Buchbesprechung
Von Verena Roßbacher
Häusliche Geisteskrankheit
Tatsächlich erschien das hier besprochene Buch in England schon 2010, übersetzt wurde es allerdings erst im Frühjahr dieses Jahres. „Mein Jahr als Jäger und Sammler“ von John Lewis-Stempel erzählt von einem faszinierenden Experiment und beginnt zwei Jahre davor mit dem Kauf eines heruntergekommenen Bauernhofs mitsamt 16 Hektar zugehörigem Land. Der Autor nebst Frau und den beiden Kindern zieht von einem kleineren Bauernhof nach Herefordshire, ins letzte Tal Englands an der Grenze zu Wales. Sie planen – wie schon zuvor – hier Landwirtschaft zu betreiben und nebenbei Zimmer an Touristen zu vermieten.
Wie sich herausstellt, ist das heruntergekommene Gehöft noch viel heruntergekommener als gedacht, sind die Bauarbeiter von meditativer Langsamkeit und der Kredit für die Renovierung ist ausgeschöpft, bevor auch nur an das Bewohnen eines Zimmers zu denken ist. Die Familie lebt im Zelt, im Winter im Wohnwagen, das Klo ist ein Loch im Boden und die Dusche ein Kaltwasserschlauch. Die Monate gehen ins Land, ein Jahr vergeht, die Familie versorgt ihre Tiere, versucht nebenher Geld mit Artikeln für Zeitungen zu verdienen, der Dispokredit ist aufgebraucht, die Kreditkarte am Limit und spätestens als Lewis-Stempel mit Erfrierungen im Krankenhaus liegt und knapp der Beinamputation entgeht, ist sie fertig mit den Nerven.
Als es irgendwann gelingt, zumindest einen Teil des Hauses bewohnbar zu machen, ist die tiefe Erschöpfung nicht mehr zu leu-gnen – und die Frage, wie Geld aufzutreiben wäre und gleichzeitig die Kosten gesenkt werden könnten, bleibt bestehen.
Als Lewis-Stempel an einem Septembertag auf seinem Land herumwandert, kommt ihm der Gedanke, wie wunderbar es doch wäre, ausschließlich von dem zu leben, was in der Natur kostenlos zu finden ist. Es würde das Familienbudget entlasten und zugleich, so erhofft er es sich, ihn nach den zurückliegenden beiden Jahren der ungeheuren Anstrengungen und jeglichem Verlust seines Selbstvertrauens wieder zu sich selbst finden lassen.
Vierzig Hektar Land braucht es, um als Jäger und Sammler eine vierköpfige Familie zu versorgen – da jedoch die Familie unseres Sammlers keinerlei Ambitionen hegt, diese Erfahrung mit ihm zu teilen, müssten die vorhandenen 16 Hektar für ihn alleine also ausreichend sein. Im Oktober, mit Beginn der Fasanenjagd, setzt er den Startschuss für sein Experiment, ein Jahr lang ausschließlich von dem zu leben, was sein Land hergibt. Einzige Ausnahmen sind Salz und Honig, die er hinzukauft.
Fortan begleiten wir ihn lesend durch die Jahreszeiten und sollte noch ein Rest Naturromantik in uns geschwelt haben, so ist spätestens im November Schluss damit. Die Tage sind vollgepackt mit der Jagd, die keineswegs immer erfolgreich ist, dem Sammeln von Beeren, Wurzeln und Blättern, dem Zubereiten, Einmachen und Bevorraten der Beute. Zumeist ist er hungrig, allzu oft isst er zum Frühstück Kaninchen, zu Mittag Kaninchen und zum Abend Kaninchen und dazwischen auch. Kaninchen sind leicht zu jagen, massenhaft vorhanden und dabei kein bisschen nahrhaft. Genug Fett aufzutreiben ist schwer, genügend Vitamine zu sich zu nehmen noch schwerer und an Kohlenhydrate zu kommen schier unmöglich. Er verliert zusehends an Gewicht, vergiftet sich zumindest zwei Mal mit Pilzen und als der Winter sich zäh hinzieht, liebäugelt er nicht nur einmal mit dem Aufgeben.
Und dann gibt es nach einigen Monaten irgendwann den Wendepunkt – im Nachhinein formuliert er es so: „Als ich mich der Natur ergab – indem ich ihr zutraute, mich zu versorgen –, entdeckte ich, dass der Rhythmus des wilden Lebens eine Antriebskraft ist, die mich von einem Tag zum nächsten, von einer Jahreszeit zur nächsten bewegt. (…) Der grundlegende Aspekt des menschlichen Daseins ist es, Essen und Trinken aus der Natur zu beschaffen. Wenn man das kann, kann man alles. Ich musste mir bestätigen, dass ich es konnte. Und als ich es tat, kehrte mein Selbstwertgefühl zurück.“
Oder, wie Henry David Thoreau hundert Jahre früher schrieb: „Im Haus zu bleiben führt immer zu einer Art von Geisteskrankheit. (…) Ich zog in den Wald, weil ich den Wunsch hatte, mit Überlegung zu leben, dem eigentlichen, wirklichen Leben näherzutreten, zu sehen, ob ich nicht lernen konnte, was es zu lehren hatte, damit ich nicht, wenn es zum Sterben ginge, einsehen müsste, dass ich nicht gelebt hatte.“
Dieses Jahr, in dem Lewis-Stempel mit und von der Natur lebt, hat ihn auf vielen Ebenen geheilt und „wieder ganz gemacht“, und wir Leser bleiben seltsam neidisch zurück und denken darüber nach, inwiefern auch wir diese Entfremdung, die mit unserer Art zu leben zwangsläufig einhergeht, ein wenig verringern könnten, wo wir ihr schon nicht entkommen. Denn die „häusliche Geisteskrankheit“, die kennen wir vermutlich alle, in der ein oder anderen Form.
John Lewis-Stempel
Mein Jahr als Jäger und Sammler
352 Seiten, Originalverlag:
Black Swan, London
Originaltitel: THE WILD LIFE.
A Year of Living on Wild Food
ISBN 978-3-8321-8455-1