Filme

Die Unschuld. Regie: Hirokazu Kore-eda, JP 2023, 127 Minuten

Die Filmtipps aus der Redaktion


Archiv der Zukunft

Regie: Joerg Burger
Ö 2024, 92 Minuten
(Ab 15.3. im Kino)

Hier schwimmen Fische in Spiritusgläsern, hier blicken vorwurfsvolle Augen ausgestopfter Affen in die Gesichter der Besucherinnen und Besucher: Vier Jahre lang begleitete Regisseur und Kameramann Joerg Burger in seinem dokumentarischen Rundgang die Prozesse und Abteilungen des Naturhistorischen Museums in Wien.
Was der Mensch auf der Erde findet, wird im Evolutionsmuseum gesammelt, archiviert und studiert. Die Kamera ist dabei stiller Beobachter und lässt das Team des Hauses erzählen. Was alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eint, ist die spürbare Begeisterung für ihr Fach. Sei es die Präparation eines Löwen, die Rekonstruktion eines Dinosaurierskeletts nach dem neuesten Wissensstand oder der 3D-Scan eines Exponats, das selten seine Hochsicherheitskammer verlässt: die Venus von Willendorf. Neben der Euphorie beleuchtet der Film auch die dunklen Kapitel des Hauses. Die Sammlung beherbergt etwa Werkzeuge zur rassistischen Vermessung des Menschen im Nationalsozialismus. Mit einem Problem haben aber beinah alle Abteilungen zu kämpfen: Das Wachstum der Bestände übersteigt schon längst die Kapazitäten des Personals und der Speicher. So genau weiß keiner, was noch in diesen Beständen schlummert. Doch die Archive, das Arsenal und die Aufzeichnungen des Museums stehen bereit für einen zukünftigen Erkenntnisgewinn. (Martin Nguyen)


Die Unschuld
(OT: Kaibutsu)

Regie: Hirokazu Kore-eda
JP 2023, 127 Minuten
(Ab 21.3. im Kino)

Eine kleine Stadt in Japan. Der junge Minato (Kurokawa Soya) verhält sich merkwürdig. Zunächst kommt er nur mit einem Schuh nach Hause, dann schneidet er sich seine Haare ab, bis er auf einmal aus dem fahrenden Auto stürzt. Seine besorgte Mutter, die alleinerziehende Saori (Ando Sakura), verdächtigt Minatos Lehrer Hori (Nagayama Eita), ihren Sohn misshandelt zu haben. Sie fordert von der Schuldirektorin Konsequenzen, die ihren Fragen jedoch mit unterwürfiger Höflichkeit ausweicht. Als Lehrer Hori andeutet, dass Minato seinen Mitschüler Yori drangsaliert, kündigt sich eine weitere Wahrheit an.
In drei Episoden mit unterschiedlichen Perspektiven – aus der Sicht der Mutter, des Lehrers und des Kindes – entblättert Kore-eda in Flashbacks erst nach und nach den Kern der Erzählung. Dabei hält er dem Publikum seine eigene Voreingenommenheit vor, die durch Kore-edas Fährten und Andeutungen genährt wird. Auch der internationale Filmtitel „Monster“ verleitet zu vorschnellen Annahmen, die beinah manipulativ wirken. So beginnt der sehenswerte Film als mysteriöser Thriller, der im letzten Drittel zu Kore-edas charakteristischer Stärke findet. Hier wird sein humanistischer Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen, seine Empathie für die Welt der Kinder spürbar. (Martin Nguyen)


Slow

Regie: Marija Kavtaradze
LTU/E/SWE 2023, 108 Minuten
(im Kino)

Eine Tänzerin mit Kurven, ein Mann, der keinen Sex will: Die litauische Filmemacherin Marija Kavtaradze erzählt in ihrem wunderbaren Liebesfilm, gedreht auf warmem, körnigem 16mm-Material, von untypischen Figuren, die keinen Klischees entsprechen. Elena (Greta Grinevičiūtė) bietet einen Tanzkurs für gehörlose Jugendliche an. Ihr zur Seite steht der Gebärdensprachdolmetscher Dovydas (Kęstutis Cicėnas). Dass die Energie zwischen ihnen stimmt, merken beide bereits nach wenigen Momenten. So nähern sie sich emotional und körperlich an, bis Dovydas zurückschreckt und ihr gesteht: „Ich bin asexuell“. Für Elena eine Abweisung, die bisher frei und ungezwungen ihre Sexualität, auch mit unterschiedlichen Partnern, ausgelebt hat. Elena recherchiert im Internet, will verstehen und weiß doch nicht so recht, was Dovydas „Outing“ bedeuten soll. Doch sie möchte es und Dovydas auch: Zusammensein. Wie gelingt Intimität in einer Liaison, die jeder anders lebt?
Es beginnt ein Ringen, wie eine funktionierende Beziehung für Elena und Dovydas aussehen könnte. Dovydas kann seine Sexualität nicht ändern, Elena nicht ihre körperlichen Bedürfnisse. Dabei ist die Chemie der beiden Liebenden so sicht- und spürbar auf der Leinwand, dass man sich wünscht, sie finden einen Weg für ihre Liebe. (Martin Nguyen)


Favoriten
Eröffnung „Diagonale“ 2024

4. April 2023, 19:30 Uhr
Helmut List Halle, Graz

Die „Diagonale“ eröffnet dieses Jahr mit der Österreichpremiere von Ruth Beckermanns Dokumentarfilm „Favoriten“. Beckermann nimmt das Publikum mit in den 10. Wiener Gemeindebezirk, in eine der größten Volksschulen der Stadt und begleitet eine Klasse und ihre Lehrerin drei Jahre lang mit der Kamera: Von den ersten krakeligen Schreibversuchen über Faschingspartys bis zu Schularbeiten und Elternsprechtagen bekommen wir Einblick in eine bemerkenswerte kleine Gemeinschaft, wie es sie wohl in allen größeren Städten Europas gibt. Ein liebevolles Porträt über eine Klasse und ihre engagierte Lehrerin, das gleichzeitig als relevantes Zeitdokument einmal mehr aufzeigt, dass alle Kinder das Recht auf bestmögliche Bildung haben müssen, unabhängig von ihrer finanziellen Situation oder Herkunft.
 
Still: Ruth Beckermann Filmproduktion


Der Zopf
(OT: La tresse)

Regie: Laetitia Colombani
F/I/CAN/B 2023, 121 Minuten
(im Kino)

Drei Frauen, drei Geschichten, drei Schicksale: Die französische Bestsellerautorin Laetitia Colombani verfilmt ihren eigenen Roman „Der Zopf“ und bringt die Leben der Inderin Smita (Mia Maelzer), der Italienerin Giulia (Fotinì Peluso) und der Kanadierin Sarah (Kim Raver) auf die große Leinwand.
Smita, aus der Kaste der Unberührbaren, erträumt sich für ihre Tochter ein besseres Leben, das mehr bietet, als Latrinen zu reinigen. Doch das Geld fehlt, die täglichen Schikanen sind bald unerträglich. So beschließt sie eines Tages heimlich, ihren Mann zu verlassen und mit ihrer Tochter zu fliehen. Giulia hingegen kämpft mit den Schulden der Perückenwerkstatt ihres Vaters, der nach einem Unfall im Koma liegt. Währenddessen ist Giulias Mutter nicht angetan von ihrer Liebschaft mit einem Inder. Vielmehr schlägt sie eine Heirat mit dem Sohn der wohlhabenden Nachbarn vor. Eine Tochter für ein Haus. Ganz andere Sorgen hat die Anwältin Sarah. Alleinerziehend mit drei Kindern, kurz vor der lang ersehnten Beförderung, reißt eine Krebsdiagnose sie aus ihrem gut betuchten Leben.
Die Erzählstränge werden lange parallel geführt, eintönig im Takt wechseln die Schauplätze in der gleichen Sequenz, bevor der Film die drei Schicksale miteinander verknüpft. Nur unerwartet ist das alles nicht. Die Vorhersehbarkeit und das Plakative trüben merklich das Sehvergnügen. (Martin Nguyen)


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