ESSAY VON ULRICH GROBER

Vom Wert der Kreisläufe
Illustration Bianca Tschaikner


„Jeden Morgen geht die Sonne auf / in der Wälder wundersamer Runde …“ Ein altes Lied kommt mir in diesen Zeiten multipler Krisen und lähmenden Entsetzens wieder in den Sinn, versetzt mich in die Lagerfeuernächte meiner Kindheit. „… und die schöne, scheue Schöpferstunde, / jeden Morgen nimmt sie ihren Lauf.“ Damals öffneten uns diese Verse ein magisches Fenster zu den Landschaften, in denen wir wanderten, und zu der Zeitordnung von Natur und Kosmos, die uns so selbstverständlich war wie die frische Luft, die wir im Freien atmeten.
Seitdem hat der Druck von Beschleunigung und Digitalisierung unser Lebensgefühl bis in die intimen Regungen hinein verändert. Jeden Morgen leuchtet das Smartphone auf. Es vibriert, piepst, alarmiert, reißt uns aus dem Schlaf, zeigt die digitale Uhrzeit an, vernetzt uns mit den virtuellen Räumen. So beginnt der Tag, so geht er weiter. Mit Mausklicks oder Daumenbewegungen navigieren wir durch das Netz. Dort weht kein Lüftchen. Kein Duftfeld, kein lebendiger Klang, keine Bodenhaftung nirgendwo. Die audiovisuellen Medien machen tendenziell alle Räume besehbar. Begehbare Räume dagegen verschwinden aus unserem Leben. Die Sturzflut an Bildern und Informationen hält an und steigert sich. Bis zum Ende des Tages und den ersten Versuchen, in den Schlaf zu sinken. Es gibt keine Alternative. Wirklich nicht?

„Jeden Morgen geht die Sonne auf …“ Ob wir sie noch wahrnehmen oder ausblenden –hinter den menschengemachten, technisch erzeugten Phänomenen wirkt nach wie vor machtvoll die andere Raum-Zeit-Ordnung. Sie verläuft nicht linear, wird nicht von der Uhr und vom Takt der Ampelanlagen oder Fließbänder beherrscht. Es ist die zyklische Zeit, die von Sonne, Mond und Sternen, also von den Bahnen der Gestirne vorgegeben ist. Es ist der Raum, der sich, von der Sonne beleuchtet, jeden Augenblick neu und immer wieder anders allen unseren Sinnen öffnet. Das ist die naturgegebene Raum-Zeit-Ordnung, von der alles Leben auf diesem Planeten abhängt. Sie ist die eigentliche „Echtzeit“.

Und jetzt? Bietet die Krise eine Chance, neue, kreative Formen des einfachen Lebens auszuprobieren? Was jeder und jede tun könnte: Bewusst Zeitinseln im reißenden Strom des Alltags anlegen. Brot backen zum Beispiel: Korn mahlen, den Teig ansetzen, kneten, gehen lassen, ausbacken lassen. Das frische Brot anschneiden und mit anderen teilen. Mir ist diese Zeit heilig. Oder: Eine Wanderung, ob drei Tage oder drei Wochen, als Auszeit anlegen und sich einklinken in den Zyklus von Sonnenaufgang, Mittag, Abendröte. Oder: Einen Tag im Garten, das ganze Gartenjahr als Medium nutzen, um sich in die Zeit der Pflanzen – Keimen, Blühen, Reifen, Vergehen – zu versenken und: – zur Ruhe kommen, sich lebendig fühlen.

Alle reden von Nachhaltigkeit. Heute mehr denn je: sostenibilità, hållbarhet, chi xu fa zhen, sustainability … Kein anderes Wort im globalen Vokabular hat in unserer Gegenwart eine so steile Karriere gemacht. Doch was löst es aus, wenn wir es hören, lesen, selbst in den Mund nehmen? Fühlt es sich gut an? Spüren wir Lust auf ein Leben, das weit ausgreift? Oder eher Langeweile, ja Überdruss? Ist das Wort schon verbraucht? Gerade jetzt, wo wir es dringender brauchen denn je. Ich halte dagegen. Nachhaltigkeit, möchte ich behaupten, ist unser vornehmster Begriff. Das vermeintliche Modewort hat tiefe Wurzeln in unserem kulturellen Erbe. Es kommt, könnte man sagen, aus dem Wald. Geprägt haben es vor gut 300 Jahren deutsche Forstleute. Ihr Credo: Nicht mehr Holz fällen als nachwächst. Klingt erstmal banal. Aber der Satz hat es in sich. Er enthält die Polarität von Ökonomie – Holz fällen – und Ökologie – nachwachsen. Er erklärt das „Nachwachsen“ einer Ressource zum Maß, zum Maßstab, ja zur Voraussetzung ihrer Nutzung. Mit diesem Fokus auf die Regenerationsfähigkeit kommt wiederum das Denken in Kreisläufen ins Spiel: Die Fruchtbarkeit der Waldböden, die Bedeutung von Artenvielfalt und Wasserhaushalt, die Wirkung von Licht und Fotosynthese, die Zeitzyklen von Natur und Kosmos – mit anderen Worten: die ökologischen Kreisläufe.

Hier wird der Maßstab verändert: Die Tragfähigkeit der Ökosysteme und nicht das Marktgesetz von Angebot und Nachfrage hat unseren Eingriff in den Haushalt der Natur zu bestimmen. Genuin „konservativ“ wäre also: die „conservatio“, die Bewahrung des Naturhaushalts, auf lange Sicht zu sichern. Also die Fähigkeit der Ökosysteme, sich immer wieder zu verjüngen – zu regenerieren. Und zwar auf Dauer. Im Dienst der nachfolgenden Generationen. Der neue Imperativ wäre dann: Die Zukunft vom Grünen her denken, von der Integrität der Biosphäre. Diese intakt zu erhalten ist unsere oberste Verantwortung. Nachhaltigkeit ist ein ethisches Prinzip – das wichtigste, das wir im 21. Jahrhundert haben.

„Die Gegenwart ist aufgeladen mit Vergangenheit – und geht schwanger mit Zukunft“, verkündete vor gut 300 Jahren der Philosoph Leibniz. Nichts bleibt, wie es ist. Was wird, taucht schon auf. „Die Zukunft hat schon begonnen“ (Robert Jungk). Einen achtsamen Blick auf das richten, was geschieht, und dann das, was davon lebbare und verlockende Zukunft enthält, begleiten, fördern, zum Durchbruch verhelfen – ein solches Handeln wäre nachhaltig. Um es mit einer alten, in vielen Kulturen der Welt verbreiteten Metapher auszudrücken: Die schimmernde Perle wächst in der harten, schwarzen, rauen Schale der Muschel heran. Wir wären gerade in so prekären Zeiten gut beraten, unsere Aufmerksamkeit auf das Wachstum der Perle zu richten.

Ulrich Grober schreibt über Ökologie und Nachhaltigkeit, kulturelles Erbe und Zukunftsvisionen. Seine Bücher, u.a. „Die Entdeckung der Nachhaltigkeit“ und „Der leise Atem der Zukunft“, sind Longseller.

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