Fast Forward

Kochen und Essen am Abgrund
Von Wolfgang Fetz
Die Post in Amerika
Was hat das Postsystem mit Fast Food zu tun? Eine nicht unbedingt naheliegende Frage. Nun, als Jacques Tati 1947 seinen ersten Spielfilm drehte, „Jour de Fête“, dachte er jedenfalls ganz sicher nicht an Fast Food.
Die zentrale Figur des 1949 für den Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig nominierten Meisterwerks ist François, ein Postbote, der in dem südwestfranzösischen Provinznest Sainte-Sévère sein sympathisches Unwesen treibt. Anlässlich eines Dorffests hat François ein folgenreiches Bekehrungserlebnis. Ein Wanderkino präsentiert einen Dokumentarfilm über neueste Entwicklungen in der amerikanischen Postzustellung, „Post in Amerika“. Das Axiom des überseeischen Systems ist leicht auf einen Nenner zu bringen: „Der Brief, kaum noch eingeworfen, ist bereits angekommen!“ Da gibt es den Motorradboten, trainiert im Überwinden von Rampen und Durchspringen von Feuerwänden. Andere Postboten seilen sich von Helikoptern ab, sausen per Raketenantrieb am Rücken durch die Luft. „Keine Straße? Dafür gibt‘s den Himmel! Diese Methode ist ideal für Telegramme und Eillieferungen.“
François ist irritiert und fasziniert. Und die Sévériens finden ihr Vergnügen daran, ihn anzustacheln. So entwickelt er sich in kürzester Zeit zu einem manischen Postboten.
„François arbeitet wie in Amerika!“ – „Schnell, schnell! Aber mit Stil!“ Er ist schließlich Franzose, möchte man hinzufügen. Das Wort Amerika flirrt und surrt ihm um die Ohren wie
die Biene, von der er ständig verfolgt wird. „Tempo, Tempo, ich hab‘s eilig!“
Mit seiner neuen Methode kehrt allerdings ein unerwartetes Regime ein. François zwingt den Empfängern der Post, seiner gesamten Umgebung, einen neuen Rhythmus, neue Regeln auf. „Keine Zeit!“ Er beginnt, die Bewohner mit seinem Geschwindigkeitsrausch („Rapidité, rapidité!“) zu nerven, statt prompter Lieferung verbreitet er nur mehr Chaos.
Fast Food – Ideologie der Effizienz
„Eating in our time has gotten complicated“, lesen wir bei Michael Pollan („Food Rules“, 2009). Dabei hatten wir uns das genau umgekehrt vorgestellt – in Zeiten des Fast Food. Dinge werden ja nur dann kompliziert, wenn wir mehr über sie wissen wollen. Aber was brauchen wir schon zu wissen, außer dass der hochentwickelte Nahrungsmittelkomplex schlicht, das heißt: „Fast-Food-mäßig“, funktioniert. Es gibt keinen Grund zu wissen, wie man eine Nährwerttabelle liest oder was unter die Kategorie unzuträgliche Zusatzstoffe fällt.
Fast Food ist per se schon optimierte Verlässlichkeit, Kollateralschäden inbegriffen. Diese Verlässlichkeit hat es allerdings in sich. Das ist wie mit dem Brief im Postsystem von Tati: Die Bestellung in der Fast-Food-Abfütterungsstation ist kaum aufgegeben, da ist der Kunde auch schon beim Verdauungsvorgang angelangt. Aber bis es so weit ist? Die „Post in Amerika“ beruht auf einigen wenigen Grundprinzipien, die durchwegs auch für die „schnelle Kost“ gelten. Sie lassen sich unter Stichworten wie „lückenlose Durchrationalisierung“ oder „optimierte Logistik“ zusammenfassen. Sie garantieren dem Postempfänger wie dem Kostgänger im Garten des Fast Food Effizienz, Verlässlichkeit, rasche, ubiquitäre Verfügbarkeit. Das setzt eine ausgeklügelte, extrem differenzierte Produktionslogik voraus, was ohne entsprechende Lebensmittel- und Agrikulturchemie ein Ding der Unmöglichkeit wäre. Die Leistungsfähigkeit des Systems hängt allerdings sehr wesentlich auch von einer in all ihren Verästelungen durchdachten Transportlogistik ab. Effizienzsteigerung wohin immer man blickt. Nicht zuletzt das Marketing, bei dem es um die „Verpackung“, um Verpackungsattraktivität im weitesten Sinn geht.
Nachdem es sich bei der Fast-Food-Abfütterung keineswegs um eine Wohltätigkeitsveranstaltung der Produzenten handelt, lohnt sich der Blick auf die spezifische Rolle des Konsumenten. Er wird zu einem Teil, wenn nicht zum Opfer der Effizienzlogik. Was scheinbar zu seinem Vorteil gedacht ist (ganz abzustreiten ist das ja nicht), kippt in Indoktrination. Der Kunde hat zu funktionieren, nicht anders als der auf Fast Food abgestellte Lebensmittelchemiker oder der die lückenlose Transportkette garantierende Logistiker. Und sei es um den Preis, dass er zu seinem eigenen Servierpersonal (Selbstbedienung) wird. Für den Produzenten bedeutet dies: Profitsteigerung. Aber das ist schließlich der Zweck der Übung.
Der Rhythmus der neuen Zeit
Docteur Édouard de Pomiane, über viele Jahre hinweg am Pariser Institut Pasteur tätig, verkörperte als Ernährungswissenschaftler oder „Gastrotechniker“, wie er sich nannte, einen völlig neuen Zugriff auf den Komplex Nahrung, Essen.
Im Unterschied zu Tati, dessen Verständnis von Humanismus und Würde sich nur schwer mit den Akzelerationen des modernen Zeitalters vertragen konnte, verständigte sich de Pomiane sehr gut auf radikalere Formen der Effizienzsteigerung durch Durchrationalisierung. Mit der entscheidenden Einschränkung: Ohne Muße, ohne den „Charme der Gepflegtheit“, jenseits der Kälten des amerikanischen Systems, geht gar nichts! Geschwindigkeit, „aber mit Stil“. Wir kennen dieses Prinzip aus „Jour de Fête“.
„Heute gehe ich davon aus, daß man seine Mahlzeit in zehn Minuten bereiten kann. Da diese Zeit unendlich kurz ist, wird man mich also des ‚Minimumwahns‘ beschuldigen.“ Wir lesen das in seinem 1931 erstmals erschienenen, schmalen Band „Kochen in 10 Minuten oder die Anpassung an den Rhythmus der Zeit“. Zu dieser Zeit begann er als Radiokoch mit der Serie „Radio-Cuisine“, das war noch Avantgarde – in jeder Hinsicht.
„Kaufen Sie Artischockenböden in Dosen. Servieren Sie dieselben mit einer Essig- und Ölsauce, der Sie reichlich Senf beimischen.“ Das mag als Mahlzeit vielleicht wenig zufriedenstellend sein, aber immerhin beweist der Herr Docteur damit Effizienzbewusstsein. Die Verwendung von Suppenwürfeln gehörte ebenso zu seinem Repertoire wie Dosennahrung.
Lob der Muße: Wer den Kochaufwand verkürzt, hat den Rest der Mittagszeit für sich. Rasch auf dem Tisch sind „Austern mit Würstchen“: „Verbrennen Sie sich den Mund mit den knusprig [gebratenen] Würstchen, um anschließend mit dem Genuss einer kühlen Auster für Linderung zu sorgen“. Da bleibt dann noch Zeit für „helle oder schwarze Zigaretten“, für ein Sinnieren über dies und jenes, „während sie Schluck für Schluck ihre Tasse Kaffee trinken, die nicht einmal Zeit hat, zu erkalten“. Dahinter mag sich eine kleinbürgerlich-biedere Form von Savoir-vivre verbergen. Aber wie könnten wir sie nennen, diese Pomiane‘sche Variante von Fast Food? Julien Barnes schreibt in einem lesenswerten Artikel über de Pomiane vom „ewigen Streben des Menschen nach einer Vereinigung der Vorzüge von Slow Food und Fast Food.“ Dagegen lässt sich wohl nichts einwenden.
Real Fast Food
Kampf der Giganten: Während die großen Fast-Food-Ketten all ihre Muskeln spielen lassen, um potenzielle oder bereits habitualisierte Konsumenten in ihre Abfütterungsstationen zu locken, verfolgen die anderen, die Supermarktketten, ein konträres Interesse. Kocht euch euer Fast Food doch zu Hause, lautet das Motto. Tiefkühler, Mikrowelle und Plastikbeutelmenü bieten die effizientere Alternative, behaupten sie, die Auswahlmöglichkeiten sind um ein Vielfaches größer und den unnachahmlichen Touch von häuslich zubereiteter Kost bekommt man „kostenlos“ mitgeliefert. Querfeldein von „exotisch“ bis „nach Großmutters Art“.
Wem das alles zu sehr nach Junk riecht, es aber trotzdem „schnell“ braucht, hat prächtige Aussichten. Es war 1983, als „Real Fast Food“, das erste Kochbuch von Nigel Slater, in die Buchhandlungen ausgeliefert wurde. Das war drei Jahre bevor in Rom, dem „Nabel der Welt“, wie die Römer sagen, die erste italienische McDonald‘s-Filiale eröffnet wurde. Wer es plakativ schätzt: die Eröffnung des an der Piazza Navona situierten Ablegers war sozusagen die Geburtsstunde der Slow-Food-Bewegung, die Carlo Petrini mit durchschlagendem Erfolg zu betreiben begann. Das offizielle Manifest wurde drei Jahre danach, 1989, in Paris unterschrieben. Ein beinahe glückliches Jahrzehnt.
2013, also dreißig Jahre später, erschien, auf „Real Fast Food“ aufbauend, Slaters „Eat“, im Untertitel „Das kleine Buch des Fast Food“. Klein ist es allerdings nur im Format, mit seinen über 400 Seiten. Beide zählen heute zu den Standards der Kochbuchliteratur. Wenn es um die Kriterien (relativ) rasche Zubereitung, Einfachheit, Genuss geht, dann ist das eine erste Adresse, also unbedingt zu empfehlen.
Gut, der Zahlenspiele kein Ende: Bis zu 30 und 60 Minuten (eher die Ausnahme) sind für Slaters Fast Food einzurechnen, das ist mehr als beschaulich im Vergleich zum wendigen de Pomiane, aber es zahlt sich aus. Ersparen wir uns den schlaffen Spargel aus dem Glas.
Édouard de Pomiane,
Vier Gänge in zehn Minuten

Aus Édouard de Pomiane „Kochen in 10 Minuten oder die Anpassung an den Rhythmus der Zeit“, dt. Ausgabe 2016.
© Walde+Graf Verlagsagentur und Verlag GmbH, Berlin. Die dt. Erstausgabe erschien 1935 im Verlag von Bruno Cassirer)
Kleine Langusten auf amerikanische Art
Tournedos Rossini
Spargel mit Essig und Öl
Käse, Obst
Langusten
In einer Kasserolle 1 Löffel Olivenöl erwärmen, 1 großen Löffel Tomatenmark hinzu. Leicht salzen. Tomatenmark mit 1 Glas Weißwein auflösen, 1 halbes Glas Madeira zugießen. Kleine Langusten in die Sauce geben. Mit etwas Paprika oder einer Prise Cayennepfeffer würzen. Zugedeckt für acht Minuten kochen lassen. Mit einem kleinen Glas Cognac abschmecken, zwei Minuten köcheln lassen. Kosten, eventuell nachsalzen.
„Bestreuen Sie dieses exzellente Gericht vor dem Essen mit gehackter Petersilie.“
(Anstelle von Langusten können Sie auch Scampi nehmen. Nicht zu verwechseln mit Garnelen! Zur Identifikation: Scampi haben Scheren.)
Tournedos Rossini
2 Filetbeefsteaks in einer heißen, mit Butter ausgestrichenen Pfanne anbraten. 3 Minuten pro Seite. Auf sehr heiße Platte legen. Auf jedes Beefsteak eine gleich große Scheibe Foie Gras legen.
2 EL Madeira in die Pfanne geben, ein paar Trüffelschalen hinzu, aufkochen lassen. Über das Fleisch gießen.
„Dies ist ein Gericht für besondere Gelegenheiten.“
Spargel
Kalten Büchsenspargel mit Öl, Salz und Pfeffer anmachen.
Büchsenspargel „sind schmackhaft, wenn auch etwas weich“.
Käse, Obst
Auswahl nach Belieben. Zum Beispiel Brie-Käse („wird Sie mit einem Stückchen frischer Butter entzücken“) und Orange