Fünf vor Zwölf
Von Vera Deleja-Hotko
Sommer 2018. Ein Mädchen sitzt am Boden vor dem Regierungsgebäude in Schweden. Neben ihm lehnt ein Schild an der Mauer. „Skolstrejk för Klimatet“, Schulstreik für das Klima, steht darauf geschrieben. Das Mädchen sitzt ruhig, schreit keine Parolen. Manche Passanten bleiben stehen, fragen, was sie da mache, denn eigentlich sollte sie ja im Unterricht sitzen. Sie werde nicht mehr in die Schule gehen, antwortet das Mädchen. So lange bis der Schutz des Klimas Teil der politischen Agenda werde. Zuerst in Schweden und dann überall auf der Welt. Ihr Name: Greta Thunberg.
Zweieinhalb Jahre später ist Greta keine Unbekannte mehr. Sie und ihr Schild sind weit gereist, nach Davos, zum Weltwirtschaftsforum und nach New York, zum UN-Klimagipfel. Und zu zahlreichen Demonstrationen von jungen aber auch alten Aktivisten, die sich von ihrer Hingabe inspirieren ließen. Zeitgleich formierte sich die Bewegung „Fridays for Future“. Woche für Woche gingen jung und alt seither gemeinsam auf die Straße. In Metropolen ebenso wie in kleinen Dörfern. Primär im Globalen Norden, jedoch auch im Globalen Süden. Am 20. September 2019, beim bislang größten globalen Klimastreik, waren es ganze vier Millionen Menschen weltweit.
Gretas Kampf für eine klimagerechte Welt begann mit einem Film über Polarbären, die verhungerten, da ihr Lebensraum Stück für Stück zerstört und somit verkleinert wurde. Eine Ungerechtigkeit, die Greta so nicht hinnehmen wollte und vor allem auch nicht konnte. Aus dieser Wut wurde Energie, die sie schließlich dazu brachte, sich im Sommer 2018 – zuerst Tag für Tag, dann jeden Freitag – vor das schwedische Parlament zu setzen, anstatt in die Schule zu gehen.
Im September 2019 saß sie dann auf dem Podium des UN-Klimagipfels in New York, hinter ihr eine Leinwand im Blauton der Vereinten Nationen. Zwei Wochen lang war sie für diesen Auftritt über den Atlantik mit einem Sport-Segelboot angereist. Sie hielt eine Rede vor den wichtigsten politischen Vertretern der Welt und nahm sich dabei kein Blatt vor den Mund: „I shouldn‘t be up here. I should be back in school on the other side of the ocean. Yet you all come to us young people for hope. How dare you. You have stolen my dreams and my childhood with your empty words.“ Während sie das sagte, stiegen ihr Tränen in die Augen, vor Wut.
Wenn Greta auf einer Bühne steht, verliert sie bei ihren Statements nie den Fokus aus den Augen. Sie bleibt stets bei genau dem Thema, das sie vermitteln möchte. Ihre Argumente unterstreicht sie mit wissenschaftlichen Studien – die Dringlichkeit mit ihren Emotionen. Sie ist traurig, welche Folgen für Mensch und Tier der Klimawandel hat. Aber vor allem ist sie wütend, dass die Politiker und Politikerinnen sich zwar für sie zu interessieren scheinen, jedoch nicht wirklich aktiv werden. Stattdessen lassen sie sich lieber mit ihr ablichten, wie der französische Präsident Emmanuel Macron es als Erster machte. Oder aber sie greifen Greta an. Und bereiten dadurch den Weg für andere.
War Greta früher ein Mädchen, das keiner kannte, so stieß sie ab dem Sommer 2018, als sie vor dem schwedischen Parlament zu demonstrieren begann, sehr oft auf blanken Hass, der sich gegen ihre Positionen richtete, aber oftmals auch gegen sie als Person. Auf ihren Profilen in den sozialen Netzwerken, aber auch in journalistischen Artikeln und politischen Statements wurde gegen sie Stimmung gemacht. Vor allem jene, die den menschengemachten Klimawandel nicht als existent ansahen, stilisierten sie zu einer Hassfigur.
Zwar nahm sie manches locker. Etwa im September 2019, als der damalige US-Präsident Donald Trump sie wiederholt angriff. Auf Twitter schrieb er, Greta sollte chillen, an ihrem „anger management problem“ arbeiten und sich lieber mit Freunden einen guten alten Film ansehen. Daraufhin änderte Greta ihre Twitter-Biografie: „A teenager working on her anger management problem.
Currently chilling and watching a good old fashioned movie with a friend.“
Anderes traf sie jedoch härter. Dies wird vor allem in der Dokumentation „I am Greta“, die im Oktober 2020 veröffentlicht wurde, deutlich. Der britische Regisseur Nathan Grossman begleitete Greta seit ihren ersten Protesten vor dem schwedischen Parlament über zwei Jahre zu beinahe jedem Event und jedem Treffen. Dabei versuchte er Greta vor allem auch jenseits des Blitzlichtgewitters einzufangen. Jene Greta, die einfach auch ein Teenager ist, die auf ihren Reisen ihre Hunde ebenso wie ihre Mutter und Schwester vermisst. Mit einem klaren Ziel vor Augen, jedoch begleitet von Unsicherheiten und Ängsten, vor allem von der Angst vor der Öffentlichkeit.
Dennoch ließ sich Greta nicht von ihrer Unsicherheit oder dem Hass, der ihr widerfährt, von ihrem Kampf für globale Klimagerechtigkeit abbringen. Sie war sich immer bewusst, dass ihr Auftreten und ihre Person mehr Aufmerksamkeit auf das Thema ziehen, das ihr so sehr am Herzen liegt. Dies wird in der Dokumentation deutlich. Sie, das kleine Mädchen mit den zwei Zöpfchen, welches den Staatsoberhäuptern der Welt die Stirn bietet. Deshalb sei sie auch weiterhin öffentlich präsent, obwohl sie es eigentlich in vielen Momenten schöner fände, wenn sie im Hintergrund abtauchen könnte, so erzählt sie es in der Dokumentation.
Ihre Präsenz war nicht nur für das Klima wichtig, sondern auch für Mädchen und Frauen. Beim größten globalen Klimastreik waren laut einer Studie der TU Chemnitz 60 Prozent der vier Millionen Teilnehmenden weltweit weiblich. Zahlreiche nationale wie regionale Gruppen werden heute nicht nur von Mädchen und Frauen geleitet, sondern auch in der Öffentlichkeit von ihnen repräsentiert. So ist beispielsweise Luisa Neubauer, Hauptorganisatorin der Klimastreiks in Deutschland, häufig zu Gast in Diskussionsrunden. Mittlerweile hat sie zusammen mit einem Mitstreiter das Buch „Vom Ende der Klimakrise“ geschrieben, das skizziert, was passieren könnte, wenn der Kurs in der Klimapolitik nicht geändert wird.
Seit mittlerweile einem Jahr ist jedoch für „Fridays for Future“ alles ganz anders – wie für alle Menschen auf der Welt. In Zeiten der Pandemie ist es nur unter Einhaltung strenger Hygienevorschriften möglich, gemeinsam auf der Straße demonstrieren zu gehen. Greta rief deshalb von Beginn an dazu auf, die Streiks mit genügend Abstand und Maske oder online abzuhalten – so, wie die Wissenschaft es rät.
Dafür geht sie mit gutem Beispiel voran: Seit März 2020 ist sie bei sich zuhause in Schweden. Anstatt von Auftritt zu Auftritt zu reisen, verbringt sie Zeit mit ihren Hunden, ihrer Familie sowie Lernen, wie sie in einem Interview mit der BBC erzählt. Weniger aktiv ist sie deshalb nicht, im Gegenteil. Im Dezember 2020, fünf Jahre nachdem das Pariser Klimaabkommen unterzeichnet wurde, veröffentlicht sie ein Video. Sie erinnert an das Ziel des Abkommens: den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen. Und daran, dass die Politiker und Politikerinnen, die dies unterzeichneten, sich nicht daran halten würden. „We cannot solve a crisis, without treating it as a crisis”, ermahnt sie. „Let’s unite and spread awareness. (…) This is the solution. We are the hope. We, the people.“
theyearofgreta.com
climateemergencyeu.org
facebook.com/gretathunbergsweden
youtube.com/watch?v=H2QxFM9y0tY
iamgreta-derfilm.com