Ferne – ein Prinzip

Foto Robert Fabach

Zu Wandel und Geschichte eines Begriffs
Essay von Robert Fabach

Eines der ältesten Bilder im kollektiven Gedächtnis der Menschheit mag der Blick auf den Horizont sein und die Vorstellung von dem dahinter. Ein unerreichbares „Dort“, eine räumliche Differenz, die unabänderlich mit dem Betrachter verbunden ist. Scheinbar unverrückbar, sagt sie oft mehr über den Betrachter selbst aus, als über den Ort, den sie bezeichnet: Ferne.
Arkadien, ferne Länder? Griechenland, Italien, Amerika oder Europa oder auch der Mond? Bedeutet Ferne Fremde, romantische Sehnsucht und – wie ist die Ferne jener, die in der Ferne leben?

Ein Begriff mit Pathos, der trotzdem Gefahr läuft unterzugehen. Gibt es die Ferne heute noch? Erleben wir nicht einen Terror der totalen Gegenwart, durch die Informationsflut aus dem Netz und den sozialen Medien, eine Gleichzeitigkeit und zugleich eine radikale Amnesie gegenüber jeder Vergangenheit? Ein schmaler Schlitz zeigt uns alles, was an allen Orten der Welt passiert. Jetzt. Scheinbar.

Wie sehr der Begriff der Ferne einem historischen und kulturellen Wandel unterworfen ist und wie sehr eine zeitliche Dimension von Bedeutung ist, versucht der folgende Rundgang zu zeigen.

Mythologische Distanz
Die Antike kannte ihre mythologische Ferne. Erzählerische Konstruktionen unerreichbarer Welten und jene gedanklichen Räume des Jenseits, denen beispielsweise griechische Tempel oder ägyptische Pyramiden Werkzeug waren. Ebenso wie die Landschaften der großen mythologischen Erzählungen waren sie Träger von unzugänglichen aber bedeutsamen Innenwelten. Die geografischen Grenzen des Römischen Reichs waren zwar Ziel von Eroberungen, aber sein Horizont war verhasst. Der Dichter Ovid wurde an den Rand des Reichs verbannt.
Das Ende dieser großen antiken Kulturen kam genau von diesen Rändern. Für die Gesellschaften und Kulturen der Völkerwanderung waren Europa und der vorderasiatische Raum umgekehrt eine Ferne, in die man sich erobernd in kurzer Zeit ausgedehnt hatte.

Räumliche Utopien
Mit dem Aufstieg des arabisch-islamischen Imperiums erwuchs seit dem 7. Jahrhundert nach Christus nicht nur ein ausgedehntes System von Handel und Wissenschaften, sondern auch eine religiöse Mythologie die in ihrer täglichen Gebetspraxis einen konkreten geografischen Fernpunkt, das schwarz verhüllte Gebäude der Kaaba in Mekka als gemeinsamen Bezugspunkt hat. Keine Anbetung eines Objekts, sondern eine geografisch präzise Ausrichtung.
Mit der Wende zur Neuzeit und dem Aufstieg von Handel und Wissenschaft entwickelten sich schlagartig gegenüber dem christlichen Jenseitsbezug neue Orientierungssysteme, welche mit dem arabischen und dem asiatischen Handelsraum im nachhaltigen Austausch standen. Die großen iberischen Weltentdecker hatten auch nicht die Welterklärung, sondern den brutalen Profit der asiatischen Ferne zum Ziel, den sie sich unter Umgehung der nahöstlichen Handelsräume durch die Erdumrundung holen wollten. Eine hingegen geistige Sehnsucht nach der Antike und der damit verbundene Humanismus machte das Italien der Renaissance wiederum zum Sehnsuchtsort ganz Europas. Nicht nur die Reisenden der Grand Tour, sondern schon Albrecht Dürer 1495, später Wolfgang Goethe (1786-88) fanden dort Inspiration und ein neues Weltverständnis.

Gibt es die Ferne noch?
Zeitgleich mit der bürgerlichen Idealisierung von Natur und Ferne der Romantik begann das große Projekt der Moderne und seine Vermessung und Überwindung des Raums. Die generalstabsmäßigen Erkundungen und Aufschließungen der Ferne geschahen durch Expeditionen. Soldaten, Händler, Wissenschaftler, Sammler und Kartografen waren Teil davon. Die entgegengesetzten Perspektive von Unterwerfung, Ausbeutung, Raub von Kulturgütern und Enteignung beschäftigt uns heute.
Dabei entstand seit Ende des 18. Jahrhunderts ein rasch immer umfangreicheres Arsenal von Maschinen und Enzyklopädien, das der massenhaften Verwertung dieser Ferne diente und ihre Güter transportabel machte. Mit der Eisenbahn entwickelte sich der Massentourismus, mit der Autobahn eine flächendeckende Erschließung. Die Fotografie, das Radio und der Film illustrierten nicht nur diese Ferne, sondern begannen sie auch schrittweise zu ersetzen. Die Wirklichkeit wurde zunehmend in Zeichen verwandelt. Nach den ökonomischen und kulturellen Explosionen in der Nachkriegszeit wurde in einer nachhaltigen Ernüchterung die Moderne für gescheitert erklärt und neben einer kritischen Kulturphilosophie wurden Visionen und Haltungen entwickelt, deren vielfaches Potenzial durch den neoliberalen Mahlstrom und die einsetzende Digitalisierung der vergangenen 30 Jahre in den Hintergrund rückten.

Das Prinzip Hoffnung
Ernst Blochs (1885-1977) Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ ist der Versuch, die kulturelle Enzyklopädie, die den menschlichen Selbst- und Weltverhältnissen zugrunde liegt, als „Ontologie des Noch-nicht-Seins“ zu lesen. Eine Kulturphilosophie, die er den gedanklichen und kulturellen Mechanismen der Moderne entgegensetzt.
Ernst Bloch distanziert sich in seinem Hauptwerk (geschrieben zwischen 1938 und 1947) von der zunehmenden Geistlosigkeit des Reisens ab dem 19. Jahrhundert durch den Massentourismus, die sich für ihn auch in der wahllosen Aneignung von ästhetischen und ethnologischen Versatzstücken in der bürgerlichen Kultur äußert. Bloch setzt dem das „Prinzip Hoffnung“ entgegen; eine Kulturphilosophie, die sich vom Drang des Materiellen löst.

Burghart Schmidt: „…ganz wichtig, dass Bloch den Charakter der Utopie verändert hat. Nicht mehr geht es mit Utopie um einen Entwurf idealer Gesellschaften, Utopie wird vielmehr eine Denk-, Vorstellens- und Bewusstseinshaltung.“ Bloch füllt mit einem utopisierenden Durchgang durch die Kulturgeschichte bis in die Religionen hinein am kritischen Leitseil der Zukunft in der Vergangenheit entlang, Utopie und Hoffnung als Haltung. (Zit. in: Hermann Schenkel „Das ferne Nahe. Eine Philosophie des Reisens“, Der blaue Reiter, Hrsg. Verlag für Philosophie, Heft 23, Hannover 2007)

Dort
Roland Barthes schließlich dekonstruiert 1970 den Konflikt zwischen den Projektionen und Hoffnungen und der komplexen Realität geografischer Orte. Im Bewusstsein um die Kraft und das Potenzial dieser Projektionen hebt er gleich in der Einleitung zu seinem Buch „Das Reich der Zeichen“ (Roland Barthes, Suhrkamp, Berlin 198, im Original „L´empire des signes“, 1970) diese semiotische Verbindung auf.
„Wenn ich mir ein fiktives Volk ausdenken will, kann ich ihm einen erfundenen Namen geben, kann es erläuternd als Romangegenstand behandeln (…). Ich kann auch ohne jeden Anspruch, eine Realität darzustellen oder zu analysieren irgendwo in der Welt (dort) eine gewisse Anzahl von Zügen (ein Wort mit graphischem und sprachlichem Bezug) aufnehmen und aus diesen Zügen ganz nach Belieben ein System bilden. Und dieses System werde ich Japan nennen.“ (…)
„Orient und Okzident dürfen hier also nicht als Realitäten verstanden werden, die man einander historisch, philosophisch, kulturell oder politisch anzunähern oder entgegenzusetzen suchte. Ich blicke nicht mit verliebten Augen auf ein ‘Wesen des Orients‘; der Orient ist mir gleichgültig, er liefert mir lediglich einen Vorrat von Zügen, den ich in Stellung bringen und, wenn das Spiel erfunden ist, dazu nutzen kann, in der Idee eines unerhörten Symbolsystems zu schwelgen, das von dem unsrigen völlig missverstanden wird. Was wir in der Betrachtung des Orients anstreben können, sind keine anderen Symbole, keine andere Metaphysik, keine andere Weisheit (…), sondern die Möglichkeit einer Differenz, einer Mutation, einer Revolution im Charakter der Symbolsysteme.“

Das Zusammenleben der Zeiten
In seinem 1984 entstandenen Film „Sans Soleil“ enthebt sich Chris Marker dem Verdacht der Abbildung durch einen fiktiven Monolog über einen Briefwechsel, der die eigentlich dokumentarischen Bilder des Films in einen kontemplativen Dialog begleiten. „Er liebte die Vergänglichkeit dieser flüchtigen Momente, diese Erinnerungen, die zu nichts anderem gedient hatten, als eben Erinnerungen zu hinterlassen. Er schrieb: Nach einigen Reisen um die Welt interessiert mich nur noch das Banale. Ich habe es während dieser Reise mit der Ausdauer eines Kopfjägers verfolgt. Beim Morgengrauen werden wir in Tokyo sein.
Er schrieb mir aus Afrika. Er verglich die afrikanische Zeit mit der europäischen Zeit, aber auch mit der asiatischen. Er sagte, im 19. Jahrhundert habe die Menschheit ihre Rechnung mit dem Raum beglichen, und es gehe im 20. Jahrhundert um das Zusammenleben der Zeiten.“

Drehen wir den Sichtschlitz unserer Wahrnehmung aus dem einleitenden Bild um 90 Grad auf eine Zeitachse, dann eröffnet sich eine völlig andere Perspektive. Wir erleben Fokussierung und die Einführung von Zeitlichkeit. Sie erlaubt den Blick auf Potenziale, auf Möglichkeiten des Wandels, auf einen Schatz an Utopien, an das Noch-nicht-Seiende der Vergangenheit. Auf Hoffnung statt Angst.
Das Prinzip Ferne.



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