Halboptimistisch
Foto Ursula Röck
Kolumne von Sarah Kleiner
Kürzlich bin ich auf einen recht kuriosen Film gestoßen. Er heißt „Halbe Welt“ und stammt von dem vor zehn Jahren verstorbenen österreichischen Regisseur Florian Flicker. Es handelt sich um einen Low-Budget-Science-
Fiction-Spielfilm, gedreht wurde er hauptsächlich in Wien. Das Drehbuch schrieb Flicker gemeinsam mit Michael Sturminger, der später vor allem durch seine Opern- und Theaterinszenierungen bekannt werden sollte.
Flicker hat mit „Halbe Welt“ eine Dystopie auf die Leinwand gebracht, ein futuristisches Stück Kunst, das auf eine Art progressiv war, die man Österreich gar nicht zugetraut hätte. Der Regisseur wurde in den 1990ern als Hoffnungsträger des jungen Austro-Kinos, als Visionär gehandelt.
Der Film spielt in einer nicht näher definierten Zukunft. Die Menschen haben ihren Tagesrhythmus völlig umgedreht: Sie schlafen tagsüber und leben nachts. Eine Alarmsirene ertönt, wenn die Sonne droht, aufzugehen. Alle Menschen verlassen fluchtartig die Straßen und begeben sich zum Schutz vor dem Tageslicht in ihre Häuser.
In dieser Welt versucht eine die Medienwelt dominierende Überwachungsfirma, alle alten Naturfotografien zu vernichten, weil die Menschen diese Anblicke nicht mehr selbst erleben können. Sie sollen auch nicht die Möglichkeit haben, sich daran zu erinnern. Ein Schwarzmarkt für Aufnahmen von grünen Wiesen und strahlendem Sonnenschein über einer Bergkulisse ist entstanden. Denn wenn sich Menschen in dieser Zukunft längere Zeit in der Sonne aufhalten, riskieren sie ihr Leben. Schon nach wenigen Minuten im Sonnenlicht verfärbt sich ihre Iris. Ihre Stimme wird blechern und hohl, die Worte aus ihrem Mund erklingen zeitversetzt. Und kurz danach sterben sie. Das Sonnenlicht hat in diesem Film tödliche Wirkung.
Klar, so weit wird es bei uns wohl nicht kommen und wir wollen an dieser Stelle auch nicht Gefahr laufen, „Klimahysterie“ zu verbreiten. Aber schon erstaunlich, dass Flicker hier ein großes Thema der Zukunft gewittert hat. Erstmals gezeigt wurde der Streifen 1993. „Halbe Welt“ war seiner Zeit voraus.
Der Regisseur war zum Zeitpunkt des Drehs noch keine 30 Jahre alt. Er hat sauren Regen und den Atomunfall in Tschernobyl (1986) miterlebt. Vielleicht haben ihn auch der Kalte Krieg und die damit verbundene drohende nukleare Zerstörung des Planeten zu seiner Dystopie inspiriert. Vielleicht auch die Ozonloch-Thematik, die die Umweltberichterstattung zu seiner Zeit prägte. Erst einige Jahre vor Erscheinen des Films war durch Unterzeichnen des „Montreal Protokolls“ das Verbot von FCKW, also von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, beschlossen worden. Bis heute gilt das als Vorzeigebeispiel für gelingende Umweltpolitik, wenn denn der Wille dafür da ist.
Auch damals waren die Fragen, wie der Mensch in der Zukunft leben wird, ob die Erde noch bewohnbar sein wird, dominante. Flicker hat nicht mehr miterlebt, wie die Stadt Wien Kühlzentren errichtete, um vulnerablen Personen an heißen Sommertagen eine kurze Hitzepause zu verschaffen. Immer wieder haben Freunde und Bekannte vergangenen Sommer gemeint, sie würden die Wohnung heute nicht verlassen – es sei einfach zu heiß. Die Hitze verändert unsere Sommer, unser Verhalten.
Die Sache mit Dystopien ist die: Sie scheinen uns zu faszinieren. Wir haben offenbar einen Hang zur dramatischen, sich stets verschlechternden Zukunft. Eine Dystopie verkauft sich besser als eine Utopie, Filme wie „Halbe Welt“ sind elektrisierend. Wenn man zu sehr in den negativen Medienwirbel eintaucht, werden dieselben Gefühle wach. Noch mehr Schauer, noch mehr Drama, noch mehr Angst – man kriegt nicht genug von der vermeintlich zugrunde gehenden Welt.
Tatsache ist, dass weder der damals befürchtete Atomkrieg die Zivilisation zerstörte noch das aufklaffende Ozonloch. Auch der saure Regen ist wieder abgezogen. Die Herausforderungen, denen wir heute gegenüberstehen, sind nicht weniger geworden, sie sind globaler und komplexer. Aber gerade angesichts der jüngsten Wahlergebnisse lohnt es sich, kurz innezuhalten und auch die kleinen Erfolge zu feiern: Österreichs Emissionen sinken. Die Energiewende schreitet voran. Die Europäische Union wird den Umweltschutz auch weiterhin unterstützen, egal, wer in Österreich am Ruder sitzt.
In der Alpenrepublik scheinen wir ja im Bezug auf die Klimakrise direkt von „Es gibt eh kein Problem“ zu „Es ist eh schon zu spät“ übergegangen zu sein. Ein Schritt zurück zum „Es gibt einiges zu tun, und das ist machbar“ würde vielleicht nicht schaden. Damit sich auch in 100 Jahren niemand vor der Sonne in seiner Wohnung verstecken muss.
Sarah Kleiner lebt und arbeitet als Journalistin in Wien