Hände, die reparieren

Den eigenen Weg zu finden, bedeutet weiterzumachen, neu anzufangen und gemeinsam dazuzulernen. Raum dafür schafft Ana Powdrill durch ihre Radwerkstatt. Und zwar für alle Menschen – genauso wie für sich selbst. Text und Fotos von Stefan Schauhuber

Neben dem Schwarz der ölverschmierten und tätowierten Hände scheint das Türkis der Nägel umso heller leuchten zu wollen. An den Rändern abgestoßen trotzt der Nagellack der Wucht der Werkstatt. Tag für Tag, Reparatur um Reparatur. Gerade schließt Ana ihre Finger um das Schaltwerk eines Fahrrads. Sie ruckt und zieht und schaut. „Dieses System ist veraltet. Es wird kaum noch genutzt“, sagt Ana. Das immer gleiche Problem: Eine kleine Feder, ständig unter Spannung, verliere an Kraft, bis das Schaltwerk die Kette nicht mehr auf das nächste Ritzel werfen könne. Vorbei ist dann das Fahrvergnügen. Vielleicht, meint Ana, sei es besser, das alte Schaltwerk einfach gleich gegen ein anderes auszutauschen, anstatt Zeit mit dem alten zu verschwenden.
Ana Powdrill ist Fahrradmechanikerin. In ihrer Werkstatt in der Spitalgasse mitten in Wien richtet sie Schaltungen, tauscht Ketten und wechselt Reifen. „Velo Peaches“ steht über dem Eingang zum Altbaulokal. Seit drei Jahren repariert die 36-Jährige, die Kappe trägt, Goldkette und Tattoos, hier gemeinsam mit ihren Kolleginnen defekte Räder. Und doch ist der Laden keine gewöhnliche Fahrradwerkstatt. „Velo Peaches“ sei ein feministischer Ort, meint Ana. Von und für Menschen aller Geschlechtsidentitäten. Alle Kundinnen und Kunden sollen sich hier wohlfühlen, keine Scheu haben Fragen zu stellen. „Du solltest dein Wissen nicht dafür nutzen, Menschen runterzumachen, sondern dazu, dass sie sich gut fühlen“, sagt Ana. Leider sei das nicht in jedem Shop so. Und auch als Mechanikerinnen seien sie und ihre Kolleginnen nicht immer für voll genommen worden. „Wir passen nicht ins System. Deshalb wollten wir unseren eigenen Ort schaffen“, erklärt Ana. „Nach allem, was in meinem Leben passiert ist, war ‚Velo Peaches‘ wie ein letzter Versuch für mich.“
Eine junge Frau betritt den Laden, geht an den zur Reparatur aufgereihten Fahrrädern vorbei und blickt sich suchend um. Sie braucht Reifenflickzeug. „Hast du auch Reifenheber zu Hause?“, fragt Ana. „Das sind die da drüben. Da sind sogar drei Stück drinnen, falls der Reifen richtig schwer von der Felge geht.“ Ana, deren Stimme sanft klingt, wenn sie mit Kundinnen und Kunden redet, nimmt sich Zeit, die Technik zu erklären. Damals im Fahrradmechanik-Kurs habe sie sich noch wie der dümmste Mensch auf der Welt gefühlt. Alles auf Deutsch, dazu die Fachbegriffe. „Aber ich war nicht die dümmste Person. Ich hatte einfach andere Voraussetzungen als die anderen“, sagt Ana. „Es hat gedauert, bis ich begriff, dass nichts mit mir falsch ist, sondern dass ich einfach nur andere Zutaten hatte. Als würden sie dir Steine und Sand geben und sagen: Back mir damit eine Torte.“

„Man sieht dem Rahmen an, wie viel er schon mitgemacht hat. Das macht ihn so schön – und den ganzen Aufwand wert.“

Es sei schwierig, anderen verständlich zu machen, was sie als junge Person erlebt habe, sagt Ana. Sie wurde in London geboren. Sie ist das zweitälteste von sieben Geschwistern. Und: Sie wuchs in einer religiösen Sekte auf. Ana verbrachte ihre Kindheit in Kommunen. Erst in England, dann in Tschechien, später Serbien. Ihre Eltern, liebenswerte Menschen, wie Ana sagt, seien in die Sekte eingetreten, als sie selbst noch Teenager waren. Anas Leben war diese Gemeinschaft. Mehr als 20 Mal sei sie umgezogen. Sie ging nicht zur Schule und wurde im Homeschooling unterrichtet. „Jeder Erwachsene war für dich verantwortlich und konnte dich auch disziplinieren“, erzählt Ana. Es habe viele schlimme Situationen gegeben. Mit 15 Jahren verkaufte sie jeden Tag Broschüren auf der Straße. Fünf Jahre lang. Das Geld ging zur Gänze an die Sekte. „Ich dachte, das alles sei normal. Das war meine Realität, meine Welt.“

Fahrräder spielten in dieser Welt keine Rolle. Bis eine Freundin Ana eines Tages fragte, ob sie auf eine Radreise mitkommen wolle. Von Novi Sad in Serbien nach Istanbul. Sie habe einfach Ja gesagt, obwohl sie nicht einmal ein eigenes Rad hatte. „Ich wusste nicht, wie ich schalten kann, geschweige denn, wie einen Reifen wechseln“, sagt Ana. Zurück von der Radreise sollte sich ihr Leben schlagartig ändern, denn die Sekte löste sich auf. Mit 21 Jahren musste Ana ihren Platz neu finden.
„Ich wusste, dass ich hart arbeiten kann“, berichtet Ana. „Und ich habe mich auch bewusst beschäftigt, weil ich mich nicht an all die Dinge erinnern wollte, die ich als Kind erlebt habe.“ Gemeinsam mit Freunden eröffnete sie erst eine Bar in Serbien, dann ein Fahrrad- & Kunst-Café in Graz. Zusätzlich arbeitete Ana als Fahrradbotin. Oft bis 4 Uhr morgens in der Bar, dann ein paar Stunden schlafen und um 8 Uhr rauf aufs Rad. Bei jedem Wetter draußen. Aber das habe die Botinnen und Boten zusammengeschweißt, erinnert sich Ana, und oh, wie habe sie es geliebt, im Frühjahr durch die Stadt zu radeln.
Aber sie sei auch ständig erschöpft gewesen und es blieb keine Zeit für Beziehungen. Irgendwann habe sie nicht länger rund um die Uhr arbeiten wollen. Doch ohne Schulzeugnisse und ohne Deutschkenntnisse gab es keine anderen Jobs und auch Studieren war nicht möglich. „Ich habe mich gefühlt wie ein Alien“, sagt Ana. „Ich dachte mir, dass ich ein guter Mensch bin, aber es einfach nicht hinbekomme, ein normales Leben zu haben. Durch meine Vergangenheit war alles irgendwie verkehrt für mich.“

Doch dann erfuhr sie von dem Fahrradmechanik-Kurs und begann die Ausbildung. Anfangs habe sie im Unterricht nichts verstanden und erst lernen müssen, wie man lernt. Doch sie blieb dran und machte die Abschlussprüfung. Sie arbeitete zuerst in einer anderen Werkstatt, bis sie mit zwei befreundeten Mechanikerinnen Anfang 2022 „Velo Peaches“ gründete. „Es war wie ein Feuer. Ich war so begeistert“, erzählt Ana. „Als das anfing, fühlte ich mich wieder lebendig.“
Heute gibt Ana selbst Kurse. Sie zeigt vor, wie man Laufräder baut. „Ich liebe es, dafür zu sorgen, dass Dinge wieder funktionieren, und Menschen damit eine Freude zu machen. Und dass es so viel zu lernen gibt“, sagt Ana. „Mein Hirn war so hungrig, es hat alles aufgesaugt. Und es will immer mehr.“ Als nächstes wolle sie Schweißen lernen – und das Team um weitere Mechanikerinnen erweitern, um Wissen weiterzugeben.
Worauf sie stolz ist? „Darauf, wer ich bin. Darauf, dass ich durchgehalten habe. Darauf, Dinge so zu machen, wie wir wollen, und damit erfolgreich zu sein“, sagt Ana. „Ich habe Sanftheit gebraucht, um wachsen zu können.“ Diese finde sie hier in der Werkstatt-Gemeinschaft. Die Kolleginnen würden ihr auch dabei helfen, langsamer zu machen. „Auch wenn es 40 Stunden sind, so wenig wie jetzt habe ich noch nie gearbeitet.“
Am Sonntag darauf steht Ana trotzdem mit einer Freundin in der Werkstatt. Eine Aluminium-Sattelstütze steckt in einem Stahlrahmen fest. Ana weiß, was zu tun ist: Sie löst mit einer Chemikalie das Aluminium auf, dann hämmert und kratzt sie die Reste der Sattelstütze aus dem Sitzrohr. „Man sieht dem Rahmen an, wie viel er schon mitgemacht hat“, sagt Ana. „Das macht ihn so schön – und den ganzen Aufwand wert.“ 

Weitere Informationen: velopeaches.com


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