Gemeinsame Welt

Scheinbar einfache Dinge wie ein Wasserhahn werden wichtig für Wasserversorgung und Hygiene, wenn Grundlegendes fehlt. Sebastian Corti (2. v. rechts) mit dem Team von „World Vision“ Österreich in Tansania. Foto World Vision

Projekt oder Utopie?

Zwischen Nächstenliebe, Nationalismen und einem neuen globalen Kolonialismus. Der Geschäftsführer einer internationalen Hilfsorganisation erzählt.

Von Robert Fabach

Was in den vergangenen Jahren zu einer Unmöglichkeit geworden scheint, ist der Austausch von menschlichen Erfahrungen und anderen Perspektiven. In einem Zeitalter der großen Verängstigungen, der Desinformation und Gesinnungsblasen, hört man sich immer weniger zu und Erzählungen verkommen rasch zum Werkzeug der Einordnung in Freund oder Feind. Zerfallen die großen gemeinschaftlichen Ideen, weil keiner mehr zuhören will?

„America first“? Oder Großbritannien, Österreich, Ungarn, Italien? Es wird beschworen, ausgegrenzt, es wird zurückgeschickt, vertrieben und gereinigt, ethnisch und nach Gesinnung. Rhetorisch und faktisch.
Raubbau an Ressourcen, Klimakrisen und der Verlust von Lebensräumen, globale Migration und Ausgrenzung, dazu der globale Vormarsch von Populisten und offene Demokratiefeindlichkeit, sind zu einer bedrohlichen Spirale geworden. Alles vor dem Hintergrund einer immer absurder aufgehenden Schere zwischen Armut und Reichtum.

Humanistische Ideale, sozialpolitische Projekte und seit vielen Jahren aktive Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit und Nothilfe werden dabei schnell diskreditiert und bedenkenlos in diesen stereotypen Mechanismus hineingezogen. Um ihre Arbeit unter diesen Bedingungen fortsetzen zu können, sind diese Initiativen oft auf pragmatische Neutralität bedacht und enthalten sich zumeist aller gesellschaftspolitischen Kommentare. Dabei laufen in ihrer Erfahrungswelt täglich viele Lebenswirklichkeiten und Zusammenhänge von Not und Stimmungsblasen ineinander.

In diesem Spannungsfeld stehen die biografischen Erfahrungen von Sebastian Corti aus einem Leben in sehr unterschiedlichen Welten. Corti, 1966 als Sohn von Cecily und Filmemacher Axel Corti geboren, studierte Wirtschaftswissenschaften in St. Gallen in der Schweiz und war danach viele Jahre im europäischen und asiatischen Ausland als Investment Banker und Unternehmensberater tätig. Nach einer einjährigen Auszeit und einer Reise längs durch Afrika, war er von 2004 bis 2010 als Regionalleiter für den Nahen Osten im Koordinationsbüro von SOS Kinderdorf in Kairo tätig. Seit 2014 ist er Geschäftsführer von „World Vision“ Österreich. Heute berichtet er im Interview mit großer Bescheidenheit und Bedacht von den Erfahrungen als Reisender zwischen Welten.

Wo setzt die Arbeit Ihrer Hilfsorganisation an, ist das nicht ein unüberschaubares Dickicht?

Wir arbeiten nach dem humanitären Prinzip, das heißt, wir leisten Hilfe ungeachtet der ethnischen, religiösen, politischen, geschlechtlichen oder sonstigen Identität. Wir setzen uns für die Stärkung von Menschenrechten und speziell Kinderrechten ein, sowohl bei Regierungen als auch in den Local Communities. Damit sich auch die Kinder selbst einsetzen und dafür ein Bewusstsein entwickeln.
Nordsyrien und Somalia sind typische fragile Kontexte, in denen staatliche Strukturen teils nur noch rudimentär vorhanden sind. Zu solchen Aufgaben wollen wir uns strategisch hinentwickeln. Dort ist die Arbeit zwar teurer und gefährlicher als woanders, aber dort ist die Not, die Wahnsinnsnot, am größten.
In Somalia, Somali-Land, wo ja auch eine Art Bürgerkrieg herrscht, haben wir sehr großflächige Einsatzgebiete, oder auch welche in Afghanistan mit über 700 Mitarbeitern. Wir sind dort wie überall als christliche Hilfsorganisation bekannt. Wir missionieren nirgendwo, arbeiten auch dort mit weiblichen Kolleginnen, auch in leitenden Positionen. Das zeigt, dass auch in so schwierigen Kontexten eine Wertschätzung für diese Arbeit da ist.

Wie geht man mit wechselnden Machtverhältnissen um?

Die Wertschätzung kommt vor allem von den Menschen und lokalen Institutionen. Wir sind auf sehr lokaler Ebene aktiv, da kommuniziert nicht London mit Kabul. Das ist ganz nah bei den Menschen. Wir betreiben neun Langzeitprojekte in Mosambik, Eswatini (ehemals Swasiland), in Sierra Leone, Tansania, Vietnam und in Myanmar von Österreich aus. Mit jeweils 25.000 bis 50.000 Menschen, die in jedem einzelnen dieser Projekte Unterstützung erfahren. Insgesamt sind es 40 Projekte.
Es geht in erster Linie um die Vermittlung von Wissen, von Fähigkeiten, darum, Verantwortung für sich selbst und für die Community zu übernehmen. Es ist wichtig, dass die lokale Community sehr stark involviert wird in die Planung, aber auch in die Umsetzung, von Anfang an sind es ihre Projekte – nicht unsere.

Das geschieht basierend auf bewährten Projektmodellen, wo wir wissen, dass wir das gemeinsam mit den Communities umsetzen können. Wir machen nicht alles, aber konzentrieren uns auf die fünf Bereiche Wasser und Hygiene, Landwirtschaft und Nahrung, Bildung, medizinische Grundversorgung und nachhaltige Einkommensversorgung. Und quer durch alle Bereiche spielt der mangelnde Kinderschutz eine sehr wichtige Rolle, der von den Kindern selbst oft als größtes Problem gesehen wird.
Durch die langjährige und die großflächige Präsenz vor Ort, durch Kenntnis der Kultur, der Sprache, der Mentalität, der Behörden sind wir auch oftmals in der Lage, sehr schnell zu reagieren, wenn eine Naturkatastrophe – wie zum Beispiel im vergangenen Jahr in der Türkei und Nordsyrien – oder auch eine menschengemachte Katastrophe passiert. Daraus ist die Katastrophenhilfe erst erwachsen und durch unsere lokale Vernetzung wissen wir, wo die Not am größten ist.

Wer ist wem der Nächste – eine Vision in beide Richtungen?

„Allgemein gibt es hier zwar unverändert gebetsmühlenartige Bewunderung und Anerkennung für diese Arbeit, aber das Interesse endet an diesem Punkt. Kaum jemand fragt, was du erlebst, was du mitnimmst, das ist überraschend und ernüchternd. Jeder ist unglaublich mit sich selbst beschäftigt.
„Was ihr den geringsten meiner Brüder getan habt, habt ihr mir getan.“ (Matthäus, 25) Die Bedeutung dieses Satzes erleben wir in beiden Richtungen.

Damit sind nicht nur die Menschen im Globalen Süden gemeint, sondern auch oft wir selbst. Dort mangelt es an vielem und allem, aber was dort nicht fehlt, ist Spiritualität, ein wesentliches Element des Lebens und Überlebens. Das ist etwas, woran es hier im Globalen Norden oft sehr stark mangelt, was zu Einsamkeit, zu Verzweiflung führt, zur ständigen Notwendigkeit der Ablenkung. Uns ist ja die Sinnfrage verloren gegangen. Deshalb habe ich auch immer wieder Anfragen von Menschen, die etwas erreicht haben im Leben, aber fragen, ob sie mitfahren und mithelfen können. Neben vielen kleinen Spenden sind es gelegentlich auch Großspender, die aus Überzeugung helfen wollen, meist Familienunternehmen oder philanthropische Persönlichkeiten. Von Konzernen würden wir uns oft mehr die Weitsicht wünschen, nicht nur nach dem direkten Return of Investment einer humanitären Spende zu fragen.

Sind diese Erfahrungen überhaupt vermittelbar, wie fern ist die Ferne?

Wir erleben, dass sich die Medienaufmerksamkeit verschoben hat, die Medien konzentrieren sich mehr auf nationale Themen. Es gibt die Aufmerksamkeit für das Ausland bei großen Katastrophen und nur für eine kurze Zeit. Wir merken auch, dass Organisationen, die im Inland tätig sind, mehr mediale Aufmerksamkeit erhalten. Medial bedeutsam ist es, den eigenen Leuten zu helfen und man verliert dabei aus den Augen, wie groß die Not anderswo ist.

Das spiegelt sich auch in der Spendenbereitschaft, die sich für die Entwicklungszusammenarbeit reduziert hat. Wir sind uns selbst oftmals am nächsten.

Es ist ein anderes Lebensgefühl in unseren Einsatzgebieten. Ich erlebe immer einen kleinen Kulturschock, wenn ich nach Österreich zurückkomme. Es tut mir auch immer leid, nicht für mich persönlich, sondern für die Menschen hier, dass sie gar nicht wissen, wie man woanders lebt oder leben kann, sowohl im Schlimmen, als auch im Positiven, im Miteinander, in einer Verbundenheit. Wie wenig bedeutend sind wir in Österreich letztendlich in einem globalen Kontext? Wir nehmen uns aber so wichtig. Es fehlt uns – und nicht nur uns – schon sehr an Demut vor diesem Reichtum, den die meisten nie schmecken werden. Ich persönlich bin sehr dankbar, dass ich mich mit dem auseinandersetzen kann und die Chance habe, meine Perspektive dadurch immer wieder zurecht zu rücken.

Es ist schon sehr gut, etwas anderes kennenzulernen. Nicht zwischen Touristen am Markt von Marrakesch, sondern – und das ist das große Privileg – bei den Menschen zu sein, wo sonst kaum jemand hinkommt und sie auch in ihrer Sprache – übersetzt – zu erleben. Das ist schon sehr berührend. Es macht einen auch dankbar. Der Reichtum, den diese Welt zu bieten hat, bei aller Not, das ist schon auch sehr herzzerreißend.

Je länger man hier in Europa ist, desto mehr gewinnen Dinge an Bedeutung, die eigentlich keine Bedeutung haben. Und das wird einem erst bewusst, wenn man wieder im Projektgebiet ist und man fragt sich, womit hast du dich eigentlich beschäftigt? Darüber hier zu berichten, das zu vermitteln ist schwierig. Es gelingt am besten, indem wir Menschen in Einsatzgebiete mitnehmen und sie dort erleben lassen.


Life in all its fullness for every child

Solche Arbeit ist wohl der wirksamste Hebel, um den eingangs beschriebenen Teufelskreis zu durchbrechen. Wer sich einander die Hand reicht, wird die Ausbeutung und Vermüllung ganzer Regionen nicht mehr als distanziertes Problem sehen. Migrationsbewegungen werden keine „Krisen“ mehr sein, sondern das Resultat von Verwüstungen durch klimabedingte Katastrophen und Rohstoffkriegen. Krisen bedeuten Profit. Diese Probleme regelt kein Markt.

„World Vision“ und andere Organisationen helfen den Ärmsten in halbwegs stabilen Kontexten, sich selbst nachhaltig aus der Armut zu befreien. In den Katastrophen versuchen sie, stabilisierend einzugreifen und dabei Bildung, Spiel, Kinderschutz und eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten, um ein Leben in Würde zu ermöglichen. Das gelingt. Natürlich braucht Veränderung Zeit und es gibt auch Rückschläge, aber es gelingt.


Website World Vision


Teilen auf:
Facebook