„Es gibt nur die Pflicht, sich die Zähne zu putzen“
Ruth Beckermann zählt zu Österreichs wichtigsten Filmemacherinnen. Ein Gespräch über Geschichtsverleugnung und Gestank, Kitsch und Kühe, Schönheit und Schädelweh, Walzer und Wien. Von Wolfgang Paterno. Foto Stefan Fürtbauer
Ruth Beckermann, geboren 1952 in Wien, zählt seit Jahrzehnten zu den wegweisenden Vertreterinnen des deutschsprachigen Kinos. In ihren dokumentarischen Filmen setzt sich die promovierte Publizistin („Die Mazzesinsel“; „Unzugehörig“) kontinuierlich mit den Bruchstellen von Österreichs jüngerer Zeitgeschichte auseinander („Jenseits des Krieges“, 1996; „Waldheims Walzer“, 2018; „Die Geträumten“, 2016). Im Vorjahr wurde „Mutzenbacher“, Beckermanns gewitztes Konversationsstück über den Pornografie-Klassiker, im Wettbewerb Encounters der Berlinale mit dem Preis für den besten Film ausgezeichnet.
Frau Beckermann, wurden in Ihrer Familie Kunst und Kultur großgeschrieben?
Ruth Beckermann: Überhaupt nicht. Meine Eltern wurden durch den Krieg aus ihren Leben gerissen. Mein Vater begann mit 14 Jahren zu arbeiten, meine Mutter floh nach Palästina, wo sie sich um Hühner und Kühe kümmern musste. Beiden wurde das Recht auf Schulbildung verwehrt, beide beschworen jedoch lebenslang den Wert der Bildung. Auch wenn es bei uns zu Haus so gut wie keine Bücher gab – von meinen Eltern wurden mir diesbezüglich nie Hindernisse in den Weg gelegt.
Ihr Vater stammte aus Czernowitz, das für seine Operettenhäuser bekannt war.
Meine Eltern liebten die Operette, den Csárdás, Sängerinnen wie Marika Rökk. Für viele ihrer Freunde war diese Musik so etwas wie Heimat. Ich wurde mit Operettenklängen sozialisiert. Kultur hieß bei uns Volksoper. Später eröffnete mir die Literatur den Zugang zu Wien und seiner Kultur: Arthur Schnitzler, Stefan Zweig, Joseph Roth, Franz Kafka. Mich wundert die Tatsache, wie gedankenlos sich Österreich von seiner langen Geschichte abgekoppelt hat. Es regieren Sisi-Kitsch und Ramsch-Souvenir-Kult, statt sich mit der Historie der Habsburger ernsthaft auseinanderzusetzen. Das „Haus Österreich“, von dem die Dichterin Ingeborg Bachmann sprach, hat viele Zimmer. Es gehören endlich alle durchlüftet.
In welchem Mischungsverhältnis denken Sie über die Schönheit des Landes und die Verlogenheit seiner Politik nach?
Das hängt vom Grad der jeweiligen Versumpfung ab – und welcher Gestank gerade aus dem politischen Morast aufsteigt. Ich bin gerade aus den Ferien zurückgekehrt. Insofern erlaube ich mir diesbezüglich eine kurze Auszeit.
Sind Sie im Vergleich zu früher gelassener geworden?
Die wesentlichen politischen Ereignisse, die meine Biografie kreuzten, liegen einige Jahre zurück. Die Waldheim-Affäre, die für Österreich eine ähnliche Bedeutung wie der französische Dreyfus-Skandal hat, war der zentrale Wendepunkt in meinem Verhältnis zu Österreich. Bis zum Ausbruch des Waldheim-Skandals war Wien trist und grau, ein Nest voller Alt-Nazis, die ihr Denken und ihre Sprache nach 1945 nicht verändert hatten. Man fristete in der Stadt ein Dasein wie unter einer Käseglocke. Mit dem Fall Waldheim änderte sich das tiefgreifend.
Warum sind Sie in Wien geblieben?
Ich lebte einige Jahre in Paris und New York und drehte Filme in Israel, Ägypten und den USA. Mich interessiert der Rest der Welt – und nicht nur Wiens Innenstadt. Dennoch kehrte ich stets nach Wien zurück, weil die Themen meiner Filme viel mit dieser Stadt zu tun haben. Meine Filme kann man auch als Wiener Chronik lesen. Inzwischen ist Wien eine lebenswerte Stadt, der man dennoch regelmäßig den Rücken kehren muss, weil man sonst Gefahr läuft, zu verblöden. In Wien dreht sich alles immer nur um Wien.
Der „Himmel aus Schädelweh“, wie Helmut Qualtinger und André Heller sangen, hängt noch immer über der Stadt?
Auf jeden Fall. Wenn in Wien Menschen aus London oder Kairo mit am Kaffeehaustisch sitzen, dann interessiert sich niemand für sie. Alle werden immer nur darüber sprechen, was gerade in Wien los ist.
In der Bundeshymne bejubelt Österreich ein Volk, das „begnadet für das Schöne“ sei. Wie darf man das verstehen?
Diese seltsame Formulierung hat ihre Berechtigung, weil das „Schöne“ bei uns Tradition hat. Die Habsburger waren nicht an Bildung interessiert, was sie für erstrebenswert hielten, waren Tanz und Gesang. In Frankreich förderten die Bourbonen Wissen und Bildung am Hof, während sich in Wien alles um den Walzer drehte. Es ist kein Zufall, dass in Österreich die Musik derart wichtig ist – und weniger Film und Literatur: Kunstformen also, die Denken und Nachdenken erfordern.
„Homemad(e)“, „Die Geträumten“ und „Waldheims Walzer“: Wie kommen Sie auf die formidablen Titel Ihrer Filme?
Filmtitel zu finden ist die schwerste Übung. Es gibt bei jedem meiner Projekte einen Arbeitstitel. Bei der eigentlichen Titelfindung vertraue ich auf meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, lade aber auch Freundinnen und Freunde auf Partys zum Brainstorming ein. „Waldheims Krieg“ wurde so, unter Mithilfe des Werbers Mariusz Jan Demner, am Ende zu „Waldheims Walzer“: Linksdrehung, Rechtsdrehung – und die nächste Runde an Lügen. „Die Geträumten“ stammt aus einem Gedicht Ingeborg Bachmanns. Wobei „Die Geträumten“ leicht ins Englische, aber nur schwer ins Französische zu übersetzen ist.
Das dürfte bei Ihrem jüngsten Film „Mutzenbacher“, Ihrer Auseinandersetzung mit dem 1906 erschienenen pornografischen Klassiker, kein großes Problem sein.
Die Titelfindung war in diesem Fall einfach. Beim Casting für „Mutzenbacher“ mussten wir allerdings feststellen, dass Männer um die 40 dieses Buch nicht mehr kennen, geschweige denn noch lesen. Bekanntlich ist das Internet inzwischen der Ort, wo man sich informiert. In Österreich kennt man im Gegensatz zum Ausland zumindest noch den Namen Mutzenbacher.
Wie waren dort die Reaktionen auf den Film?
Vor allem Frauen lieben „Mutzenbacher“. Bislang war der Film auf 80 internationalen Festivals zu sehen. Trotz Übersetzung und Untertitel sind die Reaktionen erstaunlich direkt.
Das Wienerische „pudern“ für Geschlechtsverkehr lässt sich wohl schwer übersetzen.
Keine Sorge. Ein Äquivalent dafür findet sich in jeder Sprache.
Gibt es für Sie so etwas wie eine Pflicht, sich einzumischen?
Nein. Es gibt nur die Pflicht, sich die Zähne zu putzen. Ich habe mich immer eingemischt und bin auf die Straße gegangen, um meinen Unmut kundzutun. Einerseits ist das Charaktersache. Andererseits muss man sich immer wieder zu Wort melden, sonst passiert ja nichts. Inzwischen ist das allerdings viel schwieriger, weil sich auch die Politik globalisiert hat. Bei Waldheim gingen wir auf die Straße, um gegen das Verleugnen und Verschlampen der NS-Vergangenheit zu demonstrieren. Beim Klima und beim Krieg in der Ukraine habe ich nicht den Eindruck, etwas verändern zu können. Dieses fürchterliche Ohnmachtsgefühl!
War es früher leichter, sich einzumischen?
Die Koalition zwischen der ÖVP unter Wolfgang Schüssel und der FPÖ unter der Führung von Jörg Haider führte Österreich im Jahr 2000 in die diplomatische Isolation. Die damaligen 14 EU-Staaten beschlossen wegen der Regierungsbeteiligung von Rechtsaußen bilaterale Maßnahmen gegen Österreich, das fünf Jahre zuvor der EU beigetreten war. Inzwischen kann der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán machen, was er will.
„Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster“, notierte der italienische Antifaschist Antonio Gramsci.
Von Trump bis Putin – da fallen einem sofort etliche Namen ein. Es steht auch zu befürchten, dass ein vorgeblich sanfterer Politiker-Typ wie US-Präsident Joe Biden den Krieg in der Ukraine für strategische Ziele benutzt, die wenig mit der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit zu tun haben. Seit in der Ukraine der Dritte Weltkrieg geprobt wird, überlege ich mir ernsthaft, wie ich meine Familie und meine Freunde schützen kann, wie wir uns retten können. Das sind schreckliche Gedanken, die ich zum ersten Mal in meinem Leben habe. Und die Medien üben auf beiden Seiten Selbstzensur. Karl Kraus, schau oba!
Sind Sie erstaunt, erfreut oder enttäuscht über die Menschheit im 21. Jahrhundert?
Es war mir immer klar, dass die Mehrheit der Menschen dumm ist. Wobei Dummheit, wie ich sie verstehe, nichts mit Bildung zu tun hat, sondern mit Herzensgüte, Empathie, Mitmenschlichkeit, Wachheit.
Der Schriftsteller Erich Mühsam bemerkte einst: „Sich fügen heißt lügen.“ Einverstanden?
Sich zu fügen war nie meins. Ich hätte vielleicht auch viel früher Erfolg gehabt, wenn ich nicht immer so angeeckt wäre. Dennoch bin ich zufrieden, dass ich immer gemacht habe, was mir wichtig und richtig erschien. Junge Frauen im Film werden gegenwärtig sehr gehypt, wobei ich mir manchmal denke: Das ist schon ein bisschen zu viel, lasst diesen Frauen mehr Zeit! Es ist schwer, im Filmbusiness durchzuhalten. Einen Film zu machen, kostet viel Geld, bedeutet intensives Arbeiten und verlangt enormes Durchhaltevermögen. Insofern bin ich nicht böse, dass diese Entwicklung bei mir langsamer ablief, regelrecht in Wellenbewegungen. Rückblickend bin ich sehr zufrieden.
Ihr Schlusswort?
Sich nicht auf Geleistetem ausruhen, sich weiter entwickeln. Die Zukunft ist wichtig.
Bei der „Diagonale‘23 – Festival des österreichischen Films“ wird
Ruth Beckermanns neuester Film „Mutzenbacher“ zu sehen sein.
Am 24. März, 20:30 Uhr, im Annenhof Kino in Graz.