Geschärfte Sinne
Wie sehen die Küchen, das Essen und die Supermärkte der Zukunft aus? Die Food-Trendforscherin Hanni Rützler und Harald Gründl vom Social Design Studio EOOS NEXT haben darauf spannende, aber auch visionäre Antworten gefunden.
Von Franziska Dzugan, Fotos Thomas Wunderlich
Es herrscht Sommerhitze in Wien, als Hanni Rützler das Social Design Studio EOOS NEXT zum Doppelinterview betritt. Schon an der Eingangstür gerät sie ins Schwärmen. Ihr erster Blick ist auf den Kühlschrank namens „Greenfreeze 2“ von EOOS gefallen: Der Korpus ist aus edlem Eichenholz, das Innere besteht aus heimischem Granit, dazwischen liegt eine Dämmschicht aus Schafwolle. Die Kühleinheit ist außen angebracht – geht sie kaputt, kommt nicht das gesamte Gerät auf den Müll. „Ein solcher Kühlschrank ist Kreislaufwirtschaft pur. Er sollte in jeder Küche stehen“, sagt Hanni Rützler. Seit 25 Jahren beobachtet die Ernährungswissenschaftlerin und Gesundheitspsychologin die Esskultur Europas. In ihrem eben erschienenen „Food Report“ 2023 denken sie und EOOS NEXT Designer Harald Gründl über die Zukunft des Supermarkts nach. Denn der Handel ist heute der wichtigste Player in der Lebensmittelkette. Er entscheidet, was in den Regalen landet – und was nicht. Was Gründl am meisten stört: „Die Umweltkosten für Lebensmittel werden ausgelagert. CO2-Fußabdruck und Tierleid bleiben unsichtbar.“
Man kann Veränderungen in der Gesellschaft immer auch ein Stück weit im Supermarkt erkennen. Was sieht man da derzeit?
Rützler: Dass es eine riesige Diskrepanz gibt zwischen den Wünschen der Konsumentinnen und Konsumenten und der Realität. Laut allen Umfragen wünschen sich die Menschen mehr Regionalität, Saisonalität, Tierwohl, Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit und Bioprodukte. Im Alltag aber regieren Preis und Zweckmäßigkeit bei der Auswahl der Lebensmittel.
Wie lässt sich dieses Problem lösen?
Rützler: Indem der Handel seine Kunden dabei unterstützt, die bessere Wahl zu treffen. Das beginnt bei der Entscheidung, welche Produkte von welchen Produzenten ins Sortiment aufgenommen, wie sie präsentiert und beworben werden. Und erfordert auch ein Umdenken beim Category Management, das aktuell vor allem darauf abzielt, dass mehr und impulsiver gekauft wird. Nachhaltigkeit spielt da eine untergeordnete Rolle.
Gründl: Eine weitere Möglichkeit ist, die Menschen mit der Kostenwahrheit zu konfrontieren. Im Supermarkt der Zukunft sollen wir die Entscheidungen informierter treffen. Diese dürfen nicht im Kleingedruckten stehen. Für die Fotostrecke „Superpacked“ im „Food Report“ haben wir uns ein paar Produkte ausgesucht, darunter die Ananas: Sie wird Tausende Kilometer transportiert und ist trotzdem einigermaßen billig zu kaufen. Was wäre, wenn uns die Obstwaage die Reise der Ananas vor Augen führen würde? Dann würden wir das zehn Meter lange Etikett wie eine Schleppe durch die Regale ziehen.
Herr Gründl, Sie plädieren dafür, den Supermarkt anders einzurichten. Was schwebt Ihnen da vor?
Gründl: Man muss die Ware anders gewichten. Die Regale sollten zum Beispiel entlang einer organisch gewundenen Hauptstraße angeordnet sein, in der ausschließlich regionale und saisonale Produkte zu finden sind. Davon sollten Nebenstraßen abzweigen, in denen es weniger nachhaltige Produkte wie Südfrüchte und Dosenfleisch gibt.
Fleisch ist immer noch Massenware, die es im Handel zu Schleuderpreisen gibt. Wie kann man die enormen versteckten Kosten, nämlich den CO2-Ausstoß und das Tierleid, sichtbar machen?
Gründl: Wir haben einem kleinen Stück Fleisch eine große, sperrige Plastikverpackung verpasst. Sie zeigt den riesigen CO2-Fußabdruck der Fleischindustrie einerseits, andererseits führt sie uns das Übermaß vor Augen. Entsprechend verpackt passt höchstens ein Stück Fleisch in den Einkaufswagen, in dem sonst meistens viel zu viele tierische Produkte landen.
Frau Rützler, Sie haben vor fast zehn Jahren das erste Laborfleisch verkostet. Was hat sich seither getan?
Rützler: Damals gab es weltweit vier Forschungsteams, die sich mit In-Vitro-Fleisch beschäftigt haben, heute gibt es knapp 100. In China ist es auf dem Fünfjahresplan der Regierung gelandet. Israel und die USA arbeiten gerade an der Zulassung als Nahrungsmittel, in Europa wird das noch einige Jahre dauern.
Bei großen Fastfood-Ketten findet man mittlerweile veganes, pflanzenbasiertes Fleisch. Wird es das Laborfleisch am Ende überholen?
Rützler: In Europa hat veganes „Fleisch“ bereits die Nase vorn. Neue Produktionsweisen, zum Beispiel Fermentationstechniken, werden das weiter beschleunigen. Alle großen Player versuchen derzeit, Milch, Fleisch und neuerdings sogar Fisch aus pflanzlichen Ausgangsprodukten zu imitieren.
Gründl: Ich verstehe nicht, warum wir so viele Ersatzprodukte brauchen, die Tierisches nachahmen. Wir sollten kreativer mit dem umgehen, was wir ohnehin haben.
Vor einigen Jahren hieß es, wir würden bald alle Insekten essen. Warum ist das nicht passiert?
Rützler: Insekten wurden bei uns in den Medien als Ekelthema ausgeschlachtet. Das hatte auch mit der Zulassung zu tun: Sie wurden nur als ganzes, unverarbeitetes Produkt zugelassen. Insektenmehle wären natürlich leichter zu integrieren gewesen.
Werden es Insekten je auf unseren Speiseplan schaffen?
Rützler: Auf jeden Fall, wir sollten deren Potenzial als Eiweiß-, Fett- und Vitaminquelle unbedingt nutzen. Das gelingt gerade über den Zwischenschritt als Tierfutter. In Wien baut Katharina Unger zu diesem Zweck gerade eine große Insektenfarm auf.
Wie sieht es mit Algen aus?
Rützler: Es gibt mittlerweile riesige Farmen mit Makroalgen, die auch für die Biodiversität sehr wertvoll sind. Sie sind als Salate und Beilagen vielfältig einsetzbar. Mikroalgen werden vor allem für die Ölgewinnung genutzt. In Asien gibt es eine lange Tradition, die in Europa erst langsam losgeht. Wir brauchen jetzt kreative Impulse aus der Haubenküche und von Start-ups, um Algen für den europäischen Gaumen schmackhaft zu machen. Denn eines ist klar: Wir werden diese Ressource nutzen müssen, weil Klimawandel und Verbauung den Böden zunehmend zusetzen.
Muss sich auch die Kücheneinrichtung in Richtung Kreislaufwirtschaft bewegen?
Gründl: Auf jeden Fall. Wir haben 2008 eine Küche für bulthaup entwickelt, die konzipiert ist wie eine Werkstatt mit Werkbank. Sie besteht aus langlebigen Materialien wie Metall und Vollholz und sie lässt sich durch Module erweitern. In der Flüchtlingswelle 2015 dienten die dafür entwickelten Prinzipien zur Ausstattung eines Flüchtlingsquartiers für 600 Menschen in Wien Erdberg. Die Bewohnerinnen und Bewohner zimmerten ihre Einrichtung aus gespendetem Holz selbst.
Rützler: Die multiplen Krisen schärfen die Sinne für Nachhaltigkeit. Während der Corona-Lockdowns hätten wir alle gern einen größeren Kühlschrank gehabt, jetzt in Zeiten des Kriegs in der Ukraine und der Energieknappheit ist es umgekehrt. Aktuell sind Küchengeräte fast immer genormt. Der Kühlschrank von EOOS besteht hingegen aus Modulen, man kann ihn den Bedürfnissen anpassen.
Kann man in der Küche unabhängig werden von russischem Gas?
Gründl: Wir haben bei der Bill und Melinda Gates Foundation gerade ein Projekt eingereicht, bei dem wir den Nahrungskreislauf von drei Familien schließen wollen. Essensreste und Fäkalien sollen dabei in Biogas verwandelt und zum Kochen verwendet werden, der Stickstoff aus dem Urin soll als Dünger dienen. In diesen Haushalten entstehen weder Abfall noch Abwasser. Das ist schon paradox: Wir sind so reich und technologisch hoch entwickelt, trotzdem verschwenden wir permanent Ressourcen. Energiesparende Innovationen passieren fast immer in armen Ländern. Der Ukraine-Krieg macht unmittelbar deutlich, dass wir diese auch hier dringend brauchen.
Rützler: Das Problem ist: Die Küchenbranche ist ziemlich konservativ. Durch Corona stiegen die Aufträge enorm an, deshalb geht es den Herstellern derzeit fast zu gut. Sie arbeiten an Optimierungen ihrer Produkte, nicht an deren Veränderung.
Hat die Pandemie unsere Essgewohnheiten nachhaltig verändert?
Rützler: Wie nachhaltig ist noch schwer zu beurteilen. Aber im Zuge der Pandemie begannen viele Menschen erstmals in ihrem Leben zu kochen. Es zeigte sich, dass Essen Halt geben kann. In den Lockdowns waren die Mahlzeiten die Strukturgeber des Alltags. Die Pandemie hat auch unser Einkaufsverhalten verändert. Nach den ersten Wochen im Schock, in denen Klopapier und Dosen gehamstert wurden, folgte eine Welle in Richtung regionaler Produkte. Man wollte die Bauern und die Gastronomie in der Umgebung unterstützen. Das ist geblieben, die Bauernmärkte boomen nach wie vor. Der Ukraine-Krieg hat diesen Trend noch verstärkt. Er hat uns vor Augen geführt, wie sehr wir von einzelnen Produzenten und Produkten wie Zucker oder Weizen abhängen. Die Lehre daraus ist, dass wir mehr Vielfalt brauchen auf unseren Tellern.
Wie wirkt sich die dritte große Krise unserer Zeit, die Erderhitzung, aufs Essen aus?
Rützler: Sie hat uns einen Trend beschert, den ich „Local Exotics“ nenne. Plötzlich wird in Österreich Reis angebaut, Artischocken, Wasabi, Kurkuma, Quinoa und Ingwer. Noch sind das Nischenprodukte, aber der Markt ist hungrig nach regionaler Vielfalt.
Gründl: Der Klimawandel erinnert uns daran, dass wir einen Paradigmenwechsel brauchen, sowohl in der Küche als auch im Design. Kreislaufwirtschaft heißt nicht, verzichten zu müssen, sondern sie lehrt uns, nichts zu verschwenden.