Geschichten aus dem jüngsten Land der Erde

Das Durchschnittsalter der Bevölkerung der Republik Niger liegt laut Schätzungen bei 14,5 Jahren, was das Land zu einem der jüngsten der Welt macht. Die Gründe dafür sind starkes Bevölkerungswachstum und eine niedrige Lebenserwartung, 2022 lag sie bei rund 62 Jahren. Etwa 25 Millionen Menschen leben in dem westafrikanischen Binnenstaat. Das Durchschnittseinkommen liegt bei weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag. Die Informationen, die über Niger über die Medien zu uns durchdringen, sind meistens erschreckend. Dürren, Armut, Terrorismus. Aber wie leben junge Menschen in einem Land der Extreme?

Text: Sarah Kleiner, Foto: Le Rêve Africain

Der Poet
Nahe der westlichen Grenze zu Burkina Faso schlängelt sich von Norden kommend der Fluss Niger Richtung Süden. Es ist der einzige Fluss im Land. Im Nordosten erstreckt sich die Sahara, im Süden die Sahelzone. Rund um das Aïr-Gebirge finden sich Oasen, in denen auch Bewässerung und landwirtschaftliche Kultivierung möglich sind. Ansonsten ist es hier trocken, heiß – Wüste. Die am Fluss gelegene Hauptstadt Niamey ist Heimat für eine Million Menschen, auch Jhonel wurde dort geboren.

Bienvenue Mr Djambeydou
Dans notre palais!
Comme il est écrit devant notre porte:
Notre mission est d‘enrichir les riches
et d‘appauvrir les pauvres
Parce que de toute façon ils ne sont que des pauvres.

Willkommen, Mr. Djambeydou
In unserem Palast!
Wie vor unserer Tür geschrieben steht:
Unsere Mission ist es, die Reichen zu bereichern
und die Armen zu verarmen,
denn schließlich sind es ja nur Arme.

Die Passage stammt aus seinem Gedicht „Ils ne sont que des pauvres“, in dem er in die Rolle eines Machthabers schlüpft und einem Anwärter für das Amt erklärt, wie man eine Bevölkerung unter Kontrolle behält. Der Titel war einer von seinen ersten großen Erfolgen.

Geboren 1984 als Hamani Kassoum ist Jhonel heute der „Slameur du Niger“. Er hat sozusagen die Poetry-Slam-Szene von Niamey gegründet. Er ist zwar in der Hauptstadt geboren, aber in Elfenbeinküste aufgewachsen. Die Familie war angesehen, der Vater Imam, und als Jhonel als Jugendlicher anfing, sich für Rap zu interessieren, nicht begeistert. „Zu dieser Zeit gab es viel Rap-Musik in Elfenbeinküste. Ich war viel mit meinen Freunden unterwegs, und habe angefangen, selbst Songtexte zu schreiben“, sagt Jhonel am Telefon. Er verließ das Land und seine Familie und ging nach Niamey, um frei Musik machen zu können. Bei einem Mode-Festival wurde er als Ersatz für eine nicht aufgetauchte Band kurzerhand auf die Bühne gebeten und trug erstmals einen seiner Texte vor Publikum vor. „Danach haben mir die Leute gesagt, dass das was ich mache, Slam ist. Ich kannte den Begriff davor nicht.“ Fünfzehn Jahre ist das jetzt her.

Die junge Form der Sprachkunst verbreitete sich in den vergangenen Jahren vor allem in der nigrischen Hauptstadt, heute gibt es Poetry-Slam-Workshops und -Events. Jhonel ist inzwischen ein international aktiver Künstler. „Damals sprachen viele Menschen kein Französisch, also habe ich beschlossen, auch auf Zarma zu texten, einer lokalen Sprache“, sagt Jhonel. In weiterer Folge haben sich noch andere Sprachen und regionale Dialekte wie Hausa und Bambara zu seinem Repertoire hinzugefügt. „Das hat der Slam-Bewegung eine neue Dimension gegeben, eine lokale.“

Jhonel bewegt sich durchs Land, er spricht mit den Menschen und verarbeitet seine Erlebnisse zu Texten. Er sieht sich in der Rolle eines modernen Griots. Die Tradition der Griots ist ein jahrhundertealtes Brauchtum, tief verankert in den westafrikanischen Ländern. Man kann sie als verbale Geschichtsschreiber betrachten. Sie werden gezielt ausgebildet, wandern durch Dörfer und Städte und tragen in den unterschiedlichsten sprachlichen und musikalischen Formen Geschichten vor. Ihre gesellschaftliche Aufgabe ist es, Neuigkeiten zu verbreiten, wichtige gesellschaftliche Ereignisse zu erzählen, Familienstammbäume zu kennen und weiterzukommunizieren. Griots mussten bei Zeremonien und Ereignissen wie Hochzeiten oder Geburten anwesend sein und das Wissen in ihren Erzählschatz, in ihre Sammlung von Mythen, Anekdoten, Gedichten, teilweise ironischen und musikalischen Texten aufnehmen. Sie sind heute vor allem noch in Mali, Gambia, Guinea und Senegal anzutreffen.

Niamey, die Hauptstadt von Niger.

„Ein Griot kann seine Lieder hundert Mal am Tag spielen und es ist doch jedes Mal eine neue, einzigartige Interpretation“, sagt Jhonel. „Früher kamen sie aus adeligen Familien, sie sprachen von den Geschichten und vom Ruhm der Reichen und Mächtigen. Aber nachdem ich mich als modernen Griot definiere, nehme ich eine konträre Rolle ein. Ich beschäftige mich insbesondere mit den Geschichten der Armen und marginalisierten Gruppen.“ Jhonels Texte drehen sich um soziale Ungerechtigkeit, Korruption und die Rolle der Frauen in der Gesellschaft, das Leben der jungen Menschen. Neben der Politik ist es auch die Funktion der Religion, die er hinterfragt.

Pour maintenir un pauvre dans sa pauvreté, montre lui les chemins des croyances
ainsi il t‘oubliera,
Tout malheur et même son manque de volonté,
il les verra comme émanant de la volonté supérieure
En attendant la miséricorde, il connaîtra la misère
sans jamais se pendre à la corde.

Um einen Armen in seiner Armut zu halten,
zeige ihm die Pfade des Glaubens,
dann wird er dich vergessen,
Jedes Unglück und sogar sein Mangel an Willenskraft,
wird er als göttlichen Willen betrachten.
In Erwartung von Gnade wird er Elend erfahren,
ohne jemals am Strick zu hängen.

Die überwiegende Mehrheit der nigrischen Bevölkerung ist islamischen Glaubens, die Religionszugehörigkeit ist unabdinglich für den sozialen Status. Dabei wird die Religion in Jhonels Augen auch benutzt, um der Bevölkerung die Selbstwirksamkeit zu nehmen. „Unsere Gesellschaft ist sehr eng mit der Religion verbunden und die Leute vergessen dadurch, dass man sich verteidigen muss und wer für unsere Situation verantwortlich ist. Man erklärt und akzeptiert alles mit dem Willen Gottes“, sagt er. „50 Kilometer von Niamey findet man kleine Dörfer mit 100, 200 Einwohnern. Da gibt es zwei oder drei Moscheen, die mehr wert sind, als alle Häuser in dem Dorf zusammen. Dort gibt es kein Wasser, keine Arbeit. Die Menschen gehen gemeinsam beten, aber sie handeln nicht. Und das ist das wesentliche Problem.“

Der Forscher

„Wir sehen zur Zeit, wie eine Schnittfläche zwischen Kunst und Religion entsteht“, sagt Abdoulaye Sounaye. „In Niamey gibt es einige junge Menschen, die sozusagen islamischen Slam machen. Es ist als Genre etabliert. Religion inspiriert einige ästhetische Ausdrucksformen der Sprache, des Diskurses und der Poesie.“ Abdoulaye Sounaye unterrichtet und forscht am Leibniz-Zentrum Moderner Orient (ZMO) in Berlin und setzt sich mit religiösen Bewegungen in Westafrika auseinander. Kürzlich schloss er eine dreijährige Studie mit dem Titel „Religion, Moral und Boko in Westafrika: Studentische Laufbahnen für ein gutes Leben“ – kurz „Remoboko“ – ab. Er hat sich mit der Rolle von Religion auf säkularen Bildungswegen beschäftigt und auch vier Universitäten in Westafrika untersucht. Er hat dabei Religion auch als Triebfeder erlebt.

Abdoulaye Sounaye forscht am Leibniz-Zentrum Moderner Orient zu religiösen Bewegungen in Westafrika. Foto privat

„Was ich erkannt habe, ist, dass Religion eine wichtige Ressource ist, nicht nur in Niger, sondern auch in Senegal und Nigeria“, sagt er. Junge Menschen würden sich wieder stärker in religiösen Organisationen zusammenschließen, auch um wirtschaftlich überleben zu können. „Was sie mit der Religion machen, die Infrastruktur, die sie aufbauen, mit Clubs, Zirkeln, Gruppen, ist sozial sehr wichtig geworden. Weil sie jungen Menschen Strukturen, Disziplin und Gemeinschaft bieten“, sagt Sounaye.

In der nigrischen Hauptstadt zur Welt gekommen, hat er sich als Kind mit seinem Onkel durch den gesamten Süden des Landes bewegt. Sounaye wollte als junger Mann in Niamey an der Université Abdou Moumouni Soziologie und Englisch studieren, aber die einzigen Studiengänge, wo es noch freie Plätze gab, waren Philosophie und Linguistik. „Also habe ich Philosophie genommen, meine ganze Energie reingesteckt und das beste daraus gemacht”, sagt er. Er studierte in Senegal, Chicago und Arizona, für seine Habilitation kam er nach Österreich, ans Institut für Afrikawissenschaften der Universität Wien. Seit zehn Jahren ist er Research Fellow am ZMO. „Manchmal höre ich Studierende oder Kollegen hier in Deutschland sagen, sie hätten sich nach der Schule oder nach ein paar Jahren Studium eine Auszeit genommen, und überlegt, was sie machen wollen, die Welt bereist“, sagt Abdoulaye Sounaye. „In Niger gibt es diese Möglichkeit nicht. Du nimmst, was du kriegen kannst, und wenn du es nicht nimmst, ist es weg.”

Universität Abdou Moumouni Niamey, Niger.

Vor allem außerhalb der großen Städte gebe es in Niger kaum einen Bildungszugang für junge Menschen, etwa zwei Drittel der Bevölkerung können nicht lesen und schreiben. Der akademische Apparat des Landes ist stark Männer dominiert. Mit durchschnittlich sieben Kindern pro Frau zählt Niger zu den Ländern mit der höchsten Fruchtbarkeit, aber auch mit der höchsten Kindersterblichkeit. „Die Vorstellung einer Frau, die keine Kinder hat, ist im gesellschaftlichen Kontext eine herausfordernde“, sagt Sounaye. Die meisten Frauen heiraten zwangsweise und bereits im Teenageralter. „In vielen urbanen Gegenden findet Veränderung statt. Familienplanung war ein großes Thema und wurde bis in die 1990er Jahre stark abgelehnt, erhält aber immer mehr Aufmerksamkeit. Nicht nur unter den gebildeten Familien, sondern auch in ruralen Gebieten“, so Sounaye. Bildung ist ein zentraler Schlüssel für die Zukunft der Jungen, doch auch Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte.

Bis heute gibt es in der Bevölkerung viel Skepsis gegenüber der akademischen und vor allem säkularen Bildung. „Es gibt einige Gemeinschaften, die sagen, die Schule stiehlt ihnen ihre Kinder“, sagt Sounaye. „Sie würden in die Schule gehen, andere Normen beigebracht bekommen und sich von ihrer Gemeinschaft und ihren Familien entfremden“. Viele Uni-Absolventen würden später Berufe im Staatsapparat annehmen und damit zum Teil eines repressiven und korrupten Systems werden.

Ebenso wie das politische ist auch das Bildungssystem Nigers stark von der kolonialen Vergangenheit geprägt. Auf der so genannten „Afrika-Konferenz“ 1885 teilten die europäischen Kolonialmächte das Gebiet zwischen Tschadsee, Niger und Aïr-Gebirge Frankreich zu. Nachdem französische Truppen das benachbarte Mali erobert hatten, besetzten sie gegen den erbitterten Widerstand ansässiger Volksgruppen das Staatsterritorium der heutigen Republik Niger. 1904 wurde die Kolonie „Obersenegal und Niger“ gegründet. 1960 die unabhängige Republik ausgerufen. Das Schulsystem wurde schon unter kolonialer Herrschaft eingeführt, hauptsächlich für die Kinder der Europäer. Afrikanische Kinder wurden oft gewaltsam in die Schule verfrachtet.

Die Absolventen der frühen kolonialen Schulen wurden als Verwalter eingesetzt, um koloniale Interessen im Land umzusetzen und das Land zu kontrollieren. „Und diese Staatsadministratoren wurden moralisch korrumpiert, sie wurden korrupt, das konnte man zum Beispiel in Nigeria beobachten. Sie haben den Staat privatisiert, die Ressourcen und Rohstoffe veräußert, sie nahmen den Menschen die Möglichkeiten, denen sie eigentlich dienen sollten“, sagt Abdoulaye Sounaye. „Und im kolonialen Staatsapparat arbeiteten in erster Linie die jungen Yan Bokos, die im westlichen Rahmenwerk ausgebildet wurden.“

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Boko ist ein Begriff aus der Sprache der Hausa, einem Volk, das vor allem in Nigeria und Niger, aber auch in anderen westafrikanischen Staaten lebt. „Der Begriff Boko meint im Wesentlichen das westliche Schulsystem und die säkulare Bildung“, sagt Sounaye. „Das Hausa-Konzept kam mit dem europäischen Kolonialismus auf, insbesondere mit dem europäischen Schulsystem der Franzosen und Briten. Boko wird in vielen Gegenden kritisiert, weil darin Religion und Glaube keine Rolle spielen. In Ghana, Kamerun, Nigeria, Tschad und Niger gibt es diese Kritik an der Boko, die im Wesentlichen eine Reaktion auf koloniale Institutionen und Bildungseinrichtungen darstellte.“

In den 1990er Jahren kanalisierte sich der Widerstand gegen das koloniale Vermächtnis, den Staat und die säkulare Bildung in der Gründung der Boko Haram. Der Begriff „haram“ stammt aus dem Islam und beschreibt alles, was dem Koran widerspricht, was tabu oder verboten ist. Die Übersetzungen des Namens der späteren Terrormiliz sind unterschiedlich. „Später wurde Boko Haram das, was sie heute sind, aber ihr Ursprung geht auf den Kolonialismus zurück“, sagt Abdoulaye Sounaye. Seit Jahrzehnten gehen die Boko Haram und seit einigen Jahren auch die Splittergruppe „Islamischer Staat Provinz Westafrika“ (ISWAP) gewaltsam gegen die staatlichen Autoritäten, aber auch gegen die Bevölkerung vor. Die bewaffneten Konflikte haben vor allem in der Gegend des Tschadsees eine der schlimmsten humanitären Krisen der Welt ausgelöst. Schulen und Moscheen wurden bombardiert, Studierende entführt, zahlreiche Menschen starben bei den Auseinandersetzungen. Frieden ist noch lange nicht in Sicht.

„Träumen ist schwierig in Niger, weil man nicht weißt, was morgen passiert“, sagt Jhonel. „Aber jeder träumt, das ist menschlich.“ Während dieser Text entsteht, wird der nigrische Präsident Mohamed Bazoum bei einem Putschversuch durch eine Militäreinheit entmachtet und festgesetzt. Wieder ist nicht gewiss, wie es weitergeht. Jhonels Ansicht nach müssten junge Menschen sich für Politik interessieren und ihre Spuren hinterlassen. Eine Aussicht auf Frieden sieht er in der Kultur und der zivilen Vernetzung, „die Zusammenarbeit zwischen Ländern über Staaten hat ihre Grenzen aufgezeigt“.

„In der Ferne ist am verschwommenen Horizont jugendliche Hoffnung zu sehen“, meint Jhonel. „Einige glauben, dass es außerhalb unserer Grenzen Hoffnung gibt. Andere glauben aber, das System schwächt ihre Hoffnungen. Einige sind davon überzeugt, dass Hoffnung politisch ist, weil sie sehen, wie andere junge Menschen in der Politik reich werden. Glücklicherweise verfügen wir über Ausdrucksmittel, die es uns ermöglichen, unsere Hoffnungen und Sorgen auszudrücken. Slam und Rap sind Modi, die es jungen Menschen ermöglichen, sich frei auszudrücken und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.“



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