Get Lost

Gewaltloser Widerstand: Wie ein Russe aus dem Exil gegen den Krieg seines Landes kämpft. Von Anna Greissing

Grigory Sverdlin zählt zu diesen mutigen Menschen, wie es heute wohl viele innerhalb der Antikriegsbewegung in Russland und der Ukraine gibt. Junge Leute, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen, um für Frieden und Freiheit einzustehen. Doch die meisten Aktivistinnen und Aktivisten bleiben anonym und verwenden Pseudonyme im Netz. Denn in Russland wird heute jeder, der öffentlich gegen den Krieg protestiert, verhaftet.

Grigory Sverdlin nennt sein Land eine Diktatur. Auch er musste es verlassen, um weiter Widerstand gegen den Krieg leisten zu können. Das tut er – zwar 6.500 Kilometer von seiner Heimatstadt St. Petersburg entfernt –, aber mit seinem echten Namen und mit erkennbarem Konterfei. Er hat kurz nach seiner Flucht ein Projekt ins Leben gerufen, das russischen Soldaten hilft, die Waffen niederzulegen oder gar nicht erst dem Einzugsbefehl zu folgen: „Get Lost“ heißt die seit September 2022 bestehende Organisation, bei der neben Sverdlin und seiner Partnerin Darya Berg mehrere hundert Menschen anonym und weitgehend kostenlos arbeiten. Sie helfen jungen russischen Soldaten dabei, sich der Einberufung zu entziehen und das Land zu verlassen, aber auch den in der Ukraine kämpfenden Soldaten zu desertieren, sich zu verstecken und über die Grenze zu kommen. Zusätzlich bekommen traumatisierte Soldaten psychologische und rechtliche Unterstützung.

Grigory, was hast du vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine in Russland gemacht?

Grigory Sverdlin: Von 2011 bis zu dem Tag im März 2022, als ich Russland verlassen musste, habe ich in St. Petersburg die NGO „Nochlezhka“ geleitet, eine der größten Wohltätigkeits-Organisationen Russlands, die wohnungslosen Menschen vielfältige Hilfe anbietet. Durch diese Funktion kannte man mich in St. Petersburg als sozial engagierten Linken, und natürlich nahm ich privat auch regelmäßig an Kundgebungen gegen die immer aggressivere Politik Putins teil. So auch im Februar 2022, als Putin seinen Krieg gegen die Ukraine startete und viele Menschen lautstark dagegen protestierten. Das war anfangs noch möglich, bis die Polizei anfing, brutal gegen Demonstranten vorzugehen. Leute, die friedlich protestierten, landeten im Gefängnis, viele von ihnen sitzen heute noch dort.

Warum hast du Russland dann fluchtartig verlassen?

Die Entscheidung, das Land zu verlassen, musste ich dann Anfang März treffen, als ich von befreundeten Journalisten ernsthafte Warnungen bekam. Offenbar stand mein Name auf einer Liste von Leuten, die festgenommen werden sollten. Ich musste erkennen, dass ich keine andere Wahl hatte, als zu gehen, denn anderenfalls hätte ich meine NGO in Gefahr gebracht. In Russland ist es wie in anderen diktatorischen Regimen: Wirst du als Kopf einer Einrichtung festgenommen, also zum Beispiel der Direktor eines Theaters, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Einrichtung oder dieses Theater danach nicht mehr existiert. Ich wollte keinesfalls durch meine private Haltung als Bürger den Fortbestand von „Nochlezhka“ gefährden. Als dann auch noch Bekannte und Freunde von mir verhaftet wurden, stieg ich in mein Auto, verabschiedete mich von Familie und Freunden und fuhr los – zuerst nach Westen über die Grenze nach Estland und dann insgesamt 6.500 Kilometer bis nach Tiflis, Georgien. Ich war einen Monat unterwegs.

Was hast du anfänglich in Tiflis gemacht?

In Tiflis arbeitete ich ein halbes Jahr als Berater für verschiedene Projekte, kleine Organisationen, die erst kürzlich gegründet wurden. Viele dieser Organisationen wurden von Russinnen und Russen gestartet, die mit dem Ausbruch des Kriegs ins Ausland gegangen waren und dort dann versuchten, ukrainischen Flüchtlingen zu helfen, die ebenfalls dorthin geflüchtet waren. Ich habe ein paar dieser Initiativen unterstützt, vor allem im Bereich PR und Finanzierung, denn das war ja auch meine Expertise bei „Nochlezhka“. Die größte Hilfsorganisation für Geflüchtete in Georgien ist beispielsweise „Helping to leave“ und wurde auch von russischen Expats gegründet.

Wie ist es dann zur Entstehung von „Get Lost“ gekommen?

Als Putin die Mobilisierung am 21. September 2022 ankündigte, wollte ich etwas tun. Ich überlegte, was ich tun könnte, hier in meinem „Exil“, um weiterhin zivilen Ungehorsam und Widerstand gegen den Krieg zu leisten und um die Zahl derer zu reduzieren, die kämpfen müssen. Ich wollte Russen helfen, die den Einzugsbefehl bekamen und dazu verpflichtet wurden, auf andere Menschen zu schießen. So entstand die Idee für „Get Lost“. Ich schrieb über meine Projektidee auf Facebook und war völlig überwältigt von der enormen Reaktion der Leute. So etwas hatte ich während meiner ganzen Zeit bei NGOs nicht erlebt. Ich bekam hunderte von E-mails von Russinnen und Russen aus der ganzen Welt, die mir kostenlos ihre Hilfe anboten. Da waren IT-Spezialisten, die eine Webseite gestalten wollten, da waren Rechtsanwälte, die bei den juristischen Belangen helfen wollten, oder auch Psychologen, die telefonisch psychologische Unterstützung anbieten wollten. Mir schrieben Leute, die bereit waren, unseren „Klienten“ bei ihrem Weg aus dem Krieg heraus Unterschlupf und Verpflegung zu geben. Und es gab mehrere hundert Freiwillige, die in irgendeiner Weise helfen wollten. Viele davon sind so wie ich ins Ausland geflüchtet, andere aber sind in Russland geblieben.

Ich war sehr beeindruckt zum Beispiel von einer Person, die mir aus Moskau schrieb und mir sagte, sie sei bereit, Flyer mit Informationen zu „Get Lost“ auf der Straße zu verteilen. Wenn man bei so etwas erwischt wird, bedeutet das im Russland von heute festgenommen und verurteilt zu werden. Ich bekam zum Beispiel auch einen Anruf von jemandem, der mir sagte, dass er an der Grenze zu Kasachstan lebe und wisse, wie man dort „unbemerkt“ über die Grenze kommen könne. Er bat mich, seine Nummer aufzubewahren, das Telefonat aber bitte sofort wieder zu löschen. Das zeigt, dass diese Leute wissen, wie gefährlich ihr Engagement ist, sie machen aber trotzdem mit. So entstand innerhalb von wenigen Tagen das gesamte Projekt. Seit dem Start im September 2022 konnten wir mehr als 11.000 Menschen helfen.

Wie kommuniziert ihr mit euren „Klienten“? Könnt ihr einfach telefonieren?

Die meisten Leute schreiben uns per Telegram und unser Freiwilligen-Team antwortet. Es arbeiten immer zehn Leute gleichzeitig. Manchmal arrangieren wir „geheime“ Onlinemeetings, um uns alle auszutauschen, das funktioniert gut. Das Wichtigste ist aber, dass wir immer zuerst über die Menschen recherchieren, die unsere Hilfe anfordern, um zu sehen, ob es „echte“ Anfragen sind und um unsere Mitarbeiter vor Ort nicht zu gefährden.

Wie gehst du mit dem Risiko um, vielleicht verfolgt und verhaftet zu werden? Hast du Angst?

Es ist klar, dass ich vielleicht länger nicht nach Russland zurückkann, das würde direkt Haft bedeuten. Und natürlich gibt es auch in Tiflis eine kleine Gefahr dafür. Aber im Vergleich zu dem Terror, dem die Menschen in der Ukraine ausgesetzt sind, jeden Tag seit Beginn dieses Kriegs, bin ich hier in einer viel besseren Situation. Und ich kann auch nicht zu viel über mich selbst nachdenken, wenn mein eigenes Land dieses schreckliche Verbrechen an unseren Nachbarn verübt. Und ich bin frei, während viele russische Aktivisten im Gefängnis sitzen.

Wenn du in Russland geblieben wärst, hättest du dann auch in den Krieg ziehen müssen?

Nicht unbedingt. Es war ja eine Teilmobilisierung. Eingezogen wurden alle, die im Herbst gerade ihren militärischen Dienst absolviert hatten und der Rest wurde per Zufall ausgewählt. Keiner weiß genau, wie die Wahl getroffen wurde. Ich würde das so formulieren, dass das Gesetz hier sehr „flexibel“ angewendet wurde und wird. Manche Männer durften auch legal das Land verlassen, andere mussten ins Heer und kämpfen. Jedenfalls war es zwischen September und November 2022 für Männer, die gerade ihren Militärdienst absolvierten, sehr schwierig, das Land zu verlassen. Momentan kann man ohne Probleme aus Russland raus, aber ich bin sicher, dass es in Kürze, vielleicht sogar schon im August oder September, zu einer nächsten Mobilisierung kommen wird. Wichtig ist, dass die erste Teilmobilisierung im vergangenen September nicht abgeschlossen ist, sondern gesetzlich weiterbesteht. Das heißt, dass Putin jederzeit neue Soldaten einziehen kann, wenn er will, und diese Soldaten dann gesetzlich dazu verpflichtet sind, im Krieg zu kämpfen.

Wie könnt ihr Soldaten helfen, die zum Beispiel irgendwo in ukrainischem Gebiet sind und nicht mehr kämpfen wollen? Was blüht Deserteuren, wenn sie erwischt werden?

Es ist natürlich ein großes Risiko für die Soldaten, wenn sie ihre Einheit verlassen. Man kann bis zu zehn Jahre Haft bekommen als Deserteur. Es gibt bereits einige solche Fälle, Gott sei Dank nicht bei denen, die wir beraten haben. Wenn uns Soldaten aus dem Kriegsgebiet anrufen, dann versuchen wir sie zu orientieren: wo können sie sich verstecken, welche Verkehrsmittel können sie nehmen, wie kommen sie unbemerkt über die Grenze, et cetera. Das Ziel ist es also, die Leute zunächst wieder nach Russland zurück zu bekommen und ihnen dann zu helfen, entweder in Russland „unterzutauchen“ oder ins Ausland zu flüchten. Dort helfen wir ihnen mit den legalen Angelegenheiten, Visa oder Asylanträgen, und helfen ihnen, in ihrem neuen Umfeld Fuß zu fassen, also zum Beispiel neue Kontakte zu schaffen.

Wie finanziert ihr euer Projekt?

Das ist natürlich immer ein bisschen das Problem. Als ich das Projekt startete, bekam ich Hilfe von ein paar befreundeten Unternehmern. Heute leben wir vor allem von Spenden über unsere Webseite. Und dann arbeiten wir ja zu 90 Prozent kostenlos dank all der Freiwilligen, die uns helfen. Geld brauchen wir vor allem für Mobilität, zum Beispiel für Zugtickets, und für die Unterbringung und Verpflegung unserer „Klienten“ während der Flucht.

Wie kann der Krieg beendet werden? Was ist deine Hoffnung?

Ich glaube leider nicht, dass es eine politische Lösung gibt, die von Putin oder Russland ausgeht. Putin ist sehr mächtig, er hat alle unabhängigen Medien abgeschafft und wir haben insofern kein funktionierendes Parlament, als dass es keine handlungsfähige Opposition gibt. Wir haben ja auch seit Jahren keine fairen Wahlen mehr in Russland. Und die Zivilbevölkerung wird von der Exekutive so stark unterdrückt, dass sich kaum jemand mehr öffentlich gegen den Krieg zu stellen traut. Man muss folgendes in Beziehung setzen: das russische Heer hat zirka 800.000 Soldaten im Kampf gegen die Ukraine, die russische Polizei verfügt über 2,5 Millionen „Sittenhüter“. Es gibt also eine Armee an Polizisten, die die Zivilbevölkerung in ihrem eigenen Land unterdrückt, und die ist fast dreimal so groß wie die Armee, die gegen die Ukraine kämpft. Seit dem Beginn des Kriegs sind über 20.000 Menschen allein deswegen eingesperrt worden, weil sie auf den Straßen protestiert haben. Das erstickt jeden zivilen Widerstand im Keim.

Wie viele Menschen befürworten, wie viele sind gegen den Krieg?

Was die russische Bevölkerung betrifft, so würde ich es so beschreiben: ein Teil der Bevölkerung ist für den Krieg, ein Teil ist klar gegen den Krieg, und der Rest – und das ist bestimmt der größte Teil – ist der Meinung, dass es egal ist, welcher Meinung sie sind, weil sie in jedem Fall nichts dagegen tun können. Und so versuchen sie zumindest, ihr Privatleben so normal weiterzuleben, wie es geht. Ich glaube deshalb, dass der Krieg erst mit einem Sieg der Ukraine enden wird, und deshalb würde ich mir wünschen, dass die Internationale Gemeinschaft der Ukraine weiter und noch mehr hilft. Ich glaube auch, dass es wichtig ist, das russische Militär zu schwächen. Und dass die Soldaten, die desertieren und sich gegen das Töten entscheiden, und deren Leben in Gefahr ist, unseren Schutz und unsere Hilfe verdienen und die Möglichkeit bekommen sollten, den Status von Flüchtlingen zu bekommen in den Ländern, in die sie fliehen.


Weiterführende Informationen und Spendenmöglichkeit:
iditelesom.org/en/


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