Experimentelle Expertise

Das „Atelier LUMA“ in Arles entwickelt auf multidisziplinäre Weise bioregionales Design, um den ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel in diesem Gebiet voranzutreiben.
Von Jutta Nachtwey

Am Anfang aller Designprozesse steht beim „Atelier LUMA“ eine Art Feldforschung. Diese intensive Recherche erstreckt sich auf unterschiedlichste Bereiche und beinhaltet zum Beispiel die Erkundung der Flora, des Bodens und des Wassers in der Region, aber auch der sozialen und wirtschaftlichen Aspekte, die das Leben der Menschen vor Ort prägen. Dabei entnimmt das Team vielfältige Proben aus der Natur, zum Beispiel Pflanzen oder Erde, und spricht mit unterschiedlichen Menschen, etwa aus Bereichen wie Landwirtschaft, Handwerk oder Wirtschaft. Es geht darum, versteckte, unterschätzte oder vergessene Ressourcen der Region ausfindig zu machen und Know-how zu retten, das sonst verloren ginge.

Anschließend an diese ganzheitliche Recherche dokumentiert „Atelier LUMA“ die Ergebnisse und untersucht die gesammelten Materialien in den eigenen Laboren – mit dem Ziel, sie auf innovative Weise in Designprodukte oder etwa Baustoffe einzubinden. Hierfür stellt „LUMA“ bewusst einen Dialog zwischen Menschen her, die sonst nichts miteinander zu tun haben – beispielsweise zwischen Forschenden, Kunstschaffenden, Landwirtinnen und -wirten sowie Unternehmen. Es geht insgesamt darum, nicht nur Objekte und Materialien zu entwickeln, sondern zugleich den ökologischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel in der Bioregion zu unterstützen, welche die Bereiche der Camargue, der Alpilles und der Crau umfasst.

„Atelier LUMA“ ist das experimentelle Designlabor der Stiftung „LUMA“ Arles, die 2013 auf dem elf Hektar großen „Parc des Atelier“ Quartier bezog – ein Industrieareal aus dem 19. Jahrhundert, wo die Eisenbahngesellschaft „Paris-Lyon-Méditerranée“ (PLM), aus der später die „Société nationale des chemins de fer français“ (SNCF) hervorging, ihre Züge konstruierte und instand hielt. Gründerin Maja Hoffmann hatte die „LUMA Foundation“ bereits 2004 in Zürich aus der Taufe gehoben, um kreatives Schaffen in Bereichen wie Bildende Kunst, Fotografie und Multimedia zu unterstützen und Projekte zu fördern, die ein tieferes Verständnis für Umwelt-, Menschenrechts-, Bildungs- und Kulturfragen ermöglichen. Den zusätzlichen Standort in Arles konzipierte die Stiftung als Kreativcampus, auf dem Künstlerinnen und Künstler sowie Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen neue Formen der Zusammenarbeit erkunden und ihre Arbeit der Öffentlichkeit präsentieren können.

Das Designlabor „Atelier LUMA“ begann 2016 mit den ersten Research-Projekten und verfolgte von Anfang an einen multidisziplinären Ansatz. Unter der Regie des künstlerischen Leiters Jan Boelen arbeitet hier ein internationales Team, das aus Bereichen wie Design, Naturwissenschaft, Ingenieurwesen, Kultur, Kunsthandwerk sowie Sozial- und Humanwissenschaften stammt. Auf dem Gelände der Stiftung kamen bereits verschiedene Objekte und Materialien zum Einsatz, die das Atelier entwickelt hat. Im Inneren des spektakulären schillernden Turms, den der Architekt Frank Gehry konstruierte, wurden zum Beispiel Wandpaneele aus natürlichem Salz angebracht, das in den Salinen von Giraud kristallisierte. Die Sanitärräume sind mit Fliesen aus Biokunststoff ausgestattet, die mit Pigmenten aus Algen und invasiven Pflanzen gefärbt wurden, während die Wände im „Drum Café“ eine Beschichtung aus Sonnenblumenmark erhielten. Die Einrichtung des Restaurants „Réfectoire“, der ehemaligen Kantine der Bahnarbeiter, ist das Ergebnis der Zusammenarbeit von „Atelier LUMA“ mit dem Designer Martino Gamper. Die Sitzbänke sind etwa mit speziellen Stoffen aus regionaler Merinowolle gepolstert, die Lampenschirme aus lokalem Schilfrohr geflochten und die Biolaminatplatten aus Muschelschalen des Mittelmeers gefertigt.

„Atelier LUMA“ zog 2017 auf das Gelände der Stiftung und war zunächst im Gebäude „La Formation“ und später in den Räumen der „Mécanique Générale“ untergebracht. Im vergangenen Jahr siedelte das Designlabor in das „Magasin Électrique“ um, eine 2.100 Quadratmeter große Halle, in der früher Züge repariert wurden. Das Atelier war selbst an der umfangreichen dreijährigen Renovierung des Gebäudes beteiligt. Kooperationspartner waren zum einen die Brüsseler Experten „BC architects & studies & materials“, zum anderen das multidisziplinäre Londoner Kollektiv „Assemble“, das im Schnittbereich von Architektur, Design und Kunst arbeitet. Außerdem arbeitete auch eine große Gruppe lokaler und internationaler Bauexperten und -expertinnen an der Sanierung mit.
Der Umbau war als Pilotprojekt für ein architektonisches Programm konzipiert, das auf die Aufwertung des traditionellen Know-hows und der lokalen Ressourcen, das kollektive Experimentieren am Arbeitsplatz und die Entwicklung von Biomaterialien ausgerichtet ist. Bei einigen Wänden kamen zum Beispiel gestampfte Erde, Mineralien und landwirtschaftliche Nebenprodukte zum Einsatz. Für die Akustik und den Ausbau der Innenräume wurden etwa Platten aus Sonnenblumenfasern, Reisstroh und Erde verwendet.

Dank der Umbaumaßnahmen erhielt die riesige Halle eine funktionale Binnenstruktur. Dabei entstanden Räume für die verschiedenen Labore, darunter eine Holz-, eine Metall-, eine Keramik- und eine Textilwerkstatt. Außerdem gibt es eine Färberei, die sich der Forschung und Entwicklung von Pflanzenfarbstoffen widmet, sowie ein Biolab, wo etwa Versuche zur Kultivierung von Algen und Myzelien stattfinden. Im Zentrum des Gebäudes befindet sich die Agora, ein großer Raum, der für Ausstellungen und andere Veranstaltungen Platz bietet. Darüber hinaus wurde im Außenbereich ein funktionaler Garten angelegt, der die Labore mit Rohstoffen beliefert.

Trotz der starken regionalen Verankerung ist das Team zugleich international ausgerichtet. „Wichtig ist, dass das „Atelier LUMA“ nicht nur als Katalysator für nachhaltige Infrastrukturen fungiert, sondern auch als Produzent von Wissen“, erklärte Maja Hoffmann anlässlich der Eröffnung der neuen Räume im vergangenen Jahr. „Während wir in Arles und der Camargue verwurzelt bleiben, haben wir begonnen, die Methodik des „Atelier LUMA“ auf Gebiete in anderen Regionen und Ländern anzuwenden“, fügte sie hinzu. Es geht inzwischen also auch darum, lokale Transformationsprozesse an anderen Orten zu begleiten und die eigene Methode den Kooperationspartnern zur Verfügung zu stellen. Zur Vermittlung veranstaltete „Atelier LUMA“ bereits verschiedene Ausstellungen und Workshops und nahm an diversen internationalen Konferenzen teil. Darüber hinaus stellt das Atelier sein Fachwissen in verschiedenen Publikationen zur Verfügung, zum Beispiel im Buch „Bioregional Design Practices – Pratiques de design bioregional“ oder im Newsletter „Algae Review“.
Fazit: Bioregionales Design funktioniert eben nicht nur in der Gegend um Arles, sondern grundsätzlich überall. Der Ansatz von „Atelier LUMA“ macht außerdem klar, dass sich Lokalpatriotismus und Weltoffenheit nicht ausschließen, sondern einander auf erstaunliche Weise befruchten können. 
Weitere Informationen: luma.org/en/arles/atelierluma.html

TIPP:
Workshop von Jan Boelen, künstlerischer Leiter von „Atelier LUMA“, VIENNA DESIGN WEEK am 24.9.2024 von 14 bis 17 Uhr. viennadesignweek.at

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