Gleiche Chancen, mehr Gesundheit

Illustration Miriam Mone

Frauen sind vorsorgebewusster als Männer und haben andere Gesundheitsrisiken: Die Gendermedizin bringt laufend neue Erkenntnisse zu geschlechtsspezifischer Gesundheit zutage und zeigt auf, wo es weitere Maßnahmen für Chancengleichheit braucht. Von Alexandra Wimmer

Kurzatmigkeit, Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit: Es waren die 1990er Jahre, als man entdeckte, dass Frauen bei einem Herzinfarkt oft andere Symptome zeigen als die „typischen“ – sprich männlichen –, wie Schmerzen hinter dem linken Brustbein, Atemnot und Beklemmungsgefühle. „Diese geschlechtsspezifischen Unterschiede zählen inzwischen zum Basiswissen, das im Medizinstudium gelehrt wird“, sagt Alexandra Kautzky-Willer, Fachärztin für Innere Medizin und Professorin für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien. Inzwischen weiß man, dass beim weiblichen Herzinfarkt oft nicht die großen Herzkranzgefäße verschlossen, sondern die kleinsten Gefäßabzweigungen betroffen sind. Mit Erkenntnissen wie diesen, die in Diagnostik und Therapie einfließen, rettet Gendermedizin Leben.

Die Wurzeln der Gender- beziehungsweise geschlechtsspezifischen Medizin liegen in der Frauenbewegung und den „Frauenforschungen zur Gesundheit für und von Frauen“, sagt Kautzky-Willer. Lange Zeit hatte man sich in der Medizin am „Prototyp Mann“ orientiert. Die Erkenntnisse zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen waren der Stein des Anstoßes, nach und nach entwickelte sich in allen medizinischen Bereichen ein Bewusstsein für die mangelnde Erforschung weiblicher Gesundheitsmerkmale. Heute ist die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Medizin Basis für eine verbesserte Gesundheitsversorgung von Frauen und Männern. Die größten Unterschiede zeigen sich dabei aufgrund der Sexualhormone in der Lebensphase von der Pubertät bis zur Menopause. Doch schon Embryos reagieren geschlechtsspezifisch: Raucht eine Frau während der Schwangerschaft, so ist das Risiko für Bluthochdruck bei Buben deutlich größer als bei Mädchen. Bei Schwangerschaftsdiabetes haben Buben ein höheres Risiko, später selbst an Diabetes zu erkranken, Mädchen neigen hingegen eher zu Übergewicht.

Frauen sind anders krank
Mit ihrem ganzheitlichen Ansatz beschäftigt sich Gendermedizin mit biologischen („sex“) und sozialen Unterschieden („gender“) von Menschen. Das biologische Geschlecht ist durch die Geschlechtschromosomen X und Y in allen Körperzellen verankert. Die genetische Information der Chromosomen prägt etwa das Herz-Kreislauf-System, den Stoffwechsel und das Immunsystem: Letzteres ist bei Frauen oft widerstandsfähiger als bei Männern, sie haben seltener Infektionskrankheiten und weisen nach Impfungen eine bessere Antikörperbildung auf. Durch die Östrogene sind Frauen bis zur Menopause vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes besser geschützt. Andererseits sind sie öfter von Autoimmun- und rheumatischen Erkrankungen betroffen. Und da die weiblichen Organe kleiner sind, reagiert zum Beispiel die Lunge empfindlicher auf das Rauchen. Andererseits können sich die Organe von Frauen schneller regenerieren. Das gilt für die Lunge nach dem Rauchstopp genauso wie für das Nervensystem nach einem Schlaganfall.

Dass jahrelang die Gesundheitsdaten vor allem junger Männer als Norm betrachtet wurden, hat dabei weitreichende Auswirkungen. Die vielen biologischen Unterschiede – Frauen sind oft kleiner, haben mehr Körperfett, weniger Muskelanteil, langsamere Filterarbeit der Niere – beeinflussen auch die Wirkung von Medikamenten, das Risiko für Nebenwirkungen ist bei Frauen erhöht. Lange Zeit wurden sie in der Medikamentenforschung aufgrund des Hormonzyklus und der Möglichkeit einer Schwangerschaft nicht miteinbezogen. Das hat sich dank der Gendermedizin geändert. „Mittlerweile muss ein Medikament verpflichtend an Frauen getestet werden, wenn es auch für Frauen auf den Markt kommen soll“, sagt Alexandra Kautzky-Willer.

Stark in Prävention und Vorsorge
Im Gegensatz zur herkömmlichen „Reparaturmedizin“ legt Gendermedizin besonderen Wert auf Präventionsmaßnahmen. „Ein gesunder, nachhaltiger Lebensstil beinhaltet viel Bewegung in der Natur, Stressreduktion, gesunde Ernährung mit lokalen, frischen Produkten“, sagt die Ärztin. Auch gute soziale Kontakte seien ein Gesundheitselixier. Frauen würden mehr auf gesunde Ernährung achten, Männer hingegen bewegten sich mehr. Nicht zuletzt aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle hätten Frauen mehr Gesundheitskompetenz: „Sie sind die Gesundheitsmanagerinnen der Familie und haben ein sehr starkes Bewusstsein für Prävention und Vorsorge“, erklärt die Medizinerin. Frauen gehen öfter zu Vorsorgeuntersuchungen und haben mehr Arztkontakte. Dass sie, gerechnet auf die Gesamtlebensdauer, weniger gesunde Lebensjahre als Männer haben, führt die Ärztin auf den noch vorhandenen „Mangel an geschlechtsspezifischem Medizinwissen“ zurück. „Eventuell auch, weil vor allem ältere Frauen gesellschaftlich oft unbewusst immer noch einen niedrigeren Stellenwert haben.“ So werden Symptome bei Frauen erwiesenermaßen oft als weniger dringlich als bei Männern eingestuft. In der Folge weisen Frauen nach Herzinfarkten eine höhere Sterblichkeit auf als Männer, nach einem Schlaganfall einen größeren Verlust an Autonomie und Mobilität. Um die Anzahl gesunder Jahre zu erhöhen, müssten also soziale Ungleichheiten weiter reduziert werden.

Viele Frauen würden zudem ihr Gesundheitsrisiko, etwa durch Diabetes oder Stress, unterschätzen. Bei jungen Frauen beobachtet man vermehrt einen ungünstigen Lebensstil – Bewegungsmangel, Rauchen, Übergewicht –, der wiederum das Risiko für Typ-2-Diabetes deutlich erhöht. Nicht nur Typ-2-Diabetes nimmt bei Frauen derzeit zu, auch Schwangerschaftsdiabetes wird häufiger beobachtet. „In einer kürzlich im New England Journal publizierten Studie konnten wir erstmals beweisen, dass sich durch frühzeitige Diagnose und Behandlung in der Schwangerschaft viele Komplikationen reduzieren lassen“, erklärt die Expertin. Wegen des erhöhten Risikos für Typ-2-Diabetes, Herzinfarkt und Schlaganfall sollten Frauen danach konsequent und regelmäßig ihren Zucker-, Fettstoffwechsel und Blutdruck überprüfen lassen.

Weibliche und männliche Depression
„Es zeigt sich, dass Frauen an bestimmten psychischen Erkrankungen häufiger leiden als Männer“, sagt Anita Holzinger von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinische Universität Wien. Nicht nur in der Inneren Medizin, in allen Fachdisziplinen hat sich inzwischen ein Bewusstsein für genderspezifische Unterschiede entwickelt – so auch in der (Sozial)Psychiatrie. Von Depressionen sind Frauen und Mädchen je nach Studie doppelt bis drei Mal so oft betroffen. Umgekehrt bleiben Depressionen bei Männern oft unerkannt, wie die Gotland Studie zeigte, die in den 1990er Jahren wichtige Erkenntnisse zur „männlichen Depression“ und Suizidprävention lieferte. „Symptome einer männlichen Depression wie Aggressivität, Risiko- und Suchtverhalten werden als sozial akzeptierte Kodierung männlicher Emotionalität gesehen und nicht mit Depressionssymptomen assoziiert“, informiert die Expertin.

Heute weiß man, dass Frauen empfindlicher für psychosozialen Stress durch Schlafmangel, Arbeitsstress, Armut, Gewalterfahrungen, Mehrfachbelastung durch Beruf und Familie sind. „Präventionsmaßnahmen müssen gesellschaftspolitisch angegangen und ausgebaut werden“, sagt Anita Holzinger. Niederschwellige psychosoziale und psychotherapeutische Angebote müssten ausgebaut werden, ebenso eine flächendeckende Kinderbetreuung. Ein gutes, unterstützendes Familienklima und das Aufweichen von Rollenstereotypen sei generell für Mädchen wie Jungen ein Schlüsselfaktor am Weg zu psychischem und sozialen Wohlbefinden. 



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