Getaktetes Leben

Wie die Erfindung der Uhr das Verhältnis des Menschen zur Natur neu definierte.
Von Anna Greissing

Beharrlich tickt sie, die Uhr. So wie sich Sonne und Mond am Himmel abwechseln, auf den Tag die Nacht folgt und die Erde sich um die eigene Achse dreht, scheint es eine Naturgegebenheit zu sein, dass die Zeit nie stillsteht, ein Tag 24 Stunden, 1.440 Minuten oder 86.400 Sekunden hat. Dass uns dieses Zeitregime einen künstlich geschaffenen Rhythmus auferlegt, der Sommer wie Winter gleichermaßen gilt, darüber haben wir wohl keine Zeit näher nachzudenken. Denn spätestens mit sechs Jahren lernen Kinder moderner Gesellschaften auf der ganzen Welt, die Uhr zu lesen und nach ihr zu leben. Das Zeitregime, so scheint es, bestimmt als U(h)rgesetz, wie unsere Gesellschaft funktionieren soll. Dabei ist Zeit etwas rein Fiktives.

Tatsächlich machte die Erfindung der mechanischen Uhr im Hochmittelalter und die mit ihr verbundenen Möglichkeiten der exakten Zeitmessung die moderne Zivilisation erst möglich. Mehr noch als die Dampfmaschine hat die damit einhergehende Synchronisierung der Gesellschaft den Weg zu einem vernetzten Globus geebnet: Die Mächtigen konnten dadurch Arbeitsregime koordinieren; erdumspannende Kommunikations-, Verkehrs- und Navigationssysteme konnten erfunden werden.
Doch ein Paradox zeichnet sich ab: Je präziser die Zeitmessung wurde, desto weniger Zeit scheinen wir zu haben. Heute hat uns die Zeitnot im Griff.

Der Versuch, Zeit einzuteilen und zu messen, hat den Menschen schon immer interessiert. Bereits die Sumerer, eine der ersten Hochkulturen der Menschheit, die um 4000 v. Chr. im südlichen Mesopotamien (dem heutigen Irak) ihre Blütezeit erlebten, unterteilten den Tag in 24-Stunden-Segmente. Sie orientierten sich am Sonnenauf- und -untergang bzw. an den Mondphasen. Diese Segmente waren allerdings nicht immer gleich lang: Im Sommer hatte eine Stunde 80 Minuten, im Winter 40. Sumerische Astronomen benannten bereits die Tag- und Nachtgleiche und teilten das Jahr in ca. 360 Tage: Das war der Abstand zwischen den wiederkehrenden Hochwassern im Schwemmland, und das Wissen darum war von existenzieller Bedeutung für die Landwirtschaft. Es ist erstaunlich, dass sich an dieser Zeiteinteilung 6.000 Jahre lang kaum etwas geändert hat.

Die Beobachtung der Himmelskörper durch die alten Ägypter führte zur Erfindung der Sonnenuhren, die bereits entscheidende Merkmale unserer heutigen Uhren besaßen: Sie waren meist kreisförmig konzipiert, um den Sonnenlauf zu symbolisieren, und unterteilten Tag und Nacht in jeweils zwölf Einheiten. Mit der Entwicklung der Wasser- und Sanduhren (ab etwa 1500 v. Chr.) konnte man auch nachts die Zeit messen. Ab dem frühen Mittelalter waren es vor allem die Klöster, die die Zeitmessung auch in kleineren Einheiten, vor allem mit Kerzen- oder Öllampenuhren, vorangetrieben haben. Denn das strenge Leben im Kloster – ora et labora – war genau eingeteilt. Dem Großteil der Menschen im Früh- und Hochmittelalter war die Uhr aber weiterhin unbekannt. Sie orientierten sich am naturgegebenen Übergang von Tag und Nacht sowie am Wechsel der Jahres- und Erntezeiten. In einer Epoche, in der fast alle Menschen auf dem Land und von der Agrarwirtschaft lebten, war es auch nicht notwendig, kürzere Zeiteinheiten zu messen. So ist es auch heute noch in einigen ländlichen Regionen Afrikas und Asiens, aber auch bei vielen indigenen Völkern. Sie leben nicht nach der mechanischen Uhr, sondern nach den natürlichen Kreisläufen der Natur und den daran angepassten Abläufen gemeinschaftlicher Arbeit, den Festen und Ritualen.

Mehr als an zeitlichen Begriffen orientiert sich das (kollektive) Gedächtnis vieler indigener Gruppen an den räumlichen Gegebenheiten ihrer Heimat und an der starken emotionalen Bindung mit den Ländern der Vorfahren, wie die kanadische Ethnologin Sylvie Poirier über die Aborigines in Westaustralien schreibt: „Sie haben keine Kenntnis der Zeit, sondern denken in Begriffen der Bewegung innerhalb eines sozio-kosmischen Raums. Von Generation zu Generation geben sie in Form von Mythen und Träumen das Wissen über die Orte weiter, die das Leben ihrer Vorfahren geprägt haben: z.B. die eine Quelle, in deren Nähe sie eine Zeit lang lebten, ein Felsen, in deren Nähe ein Mitglied der Gruppe verwundet wurde.“ Ähnliches gilt für die indigenen Gruppen des Amazonasgebiets: Ihre Geschichte ist die der geografischen Bewegungen innerhalb einer Region, die sich oft auf die der Vorfahren stützen. Was Ethno-Chronologinnen und -Chronologen „relative Zeiterfassung“ nennen, gilt auch heute noch bei vielen naturverbundenen Völkern, selbst wenn dort die Uhr bereits bekannt ist. Daten werden nicht durch Zahlen erfasst, sondern beziehen sich auf einschneidende Ereignisse („als die Vögel zurückkamen“, „im Jahr der Überschwemmungen“, „als die Straße gebaut wurde“). So gilt bei den Kogi-Indianern in Kolumbien nicht der als volljährig, der 18 Jahre alt ist, sondern der, der den Verlust der Eltern erlebt hat und selbst zu einem Elternteil geworden ist. Ähnliches wird von afrikanischen Stämmen berichtet, wo das Alter eines Menschen nach dem Erfüllen gewisser Verantwortungen gemessen wird. Die Frage lautet nicht, wie alt jemand wird, sondern was er in seiner bisherigen Lebenszeit für die zukünftigen Generationen geschaffen hat.

Doch noch einmal zurück zum Siegeszug der Uhr. Dieser beschleunigt sich mit der Erfindung der mechanischen Uhr ab 1300. Von da an vollzog sich auch der Übergang von den ungleich langen (temporalen) Stunden zu den heute bekannten gleich langen (äquinoktialen) Stunden. Während im Spätmittelalter das gemeine Volk lediglich über die Kirchtürme die genaue Zeit im Blick hatte, kam es mit der Erfindung der Taschenuhr im 16. Jahrhundert zum großen Umbruch, den der französische Historiker Marc Bloch als „eine der tiefgreifendsten Revolutionen im intellektuellen und praktischen Leben unserer Gesellschaften“ nennt. Die Zeit war nun nicht mehr göttlich, sondern objektiv messbar, und der Zugang zur Zeitmessung ein Machtinstrument, über das vor allem Geistliche und Herrscher verfügten. Zeit wird zu einer wirtschaftlichen Ressource, Leistung wird definiert als Arbeit pro Zeit, die Stechuhr in der Industrialisierung ein Instrument der Kontrolle. Gegenwärtige Beispiele dafür sind etwa die vereinheitlichte Zeit in China: Dort gibt es nur eine Zeitzone, obwohl drei bis vier für das Riesenland realistisch wären. Doch alle sollen sich nach Pekinger Zeit richten. Machthaber Putin hat nach seiner Annexion der Krim die Uhrzeit dort um 2 Stunden der Moskauer Zeit angepasst. Gleiches passierte in den besetzten Gebieten in der Ukraine, wo dadurch teilweise andere Uhrzeiten als im Rest der Ukraine gelten, was die Kommunikation untereinander wohl willentlich erschwert.

Zeit wird zu einer wirtschaftlichen Ressource, Leistung wird definiert als Arbeit pro Zeit, die Stechuhr in der Industrialisierung ein Instrument der Kontrolle.

Spätestens seit der Entwicklung der Armbanduhr am Ende des 19. Jahrhunderts hat der „moderne Mensch“ in den Städten den Bezug zum Rhythmus der Natur gänzlich verloren. Die Arbeit findet großteils unabhängig von Jahres- und Tageszeiten statt. Mit der Entwicklung von Quarzuhren ab 1930 und vor allem den ersten Atomuhren ab 1950 kann der Mensch nunmehr die Zeit mit unvorstellbarer Genauigkeit messen: Atomuhren weichen in 100 Millionen Jahren weniger als 1 Sekunde von der tatsächlichen Zeit ab. Diese Präzision ist entscheidend, denn auf Atomuhren basiert etwa die koordinierte Weltzeit (UTC), aber auch Satelliten-Navigationssysteme und die Synchronisation der Daten für Telekommunikationsnetze.

Doch nicht nur unsere Zeitmessung ist hoch technologisiert – auch unser Leben hat sich, wie viele Forschende konstatieren, schwindelerregend beschleunigt. Zeitdruck ist das Phänomen der modernen Gesellschaft und ein allgemein spürbarer Zustand. Zeit ist kostbar, man muss sie nutzen, denn in der Arbeit ist Zeit schließlich Geld und in der Freizeit muss man auf seine Kosten kommen. „Die rasante Beschleunigung des sozialen Lebens ist eines der hervorstechenden Merkmale der Gegenwart“, schreibt der renommierte Soziologe Hartmut Rosa. Doch in diesem Rhythmus der Zeitoptimierung kommen viele Menschen nicht mehr zur Ruhe. Das Zeitverständnis hat sich für viele von etwas Qualitativem zu einer quantitativen Effizienzverdichtung gewandelt. Dass die Stadt „nie schläft“, führt außerdem zum verbreiteten Problem der Lichtverschmutzung mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Tierwelt, aber auch für das Wohlbefinden und die Schlafqualität der Menschen.
Wo bleibt da eigentlich unsere „innere Uhr“? Chronophysiologinnen und -physiologen gehen davon aus, dass jedes Organ, sogar jede Zelle des menschlichen Körpers eine innere Uhr besitzt, die dafür sorgt, dass bestimmte Prozesse zu bestimmten Tageszeiten am besten funktionieren. Bedingt wird sie vor allem durch Licht, aber auch durch Nahrungsaufnahme und Temperatur. Doch die Entfremdung unserer Gesellschaft vom Tag-Nacht-Rhythmus – Schichtarbeit, Sommerzeit und viel zu früher Arbeitsbeginn – stört den Organismus. „Der so aus dem Rhythmus gebrachte Mensch wird auf Dauer krank“, sagt der deutsche Biologe und Wissenschaftsautor Peter Spork. Es sei ein Leben im ständigen Jetlag. „Seit die mechanische Uhr erfunden wurde, ist der Mensch dazu erzogen worden, seine innere Uhr abzuschalten“, weiß Professor Karlheinz Geißler, Zeitforscher und emeritierter Wirtschaftspädagoge. Der Mensch musste, um zu funktionieren, „veruhrzeitlicht“ werden. Das beginne mit der Schule, deren Organisation auf Pünktlichkeit nach der Uhr ausgerichtet sei. Geißler lebte 30 Jahre lang ohne Uhr und setzte seine Termine nicht vor 10 Uhr an, außerdem vereinbarte er angeblich nie mehr als einen Termin pro Tag. Es gehe darum, einen souveränen Umgang mit der Zeit zu finden. „Wir sind evolutionär getaktet, wir sind sozial getaktet, aber vor allem sind wir arbeitsökonomisch getaktet“, formuliert es Cord Jakobeit, Politikwissenschaftler an der Universität Hamburg.

Auch die Politik stehe unter Zeitdruck, in einer immer komplexer werdenden Welt die richtigen Entscheidungen zu treffen: Das, was den Kern der Demokratie ausmache – den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu diskutieren, sie ausführlich zu beraten –, leide darunter, dass es eben eine Zunahme, eine Verdichtung, eine immer größere Anforderung an das einzelne Individuum gebe, komplexe Dinge zu beurteilen. Das Problem heißt Zeitverdichtung: Nicht die Zeit vergeht schneller, sondern wir wollen immer mehr in ihr unterbringen, alles gleichzeitig erledigen. Das erzeugt enormen Stress. Und wir werden überrollt von der Informationsdichte, die uns das Internet immer und überall bereitstellt. Tatsächlich erweist sich das Smartphone als regelrechter Zeitfresser. Studien zeigen erschreckende Zahlen: Demnach verbringen Menschen über alle Generationen und Altersgrenzen hinweg heute im Durchschnitt zwei bis drei Stunden am Handy und unterbrechen alle 15 Minuten ihre Tätigkeit, um etwa den Maileingang zu checken. Wir alle kennen die Bilder von irgendwo – meist jemandem im Weg – stehenden Personen, die geistesabwesend auf ihr Handy schauen oder etwas tippen. Oder die Tatsache, dass viele Menschen ihr Handy aufs WC mitnehmen.

Die permanente Smartphone-Nutzung ist ein Reflex geworden. Wir wissen schon lange um die suchterzeugenden Eigenschaften der Apps. „Smartphones machen abhängig, unproduktiv und unglücklich“, ist das Fazit von Alexander Markowetz, Informatikprofessor und Forscher an der Universität Bonn. „Wir erleben die Entstehung eines Homo Digitalis, der einen Großteil seiner Tätigkeiten mittels digitaler Medien abwickelt.“ Die Folge ist eine Verarmung der realen sozialen Kontakte, aber auch eine Entfremdung von der Umwelt, weil vor allem Kinder immer weniger Zeit in der Natur verbringen. Auch wenn es im Internet durchaus interessante Naturdokumentationen geben mag, so würden nur echte Naturerlebnisse auch zu echtem Interesse führen, erklärt der deutsche Umweltjournalist Ralf Stork. Vor allem die Kinder, die in Städten aufwachsen, hätten den Bezug zur belebten Welt verloren, zeigt auch der „Jugendreport Natur“ der Universität Marburg von 2016. In England gibt es bereits einen Begriff dafür: „nature deficit disorder“. Demnach würden Naturbegriffe immer mehr aus der Alltagssprache verschwinden, viele junge Menschen könnten nicht mehr sagen, wo die Sonne aufgeht, und würden keine Vogel- oder Baumarten mehr benennen können. Grundlegendes Wissen gehe verloren. Wenn man aber die Natur, die uns umgibt, gar nicht mehr kennt, wie soll man sich dann noch um deren Schutz bemühen? Diese Entfremdung hat auch weitreichende Folgen für die Gesundheit: Zahlreiche Studien belegen, dass der Aufenthalt im Grünen zum Wohlbefinden beiträgt. Blutdruck und Puls sinken, ebenso der Cortisolspiegel im Blut, der zu Entspannung führt. Nicht nur deshalb machen Intellektuelle wie der deutsche Soziologe Hartmut Rosa („Beschleunigung und Entfremdung“) oder der amerikanische Autor Richard Powers („über die Entfremdung des Menschen von der Natur“) die Notwendigkeit zur Entschleunigung sichtbar. Powers spricht von einer Rückkehr zum „Indigenen“ – gemeint ist eine Rückkehr zur Natur und in die Gemeinschaft mit den anderen Lebewesen, mit denen wir verbunden sind und von denen wir abhängen. Der „moderne“ Mensch müsse verstehen (so wie die Indigenen es noch tun), dass es den Menschen nur in Kombination mit den anderen Lebewesen geben wird. Er müsse von seiner eingebildeten Einzigartigkeit und Überlegenheit gegenüber der Natur abrücken.

Es ist doch bemerkenswert, dass wir uns als heterogene Gesellschaft mit mehr als 200 Ländern und etwa 6.500 Sprachen auf eine einzige weltumspannende Uhrzeit geeinigt haben. Vielleicht schaffen wir es auch, uns gemeinsam für Methoden der Entschleunigung zu entscheiden. Die Corona-Auszeit war eine auferlegte Chance, mehr zur Ruhe zu kommen. Doch sie hielt nur kurz an. Wir brauchen ein Gegenmodell zur Zeitnot. Handyfasten und mehr Zeit in der Natur könnten ein erster Schritt sein. 


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