Essay

Zeit mal Zeit ist Mahlzeit

Von Peter Peter, Foto Juliette Chrétien

„Kaum zwei Städte sind einander ähnlicher als Wien und Paris“, analysierte 1948 Otto Friedländer in seinem k.u.k.-Klassiker „Letzter Glanz der Märchenstadt“ und bezog sich natürlich auf das gute Essen. Bis heute verbindet die beiden Metropolen die ritualisierte Tagestaktung durch das klassenübergreifende „heilige“ Mittagessen, sei‘s im Beisl oder Bistro. Dazu kommt die ungebrochene Popularität der entschleunigten Kaffeehäuser. Die „leisure class“ von einst, die es sich leisten konnte, Mußestunden bei einem Kleinen Braunen zu verbringen, scheint nachzuwachsen, wenn auch der Laptop die Zeitungslektüre ersetzt.

Das hedonistische Klischee vom phäakischen Wien, das das halbe Leben bei Melange, Backhendl und Heurigem verbringt, ist nur eine Seite der Medaille. Schaut man auf den Arbeitsalltag und die Esssituation vieler Familien, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Geregelte gemeinsame Mahlzeiten sind auf dem Rückzug, wenn auch in Österreich weniger dramatisch als beim gastronomisch gleichgültigeren Nachbarn Deutschland. Das beginnt schon morgens mit dem To-Go-Kaffee, der nicht nach dem westafrikanischen Staat benannt ist, sondern nach der Unsitte, hastig im Gehen oder in dicht besetzten Öffis das Heißgetränk in sich hineinzuschütten, meist aus Plastikbechern.
Warum tun Menschen sich diese kulinarische Entwürdigung an, verzichten auf den Moment der Ruhe, der Entspannung, der traditionell mit Nahrungsaufnahme verbunden wird? Die Gründe sind vielfältig, vom günstigen Preis bis zum (angeblichen) Zeitmangel. Entscheidend ist auch, dass nur wenige Stechuhrbetriebe ein Zeitfenster für eine ordentliche Jause einräumen. Arbeitgeber wie meine Münchner Autowerkstatt, wo um 11 Uhr grundsätzlich Meister und Gesellen sich ins Hinterstüberl zu einer gemeinsamen Weißwurstbrotzeit im Sitzen zurückzogen und die Arbeit ruhte, sind selten geworden. Das legitime Bedürfnis, ja das Grundrecht, zu essen, gilt in der betriebswirtschaftlichen Kalkulation häufig als lästige Effizienz-Unterbrechung, die möglichst kurz befristet wird – Stichwort Pappschachtel-pizza am Arbeitsplatz.

Es gibt die Gegenbewegung. Französische Angestellte streiken für eine ordentliche Mittagspause, in der man speisen kann und nicht schlingen muss. Zukunftsorientiert Betriebe, die wissen, dass eine ausgeglichene Work-Life-Balance zu höherer Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter führt, betreiben hauseigene Mensen mit gesunden Produkten – doch diese Initiativen sind in der Minderzahl.
Knappes Zeitmanagement prägt immer breitere Sektoren der Gastronomie. Vor über 100 Jahren hatte der Starkoch Auguste Escoffier prophezeit: „Wir müssen den modernen Gast schnell bedienen oder wir werden ihn verlieren.“ Heute ist die Rationalisierung so weit, dass häufig nur „convenience food“ aufgetischt wird. Vorgekochte Lieferware, die kurz aufgewärmt wird. Gasthäuser, wo Knödel noch handgedreht werden, mutieren vom Geheimtipp zur angesagten Speisemanufaktur.
Der Zeitgeist schwankt zwischen zelebriertem Genießen und alltäglicher Hast. Snacken heißt die Devise, Fastfood ersetzt bekömmliche Menüs mit warmer Suppe. Ein Salzburger Würstlstand, ein Linzer Leberkas-Kiosk, wo man einen Stehplausch hält, können gemeinschaftsfördernd sein, aber meist tendiert Fastfood zum Einzelesser, der keine Beziehung zum uralten anthropologischen Ritual kollektiver Speisung verspürt. Der italienische Gastrosoph Massimo Salani spitzte theologisch zu, indem er Fastfood als tendenziell protestantisch-turbokapitalistisch einstufte: Man futtert in einsamer Selbstoptimierung, um möglichst zügig und gestärkt an den Arbeitsplatz zurückzukehren. Die geruhsame Tischgemeinschaft der Genießer, wie sie die im Piemont entstandene Slow Food Bewegung empfiehlt, entspreche eher dem katholischen Ethos der pietas, des Teilens, der Achtsamkeit und der Nächstenliebe: Herr Jesu, sei unser Gast!

Die Zeit für die Mahlzeit, wie sie der bayerische Kabarettist Gerhard Polt als prima ratio der Gemütlichkeit empfand, ist zum kostbaren, immer mehr verknappten Gut geworden. Die Spanne, die wir für Essen, Lebensmitteleinkauf und -zubereitung aufwenden, steht in permanenter Aufmerksamkeitskonkurrenz zu Fernsehen, Computer, Social Media und Freizeitaktivitäten. Diese Phänomene haben ebenso stark wie die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen unseren Ernährungsrhythmus gründlich umgekrempelt.
Was macht diese Veränderung mit unserer Gesellschaft. Sie führt zu einem schleichenden Entfremdungsprozess und zu egoistischen Einzelessern – sage mir wie Du isst, und ich sage Dir, wie Du bist?
Auch auf die Gefahr hin, in einen moralischen Predigerton zu verfallen: gemeinsames Essen ist sinnstiftend für den Mikrokosmos der Familie, für den Makrokosmos der Gesellschaft. Jede Tafel ist ein kleiner Runder Tisch, an dem Wünsche und Bedürfnisse der paréa, um einen griechischen Begriff für Tischgesellschaft zu zitieren, austariert werden. Nicht umsonst galt alleine zu essen früher als Makel für Ausgestoßene – oder als Pflichtübung für Päpste und Kaiser, die keine gleichrangigen Tischgenossen fanden.
Jede Tischgemeinschaft hat Erziehungsfunktion. Sie vermittelt eine generationenübergreifende Schule der Rücksichtnahme und Höflichkeit, gesitteter oder zumindest gewaltfreier Konfliktaustragung und Konsensfindung. Sie ist eine basisdemokratische Einübung ins Teilen – sharing sollte als soziales Prinzip nicht auf Antipasti und BBQ beschränkt bleiben! Und gastrosophisch gesehen befördert angeregtes Tischgespräch über Rezepte und Aromen kulinarische Mündigkeit.
Es wäre utopisch, wieder zu Tischsitten von einst mit wöchentlich 21 Mahlzeiten im trauten Familienkreis zurückkehren zu wollen, zumal so manche zu einer autoritären Kontrollsituation voller Psychostress ausartete. Aber in unserem zerfasernden Essalltag wird es für die gestresste Generation Tiefkühlfach immer wichtiger, Fixpunkte zu setzen: ein selbst zubereiteter Sonntagsbraten oder mindestens ein Jour fixe, der für gemeinsames Kochen oder Essen mit Familie oder Freunden reserviert bleibt. Man sollte dabei im Ayurveda-Sinne auf „digital detox“ bestehen: „Schalte Fernsehen, Radio, Mobil beim Essen ab. Lies nicht während des Essens!“


Dr. Peter Peter lehrt am Gastrosophiezentrum der Universität Salzburg. Der Münchner veröffentlichte Kulturgeschichten der Öster-reichischen, Italienischen, Französischen und Deutschen Küche und kreiert kulinarische Reisen. Im Rotary Magazin erscheint monatlich seine Kolumne „Peters Lebensart“. Gesammelte Texte unter pietropietro.de.


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