Film

ICH ICH ICH

Marie (Elisa Plüss) wird von ihrem Freund Julian (Thomas Fränzel) auf der Hochzeit seines Bruders vor versammelter Familie mit einem Heiratsantrag überrumpelt. Marie hat keinen Schimmer, wie sie darauf reagieren soll. Sie türmt aufs Land, um allein über sich, ihr Leben und ihre Beziehung nachzudenken. Allein?
Im Ferienhaus ihrer Mutter wird es alsbald zunehmend enger und absurder: denn Maries Gedanken nehmen plötzlich Gestalt an, ihre Gedankenmenschen werden immer zahlreicher und penetranter. Sie zwingen ihr mögliche Babynamen auf, ein Ex-Freund klettert von Bäumen herunter und ein „lyrisches Ich“ im Sari verkündet Maries Innenwelt in Versen. Schließlich kommt ihr Möchtegern-Verlobter ganz real in die trügerische Einsamkeit der Uckermark und bringt gleich eine ganze Busladung eigener Gedankenmenschen mit…
Regie: Zora Rux
DE 2021, 85 Minuten
The Inspection

New Jersey, 2005: Verstoßen und obdachlos sieht Ellis French (Jeremy Pope) seine letzte Hoffnung ausgerechnet bei den US-Marines. Seine religiöse Mutter hat ihn als Teenager vor die Tür gesetzt. Mein schwarzer Sohn – schwul? Das gibt es in ihrer Welt nicht. Nun soll das Militär ihn seiner Mutter wieder näherbringen.
Schreiattacken, Drill und Demütigung: „The Inspection“ von Regisseur und Autor Elegance Bratton bleibt in seinem dramaturgischen Bogen nah an bekannten Bootcamp-Filmen. Als Ellis‘ Homosexualität im Lager bekannt wird, eskalieren die Schikanen der Vorgesetzten und Rekruten, besonders grausam: Drill-Sergeant Laws (Bokeem Woddbine). Bemerkenswert ist die Vorlage des Films. Bratton erzählt hier seine persönliche Lebensgeschichte. Mit neonfarbenen Tag- und Nachtträumen, die an dampfige Clubszenen erinnern, fügt Bratton der Militärerzählung eine queere Komponente hinzu. Mit dem muslimischen Rekrut Ismail trifft Ellis auf einen Leidensgenossen. Nach den 9/11-Anschlägen finden sich beide in der Hackordnung ganz unten wieder.
Auch wenn das Drama keine Überraschungen zu bieten hat, überzeugt Pope als sensibler junger Mann, der sich erst durch das Stahlbad Bootcamp zu akzeptieren lernt. Denn am Ende gewinnt er den Respekt der Kameraden und seinen eigenen dazu.
(Martin Nguyen)
Regie: Elegance Bratton
USA 2022, 100 Minuten
(Ab 24.8. im Kino)
Vienna Calling

Der deutsche Regisseur und Kulturjournalist Philipp Jedicke ist dem räudigen Charme Wiens erlegen. Seine Doku „Vienna Calling“ begibt sich auf die Spurensuche nach der subkulturellen Szene abseits des Mainstreams. Tschocherlcharme statt Fiaker und Sissi. Den „Grind and Sing“ findet Jedicke bei den Dialektsängern Voodoo Jürgens und Nino aus Wien. In seiner widersprüchlichen Vielfalt hat die Stadt aber auch Platz für das migrantische Geschwister-Rapduo Esrap und für Kerosin95, das binäre, patriarchale Strukturen auf der Bühne anprangert.
Der Film will kein klassisches Künstlerinnenporträt sein, sondern mäandert stattdessen durch Wiener Szenelokale wie das Schmauswaberl und die Kultlocation Arena, durchbrochen von Musikvideos und privaten Schnipseln. Jedicke spielt dabei mit dem düsteren, versifften Charme einer Großstadt, die in morbider Lässigkeit den Wiener Donaukanal als Eventlocation zu bieten hat. Eine Corona-konforme Kabinenparty ermöglicht während der Pandemie die musikalische Peepshow. Auf der zentralen Drehbühne eines Erotiketablissements spielt Voodoo Jürgens auf, das Publikum schaut über ein verspiegeltes Guckloch zu. So entsteht ein fragmentarisches Kaleidoskop, das nicht lange stillhält, sondern sich vom Sog der Musik treiben lässt. Zurücklehnen und genießen.
(Martin Nguyen)
Regie: Philipp Jedicke
Ö/D 2023, 85 Minuten
(Ab 25.8. im Kino)
Passages

Kreativ, narzisstisch, rücksichtslos: Tomas (Franz Rogowski im Netzhemd) ist ein deutscher Regisseur in Paris, verheiratet mit dem britischen Künstler Martin (Ben Whishaw). Als er in einer Bar auf die französische Lehrerin Agathe (Adèle Exarchopoulos) trifft, findet der harmlose Tanz im Bett eine leidenschaftliche Fortsetzung. Mit wenig Scham und viel mehr Stolz berichtet Tomas seinem Mann am nächsten Morgen von dem andersgeschlechtlichen Abenteuer. Während Martin Wut und (erneute) Enttäuschung zu kontrollieren versucht, fordert Tomas Verständnis für seine neue Erfahrung ein.
Der US-Amerikaner Ira Sachs beobachtet mit großer Genauigkeit in seiner Beziehungsstudie „Passages“, wie Tomas‘ selbstsüchtiges Verhalten tiefschürfende Schäden anrichtet: er lügt und betrügt, um seine Bedürfnisse an erster Stelle zu wissen. Auf der anderen Seite ist das Bett viel wärmer, denn trotz der Affäre mit Agathe will er Martin nicht aufgeben. Agathe wirkt wie ein Brandbeschleuniger, der Tomas‘ Narzissmus und Besitzgier an die Oberfläche treibt. Rogowski spielt solide den charismatischen Egoisten, Whishaw glänzt in seiner nuancenreichen Darstellung einer verletzten Seele, während Exarchopoulos‘ Rolle als passives Love Interest und Projektionsfläche ihr weniger Spielraum lässt. (Martin Nguyen)
Regie: Ira Sachs
F 2022, 91 Minuten
(Ab 31.8. im Kino)
Patrick and the Whale
Eine außergewöhnliche Freundschaft

Als der in seinem Brotjob frustrierte Anwalt und Meeresforscher Patrick Dyckstra sich auf die Suche nach den größten Tieren der Erde, den Blauwalen, macht, trifft er auf weitere Meeressäuger. Die einen klicken, die anderen singen, doch das ausgeprägte Sozialverhalten der Pottwale scheint Patrick besonders zu fesseln.
Regisseur Mark Fletcher stellt die Beziehung von Mensch und Tier in seiner Doku „Patrick and the Whale – Eine außergewöhnliche Freundschaft” in den Mittelpunkt. Das narrative Gerüst des Films bildet ein Interview mit Patrick, in dem er seine Liebe und Verbindung zu den sanften Riesen zur Schau stellen darf. Die Waldame Dolores hat es ihm dabei besonders angetan. Sie kennt keine Scheu vor dem fremden Menschen im Wasser. Es gehört zu den einnehmendsten Bildern, wenn die Kamera buchstäblich hautnah dabei ist, als sich der Taucher und das mächtige Tier imitieren. Doch plötzlich verschwindet Dolores (Wale tauchen leider nicht auf Zuruf auf) und ein anderer Pottwal, Can Opener, nimmt ihren Platz in der Erzählung ein. Beizeiten nimmt Patricks therapeutische Projektion überhand, die Vermenschlichung der Tiere gerät zu spekulativ und so geht dem Film trotz beeindruckender Unterwasseraufnahmen am Ende erzählerisch etwas die Luft aus. (Martin Nguyen)
Regie: Mark Fletcher
Ö 2022, 72 Minuten
(Ab 8.9. im Kino)