfäden zu zukunftsorientierten Handeln betrifft. Sie beruht ja auf Traditionen, die in der Weltgeschichte schon viele Probleme gelöst haben, und auf moralisch-ethischen Werten. Nehmen wir die Bergpredigt: die Letzten werden die Ersten sein, die Schwächsten die Stärksten, die Ärmsten werden die Reichsten sein. Die Umkehrung der gesellschaftlichen Prinzipien ist genau das, was wir jetzt brauchen für die Lösung der großen Fragen. Das ist das Spannende an der Theologie.
Und in der Theologie gibt es Antworten?
Da gibt es Antworten. Etwas weniger theologisch erklärt: Ich glaube, dass wir die Lösungen für die Zukunft bereits alle in unseren Traditionen haben. Wir dürfen nicht immer denken, dass wir alles neu erfinden müssen. Wir müssen Dinge anders organisieren, andere Perspektiven für Problematiken finden und ich glaube, man braucht dabei einen holistischen Weltzugang. Es gibt auch eine Ökologie des Menschen und nicht nur eine Ökologie der Natur. Es gibt also auch eine soziale Frage der Nachhaltigkeit, nicht nur eine ökologische.
Baut der Kapitalismus nicht bis zu einem gewissen Grad auf eine Gesellschaft, die enthoben ist von moralischen Werten – es zählt das Überleben des Stärkeren, nicht aller?
Dafür müssen wir erst definieren, wo der Kapitalismus herkommt. Das kapitalistische Denken hat in der Theologie Martin Luthers seinen Ursprung, in der Idee, dass Arbeit, Gewinn und Effektivität etwas Gnadenvolles, Sinnvolles sind. Aber er hat sich fortentwickelt und ist zügellos geworden und vertritt heute ein Menschenbild, das uns auf den Homo oeconomicus reduziert, auf ein zweckrationales, nach Gewinn strebendes Wesen. Der Mensch ist aber auf Beziehungsfähigkeit und Dialog ausgelegt, auf Austausch von gemeinsam etablierten Werten. Alle Fremdinteressen, die das überlagern, sind problematisch, auch Habermas hat das festgestellt. Man sieht, dass der Kapitalismus ein nützliches Instrument ist, aber nicht Sinn und Zweck. Die Menschen sind orientierungslos, sie haben unzählige Optionen, aber keinen Leitfaden. Die Versinnbildlichung des Kapitalismus als Motor der Moderne ist der falsche Zugang. Sein Grundprinzip ist effektiv, nur müsste man prüfen, inwieweit er auch in der Lage ist, soziale Probleme zu lösen. Die Solidarität braucht eine neue Bewertung, es braucht ein neues Verständnis von Wertschöpfung im eigentlichen Sinn des Wortes.
Aber genau der soziale Bereich, wie Pflege oder Bildung, wo Solidarität gelebt wird, wird ja in diesem Gefüge kaputtgespart, weil er nicht gewinnbringend betrieben werden kann. Wie schafft man es in dieser Weltordnung, Solidarität und sozialen Zusammenhalt zu stärken?
Bemühen wir die Grundprinzipien kommunikativer Theologie: Es gibt ein Ego, ein Ich, das ist multipel orientiert, dann gibt es ein Wir, eine Gesellschaft, in der Solidaritätsbeziehungen notwendig sind, weil das entscheidend für unseren Wohlstand ist. Und dann gibt es das Es. Das sind unsere Traditionen – und die haben wir vernachlässigt. Die neoliberale Ausgestaltung des Sozialismus – die Entfremdung von dem, was er eigentlich produzieren sollte, nämlich Solidarität und Wertebeiträge innerhalb der Gesellschaft –, ist ein Problem. Die Frage ist, wer produziert heute gesellschaftliche Wertschöpfung? Das sind ja nicht nur sozial orientierte Organisationen, sondern auch Unternehmen. Und zu den kaputtgesparten öffentlichen Bereichen: Wir müssen darüber nachdenken, welchen Wert das menschliche Leben hat, wenn es ineffektiv ist, also wenn jemand krank, zu jung oder zu alt ist, um Wertschöpfung zu generieren. Auf diese Menschen müssen wir besonders achten. Es genügt nicht, dass wir Pflegerinnen und Pfleger jetzt studieren lassen, sondern man muss den Wert der menschlichen Zuwendung neu definieren. Es gibt Dinge, die haben mehr Wert als Preis.
Das klingt nach einem großen gesellschaftlichen Wandel. Wie schafft man den?
Ich glaube nicht, dass es genügt, den Menschen zu sagen, du musst dein Leben ändern. Das kommt einer Tugendüberforderung gleich, man kann nicht alles alleine bewältigen. Die gesetzgebenden Instanzen, die die Rahmenordnung für Handeln definieren, müssen dafür sorgen, dass das, was wir als Gesellschaft wollen – also wünschenswertes Handeln –, belohnt wird, und das, was nicht wünschenswert ist, also negative Externalitäten von unternehmerischer Wertschöpfung zum Beispiel, bestraft oder anders behandelt wird. Die Gesetzgebung ist noch immer in einem Grundinteresse verankert, das nicht auf Innovation sondern auf Taxierung aus ist. Heute geht es nicht mehr um die sozialistische Idee der Umverteilung, heute geht es um Zuwendung und Fürsorge. Menschen müssen betroffen gemacht und beteiligt werden an ihrer eigenen Zukunft. Es gibt keine allgemein gültige Idee davon, wie wir leben wollen, jeder rennt in eine Richtung, aber dennoch gilt: Das Wir gewinnt. Deswegen: Zivilgesellschaft als das große Zukunftsfeld!
Sie haben sich in Ihrer Forschungstätigkeit mit dem Potenzial ebendieser Zivilgesellschaft beschäftigt, heute sind Sie beim Österreichischen Nachhaltigkeitsrat tätig. Könnten Sie mir Ihre Arbeit dort beschreiben?
Der Nachhaltigkeitsrat ist ein Stakeholder Gremium, eine Kooperation zwischen Wirtschaftsakteuren, der Politik und der Zivilgesellschaft. Wir bringen diese Akteure gezielt zusammen, um nach Lösungen zu suchen für Fragen der sozialen, ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit. Ich bin dabei auf Unternehmen fokussiert, insbesondere auf Geschäftsmodellinnovationen, und kläre, wie ein Unternehmen sich mit Produkten und Lieferketten neu aufstellen und dabei einen sozialen Mehrwert generieren kann. Die Adressaten unserer Publikationen sind vor allem CEOs und Top-Führungskräfte, die lernen müssen, dass es nicht nur ökonomische sondern auch soziale Wertschöpfung gibt. Das Management solcher Wertschöpfungsketten nennt man „Shared Value Creation“ – also das Schöpfen aus Ressourcen geteilter Werte. Wir haben im Rat ein Leuchtturmprojekt entwickelt, die „Allianz für Klima und Entwicklung“, wo Unternehmen freiwillig in Klimaschutzprojekte in Schwellenländern investieren, aber auch in der Heimat. Ich will den Rat die nächsten Jahre in Richtung Wissen weiterentwickeln, weil wir in den Fragen der Nachhaltigkeit zum ersten Mal seit tausend Jahren keine historischen Vorbilder im Management haben. Wir müssen selbst mittels „Trial and Error“ herausfinden, wie wir das Thema angehen.
Im Bezug auf CSR-Projekte ist doch auch die Frage, ob man wirklich jedes „schlechte” Handeln kompensieren kann. Ist es für eine Rüstungsunternehmen zum Beispiel genug, soziale Initiativen zu fördern?
Die Welt wird sich nicht so schnell ändern, wie wir uns das wünschen. Aber die Bemühungen zur Selbstverpflichtung, wie eine effektive Compliance, das Setzen von sozialen Standards, wie sie zum Beispiel im deutschen Lieferkettengesetz zu tragen kommen, oder der Berliner CSR-Konsens sind ein guter erster Schritt. Auch die „Sustainable Development Goals“ werden zur Richtlinie für unternehmerische Aktivitäten. Viele Unternehmen werden in ihrer traditionellen Logik weitermachen und wir werden immer hinsehen und sagen: ‚Das ist falsch.‘ Gutes und Schlechtes hält sich in der Welt die Balance, wie Licht und Schatten. Aber das Gute muss mehr ins Rampenlicht. Außerdem gibt es noch zu wenige Orte des Lernens. Viele Unternehmen wollen gerne besser handeln, aber wissen nicht wie. Führungskräfte und das mittlere Management müssen neue Ziele finden und das beginnt beim Denken. Unternehmen denken in Angebot und Nachfrage, wir als Gesellschaft denken in den Kategorien Solidaritätsbeziehung und Teilhabe oder Exklusion und die Politik denkt in Macht und Nicht-Macht – die alte Luhmann‘sche Einordnung. Aber alle drei Zugänge werden wichtig werden. Wir müssen denken wie ein Politiker, wir müssen denken wie ein Unternehmer, und wie Sie und ich als Bürger. Führungskräfte der Zukunft sind in der Lage, alle drei Zugänge zu vereinen.
Ramona Maria Kordesch, geboren 1986, studierte katholische Fachtheologie und Religionswissenschaften in Graz und Tübingen und leitete danach die Forschungsstelle „Innovationssysteme der Wohlfahrtsorganisationen“ am Civil Society Center der Zeppelin Universität im deutschen Friedrichshafen. Bis heute gehört sie als Dozentin dem Leadership Excellence Institute der Universität an, von 2016 bis 2021 war sie Gründungsvorsitzende der gemeinnützigen Stiftung „Societas Futura. Gesellschaft Gestalten“. Kordesch ist Herausgeberin einer Buchreihe im Verlag „Velbrück Wissenschaft“ und Autorin zahlreicher Publikationen und Essays.